Dabei ist schon lange bekannt, dass man in den „Wüstenregionen“, die im Sommer bei Maximaltemperaturen von bis zu 50°C leistungsfeindliche Bedingungen für den Ausdauersport bieten, in den kühlen Wintermonaten nahezu ideale Voraussetzungen für den Laufsport vorfindet.
„Die Wüste lebt!“ – Neue Entwicklungen in der Marathonszene – Prof. Dr. Helmut Winter berichtet
Mit dem Film „The Living Desert“ (Titel der deutschen Fassung “Die Wüste lebt!”) faszinierte Walt Disney in den 50er Jahren ein breites Publikum. In beeindruckenden Bildern wurde das unerwartet vielfältige Leben einer Region in Szene gesetzt, in der man eigentlich nur viel Sand aber kaum die dargestellte Artenvielfalt in Flora und Fauna erwartet hätte. In der internationalen Szene des Marathonlaufs vollziehen sich in letzter Zeit Entwicklungen, die ähnlich überraschend auf den Betrachter wirken wiedie Fakten in dem mit einem Oscar prämierten Dokumentarfilm.
Nach dem rasanten Aufstieg in den letzten beiden Dekaden von Massenveranstaltungen in mittlerweile fast jeder größeren Stadt über die Marathondistanz ergeben sich aktuell neue Perspektiven: Der Marathonlauf (und wohl bald auch die Läufermassen) ist in der „Wüste“ angekommen. Damit wird die etablierte Aufteilung der Stadtmarathons auf Frühjahr und Herbst, resultierend aus den günstigsten Bedingungen in der nördlichen Hemisphäre, durchbrochen und der Terminkalender auf einen dritten Schwerpunkt im Winter ausgedehnt. Es ist jetzt schon abzusehen, dass diese Entwicklungen die internationale Marathonszene im Spitzenbereich aber auch im Breitensport nachdrücklich verändern werden.
Dabei ist schon lange bekannt, dass man in den „Wüstenregionen“, die im Sommer bei Maximaltemperaturen von bis zu 50°C leistungsfeindliche Bedingungen für den Ausdauersport bieten, in den kühlen Wintermonaten nahezu ideale Voraussetzungen für den Laufsport vorfindet. Diese Erkenntnis allerdings erfolgreich in entsprechenden Veranstaltungen umzusetzen, gestaltete sich als ausgesprochen langwierig. Der endgültige
Durchbruch diesbezüglich ist eng mit dem Namen eines der größten Läufer der Geschichte verbunden: Haile Gebrselassie.
Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, diese Thematik durch außergewöhnliche Leistungen nachdrücklich ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit gebracht zu haben. Als wichtiger Meilenstein kann Hailes Auftritt beim Arizona Rock´n Roll Marathon in Phönix/Tempe (USA) im Januar 2006 gesehen werden, wo der äthiopische Rekordläufer auf Betreiben des verantwortlichen Koordinators, Mike Long (Elite Racing, San Diego), mit nur fünf weiteren Aktiven an der Marke für die halbe Distanz an den Start ging und den damaligen Weltrekord mit
der ersten Zeit unter 59 Minuten (58:55) deutlich steigerte.
Dieser Lauf zeigte deutlich auf, welches hervorragende Potential die Wüstenregionen im Winter für läuferische Höchstleistungen bieten und wie dieses für den Spitzen- aber auch den Breitensport genutzt werden kann.
Die konsequente Fortsetzung dieser Entwicklungen vollzieht sich aktuell in einer Weltregion, die man – abgesehen vom lukrativen Nationalitätswechseln ostafrikanischer Läufer/innen – bisher in der Marathonszene bestenfalls zu den Exoten zählte: Die Vereinigten Arabische Emirate. Man darf davon ausgehen, dass die hervorragenden klimatischen Voraussetzungen im Winter gepaart mit scheinbar unerschöpflichen finanziellen Ressourcen eine weitere Erfolgsgeschichte des Marathonlaufs schreiben werden. Beteiligt daran ist die absolute Weltelite auf der halben und vollen Distanz, deren Teilnahme durch bisher nicht gekannte Sieg- und Rekordprämien gefördert wird.
Im vorher weitgehend unbekannten Ras Al Kaimah holte sich im Januar 2007 der in Japan lebende Kenianer Samuel Wanjiru mit 58:53 seinen Halbmarathon- Weltrekord von Haile zurück. Auch wenn dem Rekord wegen fehlender Dopingtests die offizielle Anerkennung versagt blieb und Wanjiru einen Monat später in Den Haag
diese Marke auf 58:33 schraubte, sorgte dieses Resultat für erhebliches Aufsehen.
Mittlerweile ist der Lauf in Ras Al Kamaih bereits fest in der Weltspitze etabliert, auch in diesem Jahr trat Wanjiru an und erzielte bei etwas zu hohen Temperaturen mit 59:23 wieder eine Zeit, die auch am Ende der Saison weit vorne in der Weltspitze stehen dürfte. Von den 200 000 $ Preisgeld will er der Mutter in Kenia eine Farm samt Traktor kaufen. Noch mehr Geld, nämlich 300 000 $, gab es kurz darauf in Abu Dhabi bei der ersten Ausgabe des (Scheich) Zayed-Halbmarathons zu gewinnen, die sich Patrick Musyoki Makau (KEN) – spätestens seit 2007 nach seinen 58:56 in Berlin absolute Weltklasse auf dieser Distanz – in 60:08 sicherte; auch hier war es für einen Angriff auf den Weltrekord etwas zu warm.
Hochkarätig besetzt ebenfalls der Lauf der Frauen:
Die wiedergenesene Weltrekordhalterin Lornah Kiplagat (NED) siegte in 68:52 vor Berhane Adere (ETH) in 71:23. Die Veränderungen in den Weltjahresbestenlisten durch die Veranstaltungen in dieser Region sind schon jetzt eindrucksvoll.
Sicherlich von noch größerer Bedeutung war der Standard Chartered Dubai Marathon (Hauptsponsor ist eine Bank) am 18. Januar 2008. Und es war wieder Haile Gebrselassie, der Zeichen setzte. Nach einem sehr schnellen Beginn (siehe auch Grafik) bei idealen äußeren Bedingungen (noch nie wurde die erste Hälfte eines Marathons in 61:27 angelaufen, bei 30 km stellte Hailes Tempomacher Abel Kirui mit 1:28:00 inoffiziell den 30 km Weltrekord ein) fehlten in der zunehmenden Wärme der Morgensonne dem überaus sympathischen Äthiopier am Ende etwas die Kräfte. Mit der hervorragenden Siegerzeit von 2:04:53 verpasste er seinen vor gut drei Monaten beim Berlin-Marathon aufgestellten Weltrekord (2:04:26) knapper als es die absolute Zeitdifferenz von 27 Sekunden aussagt.
Auch die nach dem Lauf vielfach zu hörende Kritik einer zu unkontrolliert schnellen ersten Phase des Laufes ist kaum zu halten, wenn man die Zeitdifferenzen bei Hailes Weltrekordjagden in Berlin 2007 und Dubai 2008
im Vergleich zur jeweils aktuellen Bestleistung sieht. Bei seinem Weltrekord Ende September konnte Haile nach einer kurzen kritischen Phase das Tempo noch einmal steigern, in Dubai fehlten ihm diesmal in der Schlussphase noch die Substanz. Trotzdem ist Haile nun im Besitz der zwei schnellsten Zeiten über die Marathondistanz und weltweit im Marathon eine Klasse für sich.
Durch seine Leistung in Dubai hat Haile aufgezeigt, dass sich neben Frühjahr und Herbst eine „dritte Jahreszeit“ in der internationalen Marathonszene einstellen wird, in der Regionen mit ansonsten extremen klimatischen Bedingungen ins Blickfeld der Läufergemeinschaft drängen. Diese Verlagerung wird nicht nur die etablierten Klassiker über die Marathondistanz wie Chicago, London, Berlin, etc. und die bisher nur dort erbrachten Spitzenleistungen betreffen. Auch für die immer noch ansteigende Schar an Breitensportlern, die sich den Anforderungen über die Marathondistanz stellen, erscheinen diese neuen Alternativen durchaus interessant. In einer der am stärksten wirtschaftlich boomenden Regionen auf dem Globus, entsteht eine beispiellose Infrastruktur, die in nahezu idealer Weise auch für den Laufsportler attraktiv ist.
Neben reichhaltigen und günstigen Angeboten der Unterbringung in hervorragenden Hotels sowie erschwinglicher Anreise bietet z.B. Dubai trotz der immer noch massiven Bautätigkeiten Voraussetzungen für den Laufenthusiasten, die in dieser Form weltweit fast einmalig sind. Auf neuen Asphaltstraßen mit perfekt ebenem Belag wird man die von Chicago oder New York gewohnten Dellen und Schlaglöcher im Pflaster vergeblich suchen, Höhenunterschiede im Streckenprofil liegen bestenfalls im m-Regime.
Neben einem sehr ansprechenden Start- und Zielbereich im Zabeel-Park und einer Sförmigen Schleife zu Beginn, verläuft die Wendepunktstrecke von 5 km bis zur Halbmarathonmarke kerzengerade und bietet durch die markanten Wegpunkte des Burj Al Arab Hotels und der überdimensionalen Nationalflagge an den Enden eine willkommene Hilfe für die Abschätzung der Streckenlänge. Durch die frühe Startzeit gegen 7 Uhr morgens entgeht man weitgehend der zunehmenden Sonneneinstrahlung bei klarem Himmel und läuft insbesondere den ersten Teil der Strecke bei perfekten äußeren Bedingungen: Temperaturen von zunächst um die 12 °C, ein nur schwacher, erfrischender Wind sowie geringe Luftfeuchtigkeit.
Eine unbeschreibliche Begeisterung durch die große in Dubai lebende äthiopische Kolonie übertrifft schon jetzt die Stimmung an einigen Teilen der Strecke und vor allem im Zielbereich im Vergleich zu vielen etablierten Stadtläufen.
Dubai ist damit endgültig in der Weltspitze des Marathons angekommen. Neben der die Saison wohl überlebende Jahresweltbestzeit von Haile ist auch das Mittel der zehn besten Zeiten von 2:09:28 zu nennen, das z.B. um 10 Sekunden unter dem Zeitmittel vom Berlin-Marathon des letzten Jahres liegt (siehe Tabelle). Begeistert von Strecke und Veranstaltung versprach Haile, im nächsten Jahr in Dubai einen erneuten Angriff
auf seine Weltbestmarke zu starten. Die Rekordprämie von 1 Million US-Dollar soll es auch im kommenden Jahr geben, und die üppigen Preisgelder könnten bei der nächsten Auflage am 23. Januar 2009 sogar noch höher ausfallen.
Bedenkt man, dass die jeweils Zehntplazierten mit Zeiten von 2:12:20 (Männer: Rotich, KEN) und 2:37:37
(Frauen: Kimani, KEN) noch 10.000 US-Dollar erhielten, dringt man hier in eine Kategorie vor, bei der auch etablierte Veranstalter an ihr Limit kommen. Die finanziellen Ressourcen dürften zusammen mit fast idealen äußeren Bedingungen Teilnehmerfelder an den Start bringen, die es in dieser Leistungsbreite nur selten gegeben hat. Es kann als sicher gelten, dass sich in wenigen Jahren die Bestenlisten, in der Dubai derzeitig
mit der zweitbesten Zeit der Geschichte vertreten ist, maßgeblich zu Gunsten des Emirats verändern werden. Und bezüglich des Weltrekords sei daran erinnert, dass Haile auch in Berlin wegen ungünstiger Schrittmacherdienste sowie des Wetters einen zweiten Anlauf benötigte …..
Top Ten der Marathonläufe innerhalb des letzten Jahres (Mittel der zehn besten Zeiten bei der jeweils letzten Veranstaltung)
1. Amsterdam 2:07:52
2. Dubai 2:09:28
3. Frankfurt 2:09:35
4. Berlin 2:09:38
5. Hamburg 2:09:41
6. Fukuoka 2:10:23
7. Paris 2:10:34
8. Eindhoven 2:11:51
9. New York 2:12:25
10. Rotterdam 2:12:28
Prof. Dr. Helmut Winter