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20
06
2009

Ein Schrei wie aus einer Kehle setzte mit dem Startschuss ein. Da hatte sich schon jeder Cent der 200.000 Dollar bezahlt gemacht, die die Veranstalter von Ostrau – zusätzlich zu angemessener Anreise, Unterbringung und Unterhaltung – für den Auftritt des größten Helden und des größten Wunders der aktuellen Leichtathletik hingeblättert haben dürften.

Usain Bolt – Die Beatles könnten neidisch werden – Michael Reinsch, Ostrau, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

18. Juni 2009 Die Show war überwältigend. Als der schnellste Mann der Welt beim Sportfest „Goldene Spikes“ von Ostrau im Osten der Tschechischen Republik auf die Bahn trat, bejubelten ihn die Zuschauer wie einen Rockstar. „Und hier ist Usain…“, rief der Ansager, und das Publikum brüllte: „Bolt!“

Ein paar Tanzschritte und ein paar Gesten später hatte der lange Jamaikaner sein graues Sweatshirt ausgezogen, ließ im ärmellosen gelben Trikot ein wenig die Muskeln spielen und nahm fröhlich die Sympathiebekundungen entgegen. Er tänzelte, forderte das Publikum zu noch mehr Jubel auf, und bevor er sich schließlich in die Startposition faltete, ließ er seinen muskulösen Körper geschmeidig in die Pose des Bogenschützen gleiten, die er seit seinen drei Olympiasiegen und Weltrekorden von Peking zu seinem Markenzeichen gemacht hat.

 Um sechs Uhr abends, zweieinhalb Stunden vor Bolts Lauf, musste Veranstaltungsdirektor Jan Zelesny, der Speerwurf-Weltrekordler, die Tore des Mestsky-Stadions mit seinen 22.000 Plätzen schließen lassen. 25.000 Besucher waren gekommen, und der Zustrom ließ nicht nach.
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„Ich wollte eine richtig gute Zeit laufen“ – Einmal nur berühren: Usain Bolt wird wie ein Popstar verehrt
 
Fernsehen und Zeitungen hatten seit dem Wochenende ausgiebig von Ankunft, Training und einer Testfahrt des 22 Jahre alten Jamaikaners in einem BMW Z4 auf einem stillgelegten Flugplatz berichtet. Er sei nicht schneller als 240 gefahren, sagte Bolt lässig. Noch im April hatte er mit seinem M3 auf schnurgerader Straße auf Jamaika einen veritablen Überschlag fabriziert, als er mit Badeschlappen am Steuer saß. Unfallfrei am Ziel, staunte Bolt nun, dass er in knapp vier Sekunden von null auf hundert gewesen sei.

Ein bisschen länger brauchte er am Mittwochabend von null bis hundert, aber auch dieses Resultat ist schier unglaublich. Nach 9,77 Sekunden warf sich Bolt ins Ziel, als Erster mit Riesenvorsprung. Niemand anders als Bolt, sein Landsmann Asafa Powell und der Amerikaner Tyson Gay sind je so schnell gelaufen. Es wäre kein Wunder, wenn die 2,1 Meter Rückenwind, die verhindern, dass das Ergebnis in die Rekordlisten eingeht, vom Publikum produziert worden wären: Wie ein Mann schrien Groß und Klein, Jung und Alt während des gesamten Laufes.

Ehrenrunde im offenen Wagen durchs Stadion

 
Ungültig als Rekord, aber ganz und gar nicht wertlos ist diese Zeit. Als wollte er nach dem verregneten 150-Meter-Straßenlauf in Manchester und dem 10,0-Sekunden-Sprint in der Kälte von Toronto zeigen, was er wirklich kann, verharrte Bolt so lange im Startblock, dass alle Konkurrenten vor ihm auf die Beine kamen. Er holte sie nicht gerade mühelos, wie sich an seinem Gesicht ablesen ließ, aber doch schnell ein. Der Brite Craig Pickering wurde in 10,08 Sekunden Zweiter.

„Das war der zweitschlechteste Start, den ich je hatte“, behauptete Bolt. „Ich musste mich anstrengen, weil alle vor mir waren. Und ihr habt gesehen, wie ich mich ins Ziel geworfen habe, denn ich wollte eine richtig gute Zeit laufen.“ Bei einer Reaktionszeit von gut zwei Zehntelsekunden lässt sich famos spekulieren, wie viel man von den 9,77 Sekunden abziehen darf, um das aktuelle Potential von Bolt einzuschätzen. Nimmt man eine Zehntelsekunde, wie es die ganz Begeisterten tun, wäre er trotz Trainingsrückstands durch Empfänge, Auszeichnungen und Autounfall zwei Monate vor der Weltmeisterschaft in Berlin bereits in der Form, seinen Weltrekord von 9,69 Sekunden zu unterbieten.

Kreischende Teenager am Zaun

Selbstverständlich war die Arbeit nach 9,77 Sekunden noch nicht getan. Bolt lief eine Ehrenrunde, ließ sich ein zweites Mal im offenen Wagen durch das Rund chauffieren, gab Interviews, tanzte, wechselte in Zeitlupe sein Trikot und ließ sich mit einem kleinen Feuerwerk ehren. Dann endlich wandte er sich den kreischenden Teenagern zu, die sich ans Gitter der Zielkurve drängten. Wenn die Beatles je in Ostrau waren: Sie dürften nicht enthusiastischer empfangen worden sein.
Ein paar Tanzschritte später zeigte er seinen muskulösen Körper

Ein paar Tanzschritte später zeigte er seinen muskulösen Körper

So großartig der Leichtathletikabend in Ostrau war, dem Bolt die Krone aufsetzte – Hürden-Olympiasieger Dayron Robles aus Kuba lief 13,04 Sekunden, die Äthiopierin Meselech Melkamu gewann drei Tage nach dem zweitschnellsten 10.000-Meter-Rennen je die 5000 Meter in 14:34,17 Minuten, die Kroatin Blanka Vlasic scheiterte im Hochsprung nach 2,00 erst an 2,06 Meter – so enttäuscht waren die Veranstalter, dass die Diamond League sie nicht aufnimmt.

Am Dienstag erhielt Zelesny die Absage der neuen Welt-Liga der Leichtathletik. Am Donnerstag versprach er, dass sie in Ostrau nun die Schwächen des internationalen Kartells suchen und zum eigenen Vorteil ausnutzen müssten. „Wir haben die freie Wahl der Disziplinen, wir haben kein Limit bei den Preisgeldern“, sagte er. „Wenn Bolt nicht sieben Rennen in der Diamond League laufen will, weiß er, dass er hier sein Geld bekommt.“ Bolt hatte er, zumindest am Mittwochabend, auf seiner Seite. „Definitiv“, versprach dieser noch auf der Bahn. „Nächstes Jahr werde ich wieder hier sein.“

Michael Reinsch, Ostrau,  in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 18. Juni 2009 

author: GRR

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