Die Mikitenko-Begeisterung ist groß, aber natürlich hat sie auch einen Haken. Irina Mikitenko kennt ihn. Schon 1999 wunderten sich viele über ihren Leistungssprung. Ihre 5000-Meter-Bestzeit steigerte sie damals von 15:18,86 Minuten auf den deutschen Rekord von 14:42,03 und wurde WM-Vierte.
Angriff aus der Stille – Am Sonntag in London beginnt die gebürtige Kasachin und deutsche WM-Hoffnung Irina Mikitenko die nächste Etappe ihrer sprunghaften Marathon-Saga – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
Irina Mikitenko denkt gerne zurück an ihre karge Zeit. An Alma Ata, ihre Kindheit im kasachischen Mangel. Wie sie sich ihre Spikes aus Nägeln und grobem Schuhwerk selbst zurechthämmerte. Wie sie früh verstand, dass leben arbeiten bedeutet. "Ich bin froh, dass ich dort groß geworden bin", sagt Irina Mikitenko, die Läuferin, "man kämpft als Kind schon." Sie blickt auf ihre Kinder, Alexander, 14, und Vanessa, 3.
Sie werden in Freigericht groß, einer aufgeräumten Gemeinde im hessischen Hinterland, eingerahmt von Annehmlichkeiten und Fürsorge, die Irina Mikitenko den beiden natürlich nicht verwehren will. Aber Alexander und Vanessa müssen nicht kämpfen, sie werden zumindest nicht als Kämpfer groß. Und es wird nicht ganz klar, ob die Mutter Mikitenko das nicht sogar ein bisschen bedauert.
Die Zähigkeit, die ihr einst die raue Jugend in Kasachstan abverlangte, ist schließlich immer ihr Kapital gewesen auf ihrem Karriereweg, der Irina Mikitenko, 36, vom TV Wattenscheid mittlerweile an die Spitze ihres Sports geführt hat als Titelverteidigerin des London-Marathons an diesem Sonntag, deutsche Marathon-Rekordlerin mit 2:19:19 Stunden und Medaillenhoffnung ihres nationalen Fachverbandes DLV für die Heim-WM in Berlin im August. Bald 13 Jahre ist es her, dass Irina Mikitenko mit Mann und Kind in die reiche Heimat ihrer Urgroßeltern auswanderte.
Sie hat seitdem nicht ohne Unterstützung auskommen müssen, Harald Schmid zum Beispiel, der frühere Weltklasse-Hürdenläufer aus Gelnhausen, hat ihr am Anfang geholfen, der DLV hat ihr Chancen eröffnet. Aber durchsetzen musste sie sich alleine, und wenn man sie jetzt bei den größten Straßenrennen in der vordersten Reihe laufen sieht, ihren beharrlichen Schritt beobachtet, ihre stille Entschlossenheit, ihren Mut zum Schmerz, kann man schon erahnen, wie die harte Schule ihres Geburtslandes sie geprägt hat.
Es geht eine eigene Faszination aus von Irina Mikitenko. Ihr Lächeln schimmert etwas matt in der Mythenfabrik des Sportmarketings, und auch nach ihrem mit 500 000 Dollar entlohnten Gesamtsieg bei der Marathon-Majors-Serie vergangenes Jahr durch Erfolge in Berlin und London sagt sie, jeder Rummel sei ihr fremd: "Daran kann man sich nicht gewöhnen." Aber ihr blasser Charme erzählt viel über das Laufen, über Frieden, Geduld, Einsamkeit, Demut. Über die Schönheit des Einfachen, die jeder Läufer kennt, und von der er trotzdem wenig berichten kann, weil sie ereignislos ist.
Irina Mikitenko macht keine großen Geschichten. Ihr Trainingslager schlug sie in diesem Jahr wieder in Kirgisistan auf, nicht weit entfernt von Alma Ata und den Schwiegereltern. Ihr Mann und Trainer Alexander Mikitenko hat zeitweise Erziehungsurlaub genommen; sonst ist er Schichtarbeiter in einem Schmelzbetrieb. Und der Sohn muss manchmal mithelfen als eine Art Telefondienst, wenn die Anfragen sich häufen. Alles wirkt normal und bodenständig bei Irina Mikitenko. Und ihren Verband vergisst sie auch nicht, obwohl sie jetzt eine große Nummer auf dem freien Markt der Profis ist. Sie besucht DLV-Trainingslager, sie bekennt sich zu ihrer WM-Mission und bei ihren kommerziellen Marathon-Einsätzen läuft sie im Nationaltrikot.
DLV-Disziplintrainer Detlef Uhlemann sagt dankbar: "Sie weiß, was sie am Verband hat." Und umgekehrt: Sogar die Ein-Bronze-Bilanz des DLV von Olympia 2008 wird durch sie erträglicher, obwohl Irina Mikitenko in Peking wegen einer Rücken- und Beckenverletzung fehlte. Der Rennverlauf mit Rumäniens Goldgewinnerin Constantina Dita passte zu ihrem Stil. Mikitenkos Einsatz hätte Gold bringen können, findet etwa DLV-Sportdirektor Jürgen Mallow. Irina Mikitenko sagt: "Wenn der Verband so über mich denkt, freue ich mich noch mehr."
Die Mikitenko-Begeisterung ist groß, aber natürlich hat sie auch einen Haken. Irina Mikitenko kennt ihn. Schon 1999 wunderten sich viele über ihren Leistungssprung. Ihre 5000-Meter-Bestzeit steigerte sie damals von 15:18,86 Minuten auf den deutschen Rekord von 14:42,03 und wurde WM-Vierte. Sie verwies auf ihre Dopingkontrollen, was damals fast nichts aussagte, weil es noch keinen Test auf den Blutdoping-Klassiker Epo gab. Und jetzt ist das Erstaunen wieder groß. Ihr Marathon-Debüt von Berlin 2007 mit 2:24:51 Stunden und ihre Londoner 2:24:14 im Frühjahr 2008 passten noch einigermaßen zu ihrem Vorleben als Bahnläuferin.
Mit ihren 2:19:19 von Berlin im Herbst 2008 allerdings stand sie plötzlich auf Platz vier der ewigen Bestenliste. Und auch die 10 Kilometer läuft sie auf der Straße schneller als auf der Bahn; vor zwei Wochen in Paderborn zum Beispiel in 31:24 Minuten (ihre Bahn-Bestzeit von 2001 liegt bei 31:29,55). Jedenfalls spürt Irina Mikitenko den Verdacht. 17 Trainingskontrollen habe sie 2008 gehabt: "Das ist schon viel, manchmal viel zu viel." Sie nimmt es hin.
Ob die anderen dopen? "Darüber möchte ich gar nicht nachdenken. Ich möchte trainieren und besser sein."
Das Rennen in London wird schwer. Die Besetzung ist stark, und diesmal ist Irina Mikitenko die Favoritin. Sie sagt: "Letztes Jahr wollte ich einfach mitlaufen. Diesmal möchte ich nicht verlieren." Sie wird kämpfen müssen, aber das findet Irina Mikitenko in Ordnung.
Sie hat als Kind schon gekämpft.
Thomas Hahn, Süddeutsche Zeitung, Freitag, dem 24. April 2009