Das 1.500-m-Finale verpasste er nur deshalb nicht, weil er über die Startzeit falsch informiert war und sich deshalb auf dem Weg zum Stadion entlang der verkehrsreichen Straße 40 Minuten lang warmlaufen konnte. In München 1972 erwarb er sich das olympische Gold über 3000 m Hindernis und Silber über 1.500 m.
Robert Hartmann – Kenia Tei II. Kip Keino – Kip ging wie auch hier immer seinen eigenen Weg. Uns sind nur zwei Athleten in der Weltspitze bekannt, die nie einen Trainer hatten. Harald Schmid, unser 400-m-Hürdenläufer aus Gelnhausen und eben Kip Keino
Im Gegensatz zu Mike fand Kip Keino, mein zweites Beispiel, erst spät zur Bildung. Mikes Vater hatte nicht viel mehr als seinen Namen schreiben können. Aber als er über die Überlegenheit der Briten nachdachte, erzählte der alte Mann mir einmal, hätte er gewusst, dass der Unterschied zwischen dem Oben in Großbritannien und dem Unten in Kenia allein an ihrer unterschiedlichen Wissen, der Bildung liegen musste.
Seine drei Frauen brachten 19 Kinder zur Welt, immerhin wurde er ein erfolgreicher Geschäftsmann, und er verdiente genug Geld, um alle seine Kinder zur Schule schicken zu können, auch die Mädchen. Damit war er der einziger Vater auf der Kilibwony-Ebene bei Eldoret mit ihren 400 Quadratkilometern, der dies tat. 18 der 19 bestanden den Schulabschluss, und sie erwarben damit die Hochschulreife.
Mit der Zeit von 1:43,57 Minuten lief Mike 1976 afrikanischen 800-m-Rekord, die damals zweitbeste Zeit der Welt. Jetzt organisiert er für seinen Familien-Clan Studienplätze in den USA. Am heutigen Tag studieren drüben genau 20 Enkel des alten Mannes. Wir haben sie erst neulich durchgezählt. Es ist gut möglich, dass dies ein kenianischer Rekord der eigenen Art ist.
Früher hatte er schon vier seiner Brüder in amerikanische Universitäten geschleust – er hatte allein die Flugtickets besorgen müssen -, mit dem unschlagbaren Argument: „Wenn sie etwas Gescheites lernen, werden sie mir später nicht auf der Tasche liegen. Genau so kam es.
Kip Keino selbst aber konnte sich erst nach langen Kämpfen gegen seinen Vater durchsetzen, damit er endlich eine Schule besuchen durfte. Da war er schon 12. Wenn jemand schlechte Voraussetzungen zur Bildung besaß, dann er. Kaum war er geboren, als sechstes Kind, starb seine Mutter im Kindbett. Vier Kinder starben früh, Er wuchs anfangs bei einem lieblosen Onkel auf.
Damals dachten die meisten alten Männer im Busch wie sein Vater: Dass nur die ungeschickten Kinder zu den verachteten Briten in deren Schule gingen. Söhne, die zu nichts Gescheitem zu gebrauchen waren.
Kip hatte jedenfalls auf die traditionelle Nandi-Art aufwachsen sollen. Er sollte Krieger werden, das Vieh verteidigen und bei den Beutezügen seinen Mann stehen. Dabei zog ein Trupp von bis zu hundert jungen Männern manchmal hundert Kilometer weit, um bei Nachbarn Vieh zu stehlen, mit dem sie ihren Brautpreis bezahlen konnten. Wer Pech hatte, wurde erschlagen.
Schließlich verboten die Briten diesen archaischen Brauch und ersetzten ihn durch die Wettkämpfe im Sport, besonders das Laufen.
Kip setzte sich schließlich mit seinem Wunsch nach Unterricht durch. Angespornt fühlte er sich auch, als er in seinem ersten Querfeldein-Rennen gegen viel ältere Schüler Vierter wurde und ein Stück Seife gewann. Er war für eine sportliche Leistung belohnt worden. Das wirkte in ihm nach. Doch als er in die sechste Klasse kam, musste er sie, die in eine Internatsschule umgewandelt wurde, schon wieder verlassen. Mit 16. Der Vater konnte die plötzlich viel höheren Gebühren nicht bezahlen.
Von da an musste Kip für sich selbst sorgen. Nach den Initiationsriten wurde er Mitglied der Nandi-Männer, baute seine eigene Hütte und er begann Gemüse, Zwiebeln und Karotten anzubauen. An einem Tag marschierte er 65 Kilometer zur nächsten Zugstation, nur um an einem noch weiter entfernten Ort irgendeine Arbeit zu finden. Vergebens. Kip verdingte sich bald auf einer Farm. Sein erstes ordentliches Geld verdiente er, als er zusammen mit zwei Freunden Brunnen und Latrinen aushob. Er hatte seine Karriere im wahrsten Sinne des Wortes unterirdisch begonnen.
Noch während seiner Schulzeit hatte er gemeinsam mit Freunden auf dem Land seines Vaters seine Rundbahn markiert, und die Jungen liefen, sprangen und warfen mit Speeren der Marke Eigenbau, sobald es ihnen die Zeit erlaubte. Das gefiel dem Vater jedenfalls besser als die Schulaktivitäten – trotz der Seife. Sein Sohn hatte gute Beine und eine starke Brust. Er würde einen guten Krieger abgeben.
Mit 16 nahm Kip an den Wettkämpfen der Erwachsenen teil. Er lief sogar Marathon und wurde Dritter. Doch weil er den Siegerpreis, einer Kuh, verpasste und nur eine Ziege gewann, war dies gleichzeitig auch sein letzter Marathon.
Bei Kip reifte der Wunsch heran, eine Uniform zu tragen, sich auszubilden, sich zu bilden. Doch wegen seiner Jugend wurde er bei seinen Bewerbungen mehrere Male abgewiesen. Als von 18 ausgewählten Rekruten einer fehlte, rückte er sofort nach, weil der Chef sich daran erinnerte, dass dieser jüngste aller Bewerber schon als guter Läufer galt. Der war für sportliche Wettkämpfe gut zu gebrauchen, die immer beliebter wurden.
Wie es sich in Kenia überall gehört, gab Kip einen Teil seines ersten Solds seinem Vater ab, und vom verbliebenen Rest kaufte er in Dankbarkeit eine Bibel. Nach dem ersten Lehrgang wurde er gleich mit einem so genannten „Stick“, einem besonderen Stock, ausgezeichnet. Er befand sich auf dem Weg nach oben. Unaufhaltsam. Bei der Polizei machte er schnell Karriere bis zum Chief-Inspector.
Parallel dazu kam er mit seiner Lauferei voran. Einmal nahm ihn sein Vater zur Seite und bat darum, unbedingt mit dem Laufen aufzuhören. Sein Argument: Die Neider könnten ihn verhexen. Kip verwies dagegen auf seinem Gott und hörte: „Ich hoffe, Dein christlicher Gott ist stärker als ‚Musamban’.“ Der böse Geist.
Kip ging wie auch hier immer seinen eigenen Weg. Uns sind nur zwei Athleten in der Weltspitze bekannt, die nie einen Trainer hatten. Harald Schmid, unser 400-m-Hürdenläufer aus Gelnhausen, der fünfmalige Europameister – und eben Kip Keino, der Kenianer.
Um eine brillante Sportkarriere kurz zu machen, nur soviel: Kip gewann ein denkwürdiges 1.500-m-Rennen bei den Olympischen Spielen in Mexico-City 1968 und daneben holte er Silber über 5.000 m, nachdem er bei seinem ersten Start in der Olympiawoche über 10.000 m mit heftigen Nierenschmerzen kurz vor Schluss aufgegeben hatte.
Das 1.500-m-Finale verpasste er nur deshalb nicht, weil er über die Startzeit falsch informiert war und sich deshalb auf dem Weg zum Stadion entlang der verkehrsreichen Straße 40 Minuten lang warmlaufen konnte. In München 1972 erwarb er sich das olympische Gold über 3000 m Hindernis und Silber über 1.500 m.
Damals hatte ich ihn im Sommer 1971 vor den vorolympischen Spielen kennen gelernt, wie er als Gast einer afrikanischen Läufergruppe das noch nicht fertig gestellte Olympiastadion besichtigen durfte und dabei zwei kleine Steine von der Bahn aufnahm und in die Tasche steckte. Danach befragt, schwieg er sich aus und klärte mich erst ein paar Jahre später darüber auf: „Ich wollte zwei Goldmedaillen gewinnen. Deshalb trug ich sie während meiner Trainingsläufe immer bei mir, sodass sie mich bei jedem Schritt an mein Vorhaben erinnerten. Das kleine Einmaleins der praktischen Psychologie
Als sich eine neue amerikanische Profigruppe etablierte, erhielt Kip für einen Jahres-Vertrag die unvorstellbare Summe von 20.000 Dollar, und er verließ die schweren Herzens die Polizei, kaufte in Eldoret ein Sportgeschäft, wurde eine Zeitlang Teilhaber an einer Überlandtaxi-Unternehmen und kaufte sich Land für eine eigene Farm, die Kazi-Mingi-Farm, auf der er noch heute lebt. Es zeigte sich seitdem, dass er ein überdurchschnittlicher Geschäftsmann war.
Mit zwei Frauen zeugte er elf Kinder, mit seiner zweiten Frau gründete er eine Kinder-Farm für Waisen, in der insgesamt über 100 Kinder erzogen wurden. Bis heute gingen daraus Anwälte, Ärzte, Lehrer, Handwerker hervor.
Kip hatte viel zu tun, und plötzlich ergab sich nach einem Vierteljahrhundert die Gelegenheit, als Sportfunktionär zu seinem alten Hobby zurückzukehren.
Charles Mukora, der damalige Cola-Cola-Boss von Kenia, war nämlich im Jahr 2000 aus dem IOC unehrenhaft entlassen worden, weil er Bestechungsgelder in Höhe von 50.000 Dollar angenommen hatte, und der danach entstehende Stillstand, der eine unverhofft korruptionslose Zeit war, spülte Kip nach oben. Als Sportlegende Kenias und Afrikas besaß er für diese Aufgabe plötzlich die besten Vorsaussetzungen für das Amt.
Die Spruchweisheit erfüllte sich: Alles kommt zu dem, der warten kann. Nie war er gierig gewesen, nie hatte er es sich etwas kosten lassen, diese hohe, um hohe im Sport hohe Position zu erhalten.
Als wir uns in Sydney einen Tag nach seiner Wahl ins IOC trafen, sagte er: „Du weißt doch, wo ich herkomme. Mir zitterten wirklich die Knie.“ Er erhielt die meisten Stimmen der neuen Mitglieder.
Robert Hartmann – morgen lesen Sie den Teil III – Kenia