Die Leichtathletik ist ein Kulturgut, das man in besonderer Weise pflegen muss. Sie ist wahrscheinlich sogar das älteste und universalste Kulturgut. Zur Pflege der Leichtathletik gehört dabei ganz gewiss auch das öffentliche Schulwesen. Dabei kommt den europäischen Schulen eine besondere Verantwortung zu.
„Prozess der Selbstauflösung“ – Prof. Helmut Digel rechnet ab – „Die Leichtathletik siecht vor sich hin“ – Ein Beitrag in „leichtathletik vom 11. Februar 2009
Er war von 1993 bis 2001 DLV-Präsident, dann sechs Jahre Vize-Präsident des Weltverbandes IAAF. Seit 1995 gehört er dem Council an, dem höchsten Gremium der IAAF: Kaum jemand kennt sich in der Leichtathletik so gut aus wie der Tübinger Professor Helmut Digel, der mittlerweile die Marketing-Kommission der IAAF leitet.
In einem Gastbeitrag analysiert der DLV-Ehrenpräsident mit schonungsloser Offenheit die Situation der Sportart im Jahr der Weltmeisterschaften in Berlin. Darin attestiert der 65 Jahre alte Sportsoziologe der Leichtathletik die Unfähigkeit zu solchen Reformen, die er für ihr Überleben als Kernsportart der Olympischen Spiele für unabdingbar hält.
In wenigen Jahren feiert der Internationale Leichtathletik-Verband sein 100-jähriges Bestehen. Er gehört damit zu den ältesten internationalen Fachverbänden.
Die Leichtathletik sieht sich selbst als die Königin der Olympischen Spiele und ohne Zweifel ist es ihr in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gelungen, bei den Olympischen Spielen die Zuschauer in den Olympia-Stadien zu faszinieren und die Leichtathletik hat auch ganz wesentlich zum großen massenmedialen Erfolg der Olympischen Spiele beigetragen.
Zeichnete sie sich in diesem Zusammenhang über Jahrzehnte durch ein Alleinstellungsmerkmal aus, so muss sie bei den Olympischen Spielen nunmehr feststellen, dass andere Sportarten in gleicher Weise das Interesse der Massen finden und bei den jüngsten Olympischen Spielen von Peking musste die Leichtathletik ihre Spitzenposition bei den Fernseh-Einschaltquoten bereits mit anderen Sportarten teilen. Dennoch scheint es so zu sein, dass die Position der Leichtathletik innerhalb der olympischen Bewegung unumstritten ist und sie sich durch eine besondere Qualität und Einmaligkeit auszeichnet.
Rückläufige TV-Quoten
> Betrachten wir aber das vergangene Jahrzehnt, so müssen wir erkennen, dass immer weniger Zuschauer bereit sind, sich eine Eintrittskarte für eine Leichtathletikveranstaltung zu kaufen. In mehr als 90 Prozent aller Leichtathletik-Veranstaltungen, die weltweit stattfinden, sind keine zahlenden Zuschauer anzutreffen. Bei jenen Veranstaltungen, wo zu früheren Zeiten Eintrittspreise erhoben werden konnten, sind die Zahlen der
bezahlenden Zuschauer rückläufig. Die große Mehrzahl der Leichtathletikveranstaltungen in der Welt findet auch ohne tragfähige Sponsoring-Kooperationen statt.
Lediglich bei den herausragenden Top-Ereignissen der Weltleichtathletik lässt sich ein wachsendes Sponsoringvolumen beobachten. Die Zuschauerzahlen vor dem Bildschirm sind weltweit betrachtet nahezu als irrelevant zu bezeichnen. Selbst in ehemals attraktiven Märkten sind sinkende Einschaltquoten zu beobachten.
Der Marktanteil der Leichtathletik und die erreichten kumulativen Zuschauerzahlen sind objektiv betrachtet rückläufig. Selbst bei Welt- und Europameisterschaften sind die erreichten Quoten als unbefriedigend zu bezeichnen.
In so bedeutsamen Märkten wie jenem der Vereinigten Staaten ist die Leichtathletik-TV-Präsenz minimal. Die Verluste, die derzeit die Leichtathletik in Europa und USA aufweist, können dabei keineswegs, wie oft behauptet, durch entsprechende Gewinne in den so genannten „Emerging-Markets“ ausgeglichen werden. Unter ökonomischen Gesichtspunkten gibt es für die Leichtathletik nahezu in allen Kontinenten keine tragfähigen Strukturen.
Die Leichtathletik ist als Unterhaltungssportart im Wesentlichen auf staatliche Subventionen angewiesen. 90 Prozent ihrer Veranstaltungen sind nicht aus sich selbst heraus finanzierbar.
Ausrichter von leichtathletischen Großveranstaltungen können in der Regel keine Gewinne erzielen, die Leichtathletik ist im Wesentlichen eine vom Steuerzahler finanzierte Sportart.
Problemfall Leichtathletik
> Stimmen die bislang gemachten Beobachtungen, so ist die Frage nahe liegend, durch was dieser gefährliche Rückschritt der Leichtathletik bedingt wird? Was sind die Ursachen, dass die Leichtathletik für Zuschauer immer weniger attraktiv geworden ist? Warum haben Sponsoren nur bedingt ein Interesse an einer Kooperation mit der Leichtathletik, warum sind immer mehr Fernsehsender nicht mehr bereit, Leichtathletikveranstaltungen zu übertragen?
Auf diese nahe liegende Frage gibt es eine nicht weniger nahe liegende Antwort: Die Leichtathletik selbst ist es, so wie sie sich ereignet, wie sie sich präsentiert, so wie sie durchgeführt wird. Sie selbst stellt das Problem dar, das dringend einer lösungsorientierten Bearbeitung bedarf.
Fragen wir die Menschen, warum sie die Leichtathletik nicht mehr als interessant empfinden, fragen wir junge Menschen, warum sie nicht bereit sind, als Fans bei Leichtathletikveranstaltungen mitzumachen, sind wir selbstkritisch genug und beobachten das Phänomen Leichtathletik aus einer Distanz, so erkennen wir sehr viele Einzelaspekte, die darauf hinweisen, dass die aktuelle Verfassung der Leichtathletik auf keine attraktive Zukunft verweisen kann.
Langweilige Präsentation
> Warum ist es möglich, dass sich bei einer Weltmeisterschaft während der laufenden Wettkämpfe viele Stadionbesucher in der Lobby, im Sponsorvillage, in den VIP-Räumen aufhalten? Warum wandern die Zuschauer während der Wettkämpfe um das Stadionrund und unterhalten sich. Warum halten sich gar einige Zuschauer während der Wettkämpfe vor den Arenen auf? Warum wird während der Wettkämpfe auf den Tribünen geschwätzt, fachgesimpelt und Sportpolitik gemacht?
Die Antwort der Kritiker auf diese Fragen ist sehr eindeutig: Dies alles ist möglich, weil Leichtathletik langweilig präsentiert wird. Bei WM-Qualifikationsrunden ist man meist nur am eigenen Athleten interessiert.
Danach verlassen viele Zuschauer wieder die Arena. Zwischen den einzelnen Versuchen der Athleten sind Pausen, die das Gespräch geradezu herausfordern. Meist finden auch zu viele Wettkämpfe gleichzeitig statt, was zur Folge hat, dass man keinen konsequent verfolgt und jedes Mal dann zu spät kommt, wenn bei einem bestimmten Wettkampf eine besondere sportliche Leistung erbracht wird.
Frustration auf Seiten des Zuschauers ist die nahe liegende Folge, die er zu ertragen hat.
Als Zuschauer erregt man sich über die Inkompetenz von Startern. Man fragt sich, warum nicht schon längst eine elektronische Startmaschine entscheidet und jeder Fehlstart ausgeschlossen ist. Die Kommunikation der Messergebnisse bei den Sprüngen dauert in der Regel zu lange und der jeweilige Stand des einzelnen Wettkampfs, beispielsweise beim Hochsprung, ist für den Zuschauer so gut wie nicht zu verfolgen. Eine nicht selten sehr miserable elektronische Kommunikation ist dabei meist die Ursache.
Einzelne Wettkämpfe, wie beispielsweise der Stabhochsprung, dauern viel zu lange. Ein Spannungsbogen ist dabei kaum zu erkennen und immer geht dabei der Wettkampf mit einem Scheitern zu Ende. Er ist dann beendet, wenn der Sieger dreimal gerissen hat oder frühzeitig den Wettkampf aufgibt.
Besonders ärgerlich ist für die in den Arenen anwesenden Zuschauer, wenn die Qualität des Produkts noch dadurch beeinträchtigt wird, dass der Innenraum des Stadions von Hunderten von Personen bevölkert ist. Fotografen, Fernseh-Teams, Messapparaturen, Sonnenschirme oder Kampfrichteransammlungen verstellen den Zuschauern die Sicht zum Wettkampf und gleichzeitig wird der Wettkampfinnenraum durch Linien und Farben in einer chaotischen Weise strukturiert.
Unverständlicher Kalender
> Nahezu unverständlich ist für die Zuschauer auch die Struktur der Leichtathletikveranstaltungen im Jahresverlauf. Es mangelt an einer saisonalen Gliederung, die für den Zuschauer nachvollziehbar ist. Wann beginnt die Saison? Wodurch zeichnet sich der Saisonhöhepunkt aus? Wann haben Meetings den Charakter einer Liga, wann den Charakter einer Tour?
Warum ist es möglich, dass Top-Athleten bei nachgeordneten Meetings höhere Preisprämien gewinnen können als bei den Top-Veranstaltungen der Golden League?
Weitere ungelöste Qualitätsprobleme seien hier nur angedeutet. Das Nachwuchsproblem bei den Kampfrichtern ist in vielen Mitgliedsverbänden der IAAF längst offensichtlich. Das Problem der Rekrutierung qualifizierter Trainer bei einer zunehmenden Spezialisierung der Trainerkompetenz für die einzelnen Disziplinen erweist sich in vielen Leichtathletik-Nationen als nicht mehr lösbar. Dies liegt vor allem daran, dass eine angemessene Bezahlung der Trainerarbeit nicht gesichert ist.
Besonders dramatisch ist das nach wie vor ungelöste Doping-Problem.
Aufgedeckter Doping-Betrug durch Top-Stars der Leichtathletik beschädigt das internationale Image der Weltleichtathletik. Es gibt wohl beispielhafte Anstrengungen im Kampf gegen den Doping-Betrug. Das Problem wird jedoch nur reaktiv bearbeitet, weltweit sind keine Maßnahmen zu erkennen, die einer effektiven Prävention entsprechen würden.
Die hier beschriebenen fraglichen Aspekte des Qualitätsproblems, die ohne Zweifel noch fortgeführt werden können, lassen sich nahezu bei allen Leichtathletikveranstaltungen beobachten. Sie zeigen sich bei Eintagesmeetings ebenso wie bei den nationalen Meisterschaften der Mitgliedsverbände der IAAF. Selbst die Weltmeisterschaften und die Leichtathletik bei den Olympischen Spielen können dabei nicht ausgenommen werden. Ganz offensichtlich hat somit die Leichtathletik ein Qualitätsproblem, das dringend einer Lösung bedarf.
Damit stellt sich die Frage, wie dieses Qualitätsproblem von den Verantwortlichen der Welt-Leichtathletik bearbeitet wird. Wie stellt man sich den skizzierten Herausforderungen?
Die Leichtathletik ist wie keine andere Sportart eine regelgeleitete Sportart und ihre hundertjährige Geschichte zeichnet sich vor allem durch einen Prozess der Regelentwicklung aus. Dieser muss in vieler Hinsicht als problematisch bezeichnet werden.
Leichtathletik hat dabei in dieser hundertjährigen Geschichte in einem naturwüchsigen Prozess die Zahl der leichtathletischen Wettkämpfe ständig erhöht, ohne die Frage zu diskutieren, was ein erträgliches Maß ist, wenn man als Sportart gegenüber Zuschauern attraktiv bleiben möchte.
Zu viele Disziplinen
> Mittlerweile ist man dabei bei 46 Einzelentscheidungen angelangt. Wurden aus den Mitgliedsorganisationen Interessen in Bezug auf die Einführung oder Weiterentwicklung einer Disziplin artikuliert, so wurden diese Anliegen lediglich einem Prüfverfahren unterzogen. Hatte eine Disziplin einen ausreichenden Bewährungsgrad erreicht, so hat sie in der Regel ihre Zulassung bei den internationalen Meisterschaften erhalten. Nur selten kam es dabei zu einer Streichung einer bestehenden Disziplin.
Die Leichtathletik hat vielmehr einen Prozess der Ausdifferenzierung aufzuweisen, der unter funktionalen Gesichtspunkten kaum zu rechtfertigen ist.
Parallel zu dieser Entwicklung wurden die einzelnen Disziplinen immer weiter verregelt. Alle zwei Jahre finden IAAF-Kongresse statt, bei denen nicht selten mehr als 200 Regelanträge zur Diskussion und zur Abstimmung stehen.
Das Regelbuch hat mittlerweile einen Umfang von mehr als 200 Seiten und die Regelentwicklung ist dabei von der Annahme gekennzeichnet, dass man glaubt, das Regelproblem der Leichtathletik dadurch lösen zu können, dass immer dann, wenn man eine Regellücke entdeckt, diese durch eine ergänzende neue Regelung geschlossen werden könnte. Es wird nur selten erkannt, dass man sich in einem Prozess einer unendlichen Geschichte befindet, dass jede Regel neue Lücken erzeugt, dass es in der Logik der Regel liegt, dass man sie einhalten kann, dass sie aber auch verletzt wird.
Hierbei wird ganz offensichtlich verkannt, dass dieser Verregelungsprozess der eigenen Sportart einen enormen Schaden zufügt. Nur wenige Experten verstehen noch die existierende Vielfalt. Die Sportart wird in ihrer Regelstruktur für die Zuschauer, aber selbst auch für die sie betreibenden Athleten in vieler Hinsicht unverständlich. Nicht weniger problematisch erweist sich dieser Verregelungsprozess für die massenmediale Berichterstattung über diese Sportart.
Macht der Techniker
> Geprägt wird dieser Verregelungsprozess von der Expertise der so genannten „technischen Experten“. Organisiert in den technischen Kommissionen stellen sie den eigentlichen Machtfaktor der Welt-Leichtathletik dar. Deshalb haben auch Technische Delegierte bei allen Meisterschaften das letzte Sagen. Sie verfügen über die Ausführungsgewalt.
Diese technischen Experten verweisen auf eine lange athletische Sozialisation, sind leidenschaftlich ihrer Sportart verbunden. Ihr Alter, ihre Herkunft, ihre Sozialisation im weitesten Sinne haben dabei zur Folge, dass es sich bei diesen Experten um eine geschlossene Gesellschaft handelt, die sich durch eine eigene Logik auszeichnet.
Aus der Sicht jener Mitglieder in der Leichtathletik-Familie, die nicht dieser geschlossenen Gesellschaft angehören, gilt diese Expertengruppe als wertkonservativ, traditionsbewusst und wenig experimentierfreudig.
Dennoch ist aus der Sicht der Verantwortlichen der Leichtathletik die Technische Kommission der IAAF die wichtigste Kommission, die über die Geschicke der Leichtathletik verfügt. Alle übrigen IAAF-Kommissionen haben im Verhältnis zu dieser Kommission eine eher nachgeordnete Bedeutung.
Angesichts dieser Machtkonstellation ist es nahe liegend, dass das Qualitätsproblem der Leichtathletik lediglich über diese Kommission selbst gelöst werden kann, es sei denn, die Leichtathletik ist zu einer Reform ihrer organisatorischen Strukturen bereit.
Die hier beschriebenen Qualitätsprobleme der Leichtathletik sind nicht von heute auf morgen entstanden. Sie werden vielmehr außerhalb und innerhalb der Leichtathletik schon seit vielen Jahren beklagt und selbstverständlich haben sich längst die Gremien der Leichtathletik diesen Problemen zugewandt.
Mehrmals jährlich tagen die Wettkampfkommission, die Technische Kommission, die Marketing-Kommission und noch viele weitere Kommissionen. Immer wieder wurden Ad-hoc-Arbeitsgruppen eingerichtet.
Die eine beschäftigt sich über viele Jahre mit der Reform der One-Day-Meetings. Eine andere ist auf eine neue Struktur der so genannten World-Athletic-Series ausgerichtet. Ein Weltplan wurde verabschiedet, Symposien und ganze Kongresse wurden bereits zur Qualitätsfrage durchgeführt. Man tauscht sich mit den Fernsehsendern aus. Man berät sich mit den Sponsoren.
Bei den Wettkämpfen selbst hat sich jedoch so gut wie gar nichts verändert.
Die Vormittagsprogramme bei den Weltmeisterschaften sind nach wie vor nahezu unverkäuflich. Selbst nachmittags sind bei dieser Vorzeige-Veranstaltung die Pausen noch zu lang. Langweilige Siegerehrungen unterbrechen die Wettkämpfe, die Präsentationsformen sind amateurhaft, eine wirkliche Kommunikation mit den Zuschauern findet nicht statt.
Die Leichtathletik siecht
> Wohl sind einige nette ergänzende Hilfsprogramme zu erkennen, der Kern des Problems bleibt dabei jedoch nach wie vor unerfasst. In jüngster Zeit wurden auch noch Agenturen mit dieser Problematik beauftragt. Teure Studien wurden eingekauft, die in ihrer Aussagekraft nicht über all diese Vorschläge hinauskommen, die längst in den Gremien zur Diskussion gestellt waren.
Auf diese Weise siecht die Leichtathletik vor sich hin. Ja, sie scheint sich in einem Prozess der Selbstauflösung zu befinden, ohne dass die Beteiligten, die dafür die Verantwortung übernommen haben, dies für sich in dieser Weise erkennen.
Jeder einzelne der Verantwortlichen teilt die Sichtweise in Bezug auf die Probleme, jeder einzelne weist auf die Notwendigkeit von Veränderungen hin und jeder einzelne sieht sich selbst als jemand, der zur Reform bereit ist.
Zu fragen ist deshalb, warum eine Organisation, wie der Welt-Leichtathletik-Verband zu diesen Reformen nicht fähig ist. Worin sind die Ursachen zu sehen, warum es zu dem dringend erforderlichen Entscheidungshandeln nicht kommt?
Grundsätzlich neigen Sportorganisationen angesichts ihrer ehrenamtlichen und hauptamtlichen Konstruktion dazu, Probleme hierarchisch abzuarbeiten. Vorzuarbeiten und nachzuarbeiten haben die Hauptamtlichen, zu entscheiden haben die Ehrenamtlichen. Die Ehrenamtlichen in der Institution des IAAF-Councils haben in ihrer Gesamtheit die Verantwortung. Eine Einzelverantwortung ist jedoch nicht zu erkennen. Auf diese Weise kann jeder der Verantwortlichen auf die Verantwortung der Gemeinschaft verweisen, ohne dass auf diese Weise wirklich Verantwortung zum Tragen kommt.
Sportpolitisches Palaver
> Die Sitzungen der Entscheidungsgremien sind durch wenig strukturierte Diskussionen geprägt, es wird über alles und nichts gesprochen, sportpolitisches Palaver steht im Mittelpunkt. Eine fundierte fachliche Diskussion kann aufgrund der unterschiedlichen Sozialisation der ehrenamtlichen Führungskräfte kaum erwartet werden. Nur wenige der gewählten Repräsentanten verfügen über eine ausreichende Expertise über die Sportart selbst und nur ganz wenige erfassen die Komplexität der Probleme.
Angesichts dieser Konstellation darf es nicht wundern, dass in Sportorganisationen immer dann, wenn Probleme einen gravierenden Charakter erhalten, man diese an Kommissionen verweist und auf diese Weise das Problem vertagt wird. Mit dem Verweis an Kommissionen kommt es aber auch zur Delegierung der Verantwortung. Niemand fühlt sich wirklich verantwortlich und schon allein deshalb sind zeitliche Verzögerungstaktiken in Sportorganisationen immer erfolgreich.
Neigt dann noch die exekutive Führung eines Verbands zur Strategie des Vertagens, ist sie zögerlich in Entscheidungen, ist ihr eigenes Management problematisch, ist sie bei ihren Entscheidungen einer Kultur der Harmonie verpflichtet, ist ein Konzept der Prioritätensetzung nicht zu erkennen, so kann es in Sportorganisationen Jahrzehnte dauern, bis es zu irgendeiner entscheidenden Veränderung kommt.
Genau dies ist auch im Welt-Leichtathletik-Verband und in vielen Leichtathletik-Mitgliedsverbänden zu beobachten. Zwölf Jahre tagten die Experten der Wettkampf-Kommissionen, ohne dass auch nur eine entscheidende Veränderung in Bezug auf den Wettkampfkalender und die Konzeption der Wettkampfveranstaltungen selbst beschlossen worden wäre. Die Technische Kommission hat sich ebenfalls über Jahrzehnte mit allen Für und Wider auseinandergesetzt und hat lediglich bewirkt, dass das Regelbuch um einige paar Seiten dicker geworden ist. Die Mitglieder der verschiedenen Arbeitsgruppen tauschen sich über Absichtserklärungen aus, die fast immer wirkungslos bleiben.
All‘ dies wird hinter vorgehaltener Hand von vielen beklagt.
Council-Mitglieder kritisieren diesen Sachverhalt ohne zu merken, dass sie dabei zunächst und vor allem sich selbst zu kritisieren haben. Präsidenten von Mitgliedsverbänden diskreditieren die IAAF, ohne auch nur ein einziges Mal die entsprechende Kritik gegenüber dem Präsidenten direkt vorgetragen zu haben. Manager von Athleten bringen egoistische Kritik vor, tragen egoistische Eigeninteressen an den Verband heran und auch die aktiven Leichtathleten beteiligen sich aggressiv an dieser Kritik.
Erstarrte Demokratie
Auch für solch ein Verhalten gibt es Ursachen und sie sind ebenfalls durch die Strukturen der Sportorganisationen bedingt. Gemäß ihrer Satzung basieren Sportorganisationen auf einem demokratischen Delegierungsprinzip. Sportorganisationen sind Organisationen mit vertraglich vereinbarten Mitgliedschaften, jedes Mitglied hat seine Rechte und Pflichten und dazu gehört vor allem die Möglichkeit, sich in allen entscheidenden Fragen, die die Sportart betrifft, über Anträge einbringen zu können, die in den entsprechenden Institutionen der Organisationen zu diskutieren und zu entscheiden sind.
Genau dieses demokratische Delegierungsprinzip ist in den Sportorganisationen längst erstarrt. Das dreistufige Prinzip der Antragstellung, Diskussion und der Entscheidung, das Bemühen um Mehrheiten bei Abstimmungen über eine argumentative Überzeugungsarbeit ist in den Sportorganisationen weitestgehend verloren gegangen.
Ritualisierte Verfahren
> Die politische Diskussion in den Gremien hat meist einen ritualisierten Charakter. Die Abstimmungen sind ritualisierte Verfahren. All dies hat dazu geführt, dass die Mitglieder apathisch sind gegenüber ihren institutionellen Gremien, dass die Hinterbühne die wichtigere Bühne als die Vorderbühne geworden ist, dass Tratsch und Klatsch eine sehr entscheidungsrelevante Diskussionsform geworden ist. Es hat vor allem aber auch dazu geführt, dass man zu den eigentlichen Entscheidungen nicht kommt, dass sich alle auf die anderen verlassen, es diese anderen jedoch nicht gibt.
Mein Versuch einer Analyse mag unzureichend sein. Manche werden ihn als unsachlich empfinden. Einiges müsste hinzugefügt werden und der eine oder andere Punkt bedarf der Diskussion.
Wer sich jedoch ernsthaft mit der Sportart Leichtathletik in ihrer aktuellen Verfasstheit auseinandersetzen möchte, der es gut meint mit der Leichtathletik, wer sich nicht begnügt, dass er sich mit rhetorischen Floskeln über die Leichtathletik als Schulsportart austauscht, von der olympischen Königin spricht und sie völlig unberechtigt als Weltsportart Nummer Eins bewertet, wer also nicht bereit ist, sich ideologisch blenden zu lassen, der sollte sich zumindest einer öffentlichen Diskussion über die Zukunft der Leichtathletik stellen und er sollte die Frage nach der Verantwortung für die weitere Entwicklung der Leichtathletik beantworten.
Die heutige Situation zeichnet sich durch Verantwortungslosigkeit aus. Dies ist fatal und genau darin liegt auch der Schlüssel zur Lösung des Problems.
Die Leichtathletik benötigt dringend Entscheidungen, die auf der Grundlage von Kritik und konstruktiven Vorschlägen gefasst wurden. Meine kritische Diskussion über die aktuelle Situation der Leichtathletik möchte ich deshalb abschließend noch in einen konstruktiven Rahmen einbinden (Lesen Sie dazu den Text unten).
Grundsätzlich bedeutet dies, dass jede einzelne leichtathletische Disziplin einem Regelreformprozess zu unterwerfen ist, will sich die Leichtathletik einer interessanten Zukunft stellen. Diese Zukunft hat die Leichtathletik mehr als jede andere Sportart verdient.
Die Leichtathletik ist ein Kulturgut, das man in besonderer Weise pflegen muss. Sie ist wahrscheinlich sogar das älteste und universalste Kulturgut.
Zur Pflege der Leichtathletik gehört dabei ganz gewiss auch das öffentliche Schulwesen. Dabei kommt den europäischen Schulen eine besondere Verantwortung zu. In diesen Schulen ist schon seit vielen Jahren ein Niedergang der Leichtathletik zu beobachten, was auch mit einem schlechten Leichtathletikunterricht durch schlecht ausgebildete Sportlehrer zusammenhängt.
Viel zu wenigen Lehrern gelingt es, bei den Schülern eine Freude am Wetteifern und am einfachen sich vergleichen zu entwickeln. Das Schulwesen junger Nationen kann dabei durchaus Vorbild für jene Gesellschaften sein, in denen der Alltag von Kindern und Jugendlichen durch die Konsumgüter der Unterhaltungsindustrie geprägt wird.
Die neuen Initiativen der IAAF zu Gunsten der Leichtathletik in den Schulen können dabei durchaus Mut machen. Werden sie jedoch nicht auf nationaler und regionaler Ebene umgesetzt, werden dabei nicht die Schulen insbesondere in den Industriegesellschaften erreicht, so wird die Zukunft der Leichtathletik ungewiss und unsicher bleiben. So wie die Leichtathletik durch die Entwicklung des modernen Fußballs in ihren Leichtathletikanlagen teilweise gefährdet ist, so ist sie auch als unterrichtlicher Inhalt zunehmend durch die Dominanz des Fußballs in Frage gestellt.
Kampf vor Ort
> Der Kampf zu Gunsten der Leichathletik muss deshalb vor Ort geführt werden: dort wo politische Entscheidungen über die Zukunft des Sports getroffen werden. Auch hierbei ist es notwendig, dass diejenigen, die sich für die Sache der Leichtathletik einsetzen, bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Ohne engagierte Eigeninitiativen wird es keine wünschenswerte leichtathletische Zukunft geben.<
Sieben Prinzipien für eine faszinierende Leichtathletik
Leichtathletik war und ist ein Faszinosum. Faszinierend ist Leichtathletik
dann, wenn sich die Athleten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von
Zuschauern befinden, wenn der Zuschauer fokussiert ist auf die sportliche
Spitzenleistung, auf das Duell, auf den Wettkampf, auf die Ästhetik der
Handlungen, auf die spektakuläre Aktion, kurz: Auf die Aktions- und
Präsentationsleistungen des Wettkämpfers.
Sucht man nach einer Lösung des hier angesprochenen Qualitätsproblems, hat man sich dieses besondere Merkmal immer vor Augen zu halten. Daraus lassen sich einige weitere Prinzipien ableiten, die dabei zu beachten sind.
Die Leistung im Zentrum
> Leichtathletik bietet pure Leistung. Diese Leistungen sind für den Zuschauer nachvollziehbare Leistungen. Der Leistungsvollzug sollte nicht verfälscht sein oder durch Umweltereignisse beeinträchtigt werden, die den eigentlichen Vollzug der sportlichen Leistung nur stören. Deshalb ist es so wichtig, dass bei allen Präsentationsformen, die zur Diskussion stehen, im Zentrum die pure Aktion des Wettkämpfers zu stehen hat, die weder von Musik noch von sonstigen begleitenden Maßnahmen in Frage gestellt wird.
Nur ein Wettkampf im Fokus
> Ein zweites Prinzip, das zu beachten ist, zielt auf die Idee des Wettkampfs. Der Fokus des Zuschauers sollte immer nur auf einen Wettkampf gerichtet sein, auf die Auseinandersetzung von einer begrenzten Zahl von Finalisten in einer Disziplin. Während dieses Wettkampfs sollte keine andere Aktivität stattfinden.
Kurze Pausen zwischen den Wettkämpfen
> Ein drittes Prinzip muss auf die sequenzielle Organisation der Wettkämpfe ausgerichtet sein. Die Reihenfolge der verschiedenen Wettkämpfe sollte dabei einer speziellen Dramaturgie unterliegen. Die Pausen zwischen den Wettkämpfen sind möglichst kurz zu halten und die einzelnen Wettkämpfe bedürfen einer exakten zeitlichen Vereinbarung.
Weniger Versuche und neue Strecken
> Viertens müssen dabei die einzelnen Wettkämpfe zeitgleich genauer bemessen werden. Hierzu bedarf es einer Reduzierung der Einzelaktionen der Athleten in den meisten leichtathletischen Disziplinen. Die Zeiträume zwischen den Versuchen der einzelnen Athleten sind zu reduzieren. Es muss auch über neue Laufdistanzen nachgedacht werden, wie überhaupt über neue kreative und zuschauerfreundliche Regeländerungen nachgedacht werden muss.
Nicht länger als zwei Stunden
> Fünftens bedarf die Komposition der Wettkämpfe einer gemeinsamen Dramaturgie. Die Dauer eines Leichtathletikwettkampfs ist dabei auf einen Zeitraum von maximal zwei Stunden zu reduzieren. Dabei sollte die Veranstaltung in ein Gesamtprogramm eingebunden sein, d.h. es muss ein Vor- und Nachprogramm geben.
Bessere Präsentation mit neuer Technik
> Sechstens sind neue Visualisierungs- und Kommunikationsformen dringend
von Nöten. Die einzelnen Disziplinen bedürfen vor allem einer neuen Sichtbarkeit und neue Formen der Präsentation sind zu suchen. So sollten Hebebühnen zur Anwendung kommen, um die Athleten ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Zuschauer zu rücken.
Ganz neue Leichtathletik-Arenen
> Schließlich muss, so wie sich der Fußball um eine neue Zukunft seiner
Fußballarenen gekümmert hat, sich die Weltleichtathletik eine neue Leichtathletikarena schaffen. Das heißt, Architekten haben sich mit den Bedürfnissen der zukünftigen Zuschauerinteressen auseinanderzusetzen.
Prof. Dr. Helmut Digel in "leichtathletik vom 11. Februar 2009. Nr. 6