René Herms wurde nur 26 Jahre alt
Rene Herms beigesetzt – Überhörter Hilferuf – Michael Reinsch, Pirna, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
26. Januar 2009 „Er war der perfekte Leichtathlet“, sagte der Trauerredner, „der geborene Läufer.“ Dieses Bild von einem Sportler verkörperte René Herms über seinen Tod hinaus. Zwischen Trauerkränzen und Gebinden stand am Montagvormittag in der kleinen Kapelle auf dem Friedhof der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Pirna ein Foto, das ihn im Trainingsanzug der Nationalmannschaft zeigte. Herms schien, wie eh und je, voller Zuversicht und Optimismus in die Zukunft zu blicken.
Kaum eine halbe Stunde später wurde unter der kalten Wintersonne die Urne mit seiner Asche in den Boden gebettet. Rund zweihundert Trauergäste begleiteten seine Witwe und ihre Familien auf dem schweren Gang, unter ihnen viele Sportler wie Herms' Trainingspartnerin Claudia Marx, wie Hürdensprinter Thomas Blaschke, wie seine Weggefährten Wolfram Müller und Franek Haschke. Die Familie hatte Fotografen und Kamerateams gebeten, außerhalb des Friedhofs zu bleiben – was diese, freundlich erinnert von einigen Herrschaften der Friedhofsverwaltung – respektierten.
„Laufen ist ein harter Beruf“
26 Jahre alt war René Herms, als er vor gut zwei Wochen an den Folgen einer Herzmuskelentzündung starb. Das ist es, was die Athleten, zusätzlich zu dem schrecklichen Verlust, so erschreckt: Sie sind es gewohnt, Hilferufe des Körpers in Training und Wettkampf zu ignorieren, Schmerzen und Erschöpfung. Sie wissen, dass sie gesundheitlich Risiken eingehen, um Bestleistungen zu bringen. „Laufen ist ein harter Beruf“ hatte Herms einmal gesagt, weil es bei ihm mit seinen 1,95 Meter Körpergröße so leicht aussah.
Doch dass eine nicht auskurierte Virusinfektion, ein Herpes wie bei ihm, den Tod bringen kann? Noch am Tag, als er zusammenbrach, dem 9. Januar, hatte Herms in Dresden trainiert und war dann in seine Wohnung nach Lohmen gefahren. Dort lebte er allein – seine Frau Steffi hatte Arbeit in Hannover gefunden. Er hatte Pirna ebenfalls verlassen, allerdings nur, um außerhalb der Stadt preiswert wohnen zu können. Seine Stelle bei der Bundeswehr hatte er verloren; seit zwei Jahren kämpfte er darum, aus dem sportlichen Tief herauszukommen, in dem er steckte.
Schulden statt Prämien und Sold
Sein Ziel und seine Hoffnung war die Weltmeisterschaft in diesem Jahr in Berlin. Steffi Herms erzählte in ihrer Verzweiflung, dass ihr Mann Schulden gemacht habe für den Lebensunterhalt, seit Prämien und Sold ausblieben. Sechs Mal war er deutscher Meister über 800 Meter geworden, sechs Mal Hallenmeister. Nun verkaufte er im Internet aus finanzieller Not persönliche Gegenstände. Sein Sportverein richtete daraufhin ein Spendenkonto ein. Der Landessportbund Sachsen übernahm die Kosten der Beisetzung. Viele Gäste steckten der jungen Witwe beim Kondolieren Briefumschläge zu.
„Er war der geborene Läufer”
Fast ebenso wichtig wie die materielle Absicherung war der Familie von Herms wie seinen Trainern und sportlichen Wegbegleitern die Versicherung, dass Doping keine Rolle gespielt habe bei diesem überraschenden Tod – zumal nun erst die Verzweiflung bekannt wurde, mit der Herms dem Erfolg hinterher rannte.
Doping habe die Staatsanwaltschaft ausgeschlossen
Bei der Europameisterschaft 2006 in Göteborg war Herms als Letzter des Vorlaufes ausgeschieden und hatte daraufhin lesen können, dass sein Trainer Klaus Müller dies Arbeitsverweigerung schimpfte. Herms hatte mit dem autoritären Müller, seinem Entdecker und Antreiber, schon um die Freundschaft und die Ehe mit seiner großen Liebe Steffi kämpfen müssen, die er in der Abiturklasse in Pirna kennengelernt hatte. Nun trennten sich die Wege von Athlet und Trainer. Herms blieb zwar in der kleinen Stadt, obwohl er für die LG Braunschweig startete, doch zum Training fuhr er nun nach Dresden zu Dieter Jaros. Müller ging er aus dem Weg.
“Komm gut an bei Deinem schwersten Lauf“
"Komm gut an bei Deinem schwersten Lauf"
Doping habe die Staatsanwaltschaft mit ihren Untersuchungen ausgeschlossen, sagte der Trauerredner, und das sei auch keine Überraschung. Herms habe gewusst, dass es ein Leben nach dem Sport gebe. Deshalb hätte er gewiss seine Gesundheit nicht aufs Spiel gesetzt. Herms hatte gewusst, dass diese Untersuchung und dieser Hinweis nötig werden würden.
René Herms hielt sich für einen Überlebenden
Als er im Frühjahr 2007 von seinem ersten Höhentraining in Namibia berichtete und gefragt wurde, ob diese Art, die Blutwerte zu verbessern, Chancengleichheit mit denen schaffe, die das auf andere Art und Weise tun, antwortete er: „Man muss vorsichtig sein mit Anschuldigungen. Es kommt ganz schnell auch anders herum.“ In dem selben Gespräch sagte er: „Ich werde lieber ungedopt Zweiter als gedopt Erster, und nach fünf Jahren liege ich unter der Erde.“
Es war, als habe der Tod den jungen Athleten erst im Nachfassen erreicht. Im Dezember 2004 war er schon einmal ganz dicht dran. Da hatten René und Steffi Herms gerade geheiratet; ihre Hochzeitsreise führte sie zu Weihnachten nach Thailand. Nur durch eine Zufall verpassten sie den Tag am Strand, auf den just in diesem Moment der verheerende Tsunami raste.
Seitdem hielt sich René Herms für einen Überlebenden.
Michael Reinsch, Pirna, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 27. Januar 2009