Man kann nicht behaupten, dass ein Läufer, der eine Stunde lang im Kreis rennt, so etwas wie eine Attraktion ist. Haile Gebreselassie aber ist ein Ereignis. Um nicht das gesamte Sportfest zu blockieren, hatte sein Manager Jos Hermens, der Veranstalter von Hengelo, den Rekordversuch auf drei Uhr nachmittags vorgezogen - und das Stadion war voll.
Haile Gebrselassie – Äthiopiens kleiner Kaiser – Michael Reinsch, Hengelo, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
03. Juni 2009 Bei den Weltmeisterschaften 1993 in Stuttgart gewann Haile Gebrselassie mit dem Titel über 10.000 Meter auch einen Mercedes. Ein Vierteljahr dauerte es, bis der Wagen in Addis Abeba eintraf. So lange glaubte der Vater des damals zwanzigjährigen Haile, sein Sohn verschwende seine Zeit beim Training und auf der Laufbahn. Erst als das silberfarbene Auto vor seiner Hütte stand, realisierte der Senior, dass sein Sohn einem einträglichen Broterwerb nachging.
Am Pfingstmontag bewies Haile Gebreselassie in dem niederländischen Städtchen Hengelo, dass er in den 16 Jahren seitdem viel mehr gewonnen hat als fünf weitere Goldmedaillen, zwei davon bei den Olympischen Spielen von Atlanta und Sydney. Andere Athleten bekommen Applaus, manchmal Jubel für ihre Erfolge, wie die Äthiopierin Gelete Burka für ihren Sieg über 1500 Meter in 3:58 Minuten.
Anderen schlägt Mitgefühl, fast schon Mitleid entgegen, wie Kenenisa Bekele, Olympiasieger über 5000 und 10.000 Meter, als er in Hengelo seine Rückkehr nach fast einem halben Jahr Verletzungspause nach zweieinhalb Runden des 1500-Meter-Rennens abbrach. Doch was Haile Gebrselassie entfachte, als er seinen Stundenweltrekord von 21.285 Metern angriff und dabei auch seinen Rekord für zwanzig Kilometer (56:26 Minuten) zu unterbieten versuchte, war buchstäblich ein Sturm der Begeisterung.
Er genießt es, einfach zu laufen
Man kann nicht behaupten, dass ein Läufer, der eine Stunde lang im Kreis rennt, so etwas wie eine Attraktion ist. Haile Gebreselassie aber ist ein Ereignis. Um nicht das gesamte Sportfest zu blockieren, hatte sein Manager Jos Hermens, der Veranstalter von Hengelo, den Rekordversuch auf drei Uhr nachmittags vorgezogen – und das Stadion war voll.
Das Erscheinen von Gebrselassie wurde bejubelt, er wurde angefeuert, und als nach einer halben Stunde ein Gewitter losbrach mit Regenguss und Sturm, da verdarb das zwar den Rekordversuch. Doch niemandem verhagelte es die Stimmung; am wenigsten Gebrselassie selbst. Mit einem furiosen Endspurt, der eines olympischen Finales würdig gewesen wäre, brachte es der erfolgreichste Läufer der Welt auf 20.822 Meter. Dann bedankte er sich beim Publikum: „Danke. Ich liebe euch!“
Er scheint jede Runde auszukosten
26 Weltrekorde hat Gebrselassie aufgestellt, ist zweimal Olympiasieger geworden und hat vier Weltmeistertitel gewonnen – und doch ist es viel mehr, was ihn auszeichnet. Er, der aus bitterster Armut aufgestiegen ist, scheint sich über jede Runde zu freuen, die er rennen darf, jeden Kilometer auszukosten, den er hinter sich bringt. Das nur 1,64 Meter große Leichtgewicht lässt daran zweifeln, dass Lauf und Training Mühsal sind. Ob er nach dem Lauf von Hengelo Schmerzen haben werde, er habe doch seinen Laufstil von der Bahn auf den Asphalt der Straßen umgestellt, wurde Gebrselassie gefragt. „Ich hoffe doch“, antwortete er und zeigte sein Breitwand-Lächeln. „No pain, no gain.“
Längst hat der kleine Kaiser Haile aus seinen Millioneneinnahmen durch Preise, Prämien und Adidas-Kontrakt ein Wirtschaftsimperium in Äthiopien aufgebaut. Hotels, Schulen, Kinos, Import und Export – der Mann ist auf vielen Feldern aktiv. Auch dieses Geschäft betreibt er, ohne zu klagen. Weil der Regen ausgeblieben ist und die Stauseen leer sind, bleiben die Turbinen zur Stromerzeugung stehen. Dann ist Addis Abeba ohne Energie, und der normale Ablauf wird alle zwei Tage gestoppt. Die Baustellen stehen still, die Bürocomputer bleiben aus. Gebrselassie sagt seinen Leuten, sie sollen an diesen Tagen zu Hause bleiben. „Natürlich bezahle ich sie weiter“, sagte er. „Das Gute daran ist, sie verdienen nicht so viel wie die Leute hier.“ Er hoffe, dass er das nicht länger als ein Jahr durchstehen müsse.
„Lasst es mich als Hobby betrachten“
Kategorien wie Sieg und Niederlage, Gewinn und Verlust scheint der kleine große Mann längst entwachsen zu sein. „Lasst es mich als Hobby betrachten“, sagte er über die Großzügigkeit seinen Angestellten gegenüber. „Das ist das Einzige, was ich für mein Volk und mein Land tun kann.“ Vom bewunderten Sportler hat Haile Gebrselassie längst den Schritt zu einem auf der ganzen Welt und in jedem Winkel Äthiopiens respektierten Repräsentanten seines Landes und seines Sports getan – der Franz Beckenbauer Abessiniens. Bei den Afrikameisterschaften in Addis Abeba im vergangenen Jahr feierte er die Ehrendoktorwürde, die ihm die Universtität Leeds verliehen hatte, indem er eine Runde mit dem Doktorhut auf dem Kopf lief.
Respektierter Repräsentant seines Landes: der Franz Beckenbauer Abessiniens
Respektierter Repräsentant seines Landes: der Franz Beckenbauer Abessiniens
Nicht wenige sprechen davon, dass er, der einzige Mensch, der bislang einen Marathon in weniger als 2:04 Stunden gelaufen ist (2:03:59), Nachfolger von Girma Woldegiorgis werden könnte – bekannter als der Präsident Äthiopiens ist er allemal. Doch noch hat Gebrselassie keine Zeit. Zwar mag er nicht mehr mit der Nationalmannschaft trainieren und sich sagen lassen, was er tun und lassen soll.
Stattdessen rennt er im Fitnessclub seines Bürohauses auf dem Laufband, wenn Strom da ist, oder in den Hügeln um Addis Abeba. In drei Jahren will er sich noch einmal ins Team ein- und den Trainern unterordnen. „Ich will 2012 in London Olympiasieger im Marathon werden“, sagte er in Hengelo.
Dann könnte es Zeit für einen neuen Wagen sein: ein Dienstfahrzeug vom Staat. 2013 ist Präsidentenwahl.
Michael Reinsch, Hengelo, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 3. Juni 2009