Blog
05
07
2009

Er stellte nämlich sechs Weltrekorde in der kürzest möglichen Zeitspanne auf, genau in der Zeit zwischen 15:15 und 16:00 Uhr.

Jesse Owens – von Robert Hartmann – „Die unerzählte Geschichte von Jesse Owens’und Hitlers Olympischen Spielen“. Unerzählt? – Jesse Owens, Luz Long und die „24-Karat-Freundschaft“

By GRR 0

Schon der Buchtitel verblüffte. Denn er hieß „Die unerzählte Geschichte von Jesse Owens’und Hitlers Olympischen Spielen“. Unerzählt? Das Thema reichte zurück in die Mitte der dreißiger Jahre, es war also wahrlich kein unbekanntes Gebiet, in dem das oberste nach unten gewendet werden musste.

Im Mittelpunkt stand ja Jesse Owens, der bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 Sprint und Sprung beherrschte und mit dem Gewinn seiner vier Goldmedaillen der herausragende Athlet war.

Der US-amerikanische Fernsehkommentator Jeremy Schaap ist der Autor der erst kürzlich erschienen Auflage, und es sei ihm erlaubt, das übliche Ballyhoo zur Verkaufsförderung zu besorgen. Es ist nicht so, dass er neue Inhalte erzählte. Wie auch? Er hat allenfalls einige vergessen. Es stimmt eher, dass es ihm besonders auf ein paar wichtige politische Schlussfolgerungen ankam, die sich aus dem damaligen Rassengegensatz ergaben. Ein Schwarzer triumphiert, und die Herrenrasse der Arier ist Trugbild.

Den ersten Schwerpunkt des Buchs bildet die kurzweilige Schilderung vom „Tag der Tage“. Diese Hervorhebung erhielt der 25. Mai des Jahres 1935, als das bis hierher lediglich hoffnungsvolle Talent Jesse Owens innerhalb von nur 45 Minuten den großartigsten Fischzug in der internationalen Leichtathletik-Geschichte vollendete: Er stellte nämlich sechs Weltrekorde in der kürzest möglichen Zeitspanne auf, genau in der Zeit zwischen 15:15 und 16:00 Uhr.

Einverstanden, in Wahrheit waren es nur drei gesteigerte Rekorde, aber wir befinden uns hier im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wo Übertreibungen immer schon gleich um die nächste Ecke liegen. Eigentlich gehörten nämlich die Laufstrecken 220 Yards/200 m zusammen, und Owens erledigte sie auch praktischerweise in einem Aufwasch. Zwischen den Zielen lagen ja gerade einmal nur 1,17 m.

Ort der Handlung war das unauffällige Städtchen Ann Arbor, in dem die Universität von Michigan liegt mit seinem Sportplatz am Ferry Field. Mithin an der Fähre. Anlass waren die Regionalmeisterschaften dortselbst. Die „Big Ten“ in der Leichtathletik. Wir erfahren gleich die Neuigkeit, dass Owens schon beim Aufwärmen so sehr unter Rückenschmerzen litt, dass ihm sein Trainer Larry Snyder sogar vom Start abriet. Das Ereignis besaß durchaus einen geringeren Stellenwert als etwa die nationalen Studenten-Meisterschaften.

Owens zählte erst 21, und tatsächlich war er schon ein früher Vater. Aber dies nur nebenbei. Seine körperliche Pein war plötzlich wieder verschwunden, nachdem er hinter der Startlinie die damals üblichen Startlöcher mit Hilfe eines Schippchens gegraben hatte. Die Geschichte begann also mit einer kleinen Wunderheilung. Schaap schrieb dazu, dass Owens die Gabe besaß, sich im Wettkampf vollkommen auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Immerhin rund 5.000 Zuschauer hatten die angehende Sport-Sensation in Aktion sehen wollen. Die Leichtathletik, klärte Schaap seine Leser auf, vermochte sich vor siebzig Jahren in der Publikumsgunst noch durchaus mit den Football- und Baseballspielern sowie den Boxern zu messen.

Obwohl er nach dem Start wie erwartet nur mühsam in die Gänge kam, stellte Owens im ersten Wettbewerb, dem Sprint über 100 Yards, mit der Zeit von 9,4 Sekunden den Weltrekord schon ein. Von den drei benötigten Zeitnehmern hatten zwei zwar die Ziffer 9,3 von ihren Stoppuhren abgelesen, doch die eine 9,4 zählte schließlich entsprechend dem Regelwerk. Erst 1976 wurden diese „imperialen“ Distanzen, wie die Yards-Wettbewerbe auch noch hießen, abgeschafft. Allein die englische Meile (1.609,34 m) überdauerte das Streichorchester. 100 Yards maßen 91,44 m. Es war um 15:15 Uhr, als Owens sein bemerkenswertes Tagwerk begann.

Nach fünf Regentagen hatte der Himmel über Michigan rechtzeitig wieder das ersehnte Blau geflaggt. Er wollte nicht prahlen, sagte  Owens nach dem Rennen, aber er sei ein bisschen enttäuscht. Während der nächsten Minuten blieben jedoch keine weiteren Wünsche mehr offen. Also ging er hinüber zu der eigens ausgehobenen Weitsprunggrube, zu seiner zweiten Station, und mit seinem einzigen Versuch löschte er den Weltrekord des Japaners Chuhei Nambu von 7,98 m aus und eröffnete mit seinen 8,13 m eine neue Ära, die 25 Jahre lang Bestand halten sollte.

Die Uhr zeigte 15:25 Uhr. Über 220 Yards (201,17 m) und 200 m steigerte er sich auf der kuriosen Geradeausstrecke auf 20,3 Sekunden, wodurch die alte Marke gleich um vier Zehntel verbessert war. Die Uhr wies die Zeit von 15:45 Uhr aus. Den krönenden Abschluss bildeten pünktlich um 16:00 Uhr die 22,6 Sekunden über 200 m/ 220 Yards Hürden. Die früheren Bestmarken wurden um drei und vier Zehntelsekunden pulverisiert.

Später erinnerte sich Owens an jenen Nachmittag als den mentalen und körperlichen Durchbruch seiner Karriere. An diesem Tag wurde er ein Star. Eine Weltsensation. Der Schmerz war pünktlich gegangen, und er hatte eine psychologische Hürde genommen. Er maß 1,78 m und sein Körper war perfekt. Die Sportjournalisten verglichen seine Geschmeidigkeit mit einer großen Katze. Bald wurde er in den Zeitungen und Magazinen die „Buckeye-Kugel“ genannt, und es war schnell klar, dass er für Frauen genauso für die Männer als neues Schönheitsideal galt. Irgendwo lasen wir, dass er wie auf einer heißen Herdplatte rannte. Mit sehr kurzen Bodenberührungen.

Zwei weiße Männer besaßen sein Vertrauen, der Universitätstrainer Larry Snyder und sein zerbrechlich aussehender Entdecker, der kleine Ire Charles Riley. Der war in seinem berühmten Ford T die über dreihundert Kilometer von Cleveland nach Ann Arbor gefahren. Er war immer wie ein Vater für ihn gewesen. Die beiden ergänzten sich in ihrer „Farbenblindheit“. Unter gesellschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten waren für sie alle Menschen gleich. Jeder besaß eine Würde, egal ob schwarz oder weiß.

Riley wusste noch besser als Owens, dass nach der goldenen Stunde für den jungen Himmelsstürmer nichts mehr so sein würde, wie es vorher war. Das teilte er ihm auf ihrer gemeinsamen Nachhausefahrt dann in allen Einzelheiten mit.

Und ihr Ausblick während ihrer Abendeuphorie wurde bald so kühl, dass er mühelos bis zum nächsten Ziel hinausreichte, zu den Olympischen Spielen im faschistischen Berlin im Jahr 1936. „Was zählt“, teilte er seinem jungen Zuhörer voller Ernst mit, „ist Olympia. Du repräsentierst dein Land. Rekorde werden gebrochen“, sagte er, „aber niemand kann dir die goldenen Medaillen wegnehmen.“ „Ich weiß“, antwortete Owens, „die Spiele! Ich werde bereit sein.“

Der Tag der Tage sollte sich beim nachträglichen Betrachten seiner sportlichen Karriere als ein Präludium erweisen, ein selbständiges Vorspiel.

Noch konnte er sich all die Hindernisse gar nicht vorstellen, die sich ihm bald in den Weg stellten. Er war in die ländliche Armut von Alabama hineingeboren worden, genau so wie der gleichaltrige Boxer Joe Louis, dessen spätere Kämpfe gegen den Deutschen Max Schmeling ihn auch in Deutschland populär machten. Beide waren aus dem amerikanischen Süden mit seinen erzkonservativen Farmern und den sklavenähnlichen Strukturen in den industrialisierten Nordwesten gezogen.

Schon im Frühjahr 1935 hatte sich die Möglichkeit eines olympischen Boykotts erstmals abgezeichnet. Als Wortführer trat Jeremiah T. Mahoney auf, der Präsident der Amateur Athletic Union, AAU, des Leichtathletik-Dachverbandes in den Vereinigten Staaten.

Er pochte auf sein reines Gewissen, als er mit Hilfe des olympischen Verzichts dringend auf den Faschismus und das Heidentum  in Deutschland aufmerksam machen wollte. Massiven Gegenwind erhielt er aber postwendend sogar von schwarzen Intellektuellen, die damit argumentierten, ein Boykott besäße einen heuchlerischen Beigeschmack. Denn die amerikanischen Schwarzen würden in vielen Teilen der USA nicht viel besser behandelt als die Juden in Deutschland.

Im Juli 1935 leitende Avery Brundage eine verblüffende Wende in der hitzigen Diskussion ein, als er mit durchtriebener Schläue ausgerechnet Adolf Hitler und seine Regierung für ihre Anstrengungen dafür lobte, die Olympischen Spiele für die deutschen Juden offen zu halten.

Er tat dies in seiner Eigenschaft als Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der USA. Im gleichen Atemzug gab er zu bedenken: „Die Tatsache, dass Juden bisher nicht an Olympischen Spielen teilnahmen, würde nicht automatisch bedeuten, dass sie deswegen auch diskriminiert wurden.“ Danach machte er eine angeblich unwiderlegbare Rechnung auf: „Ich zweifle, dass in den vierzig Jahren der olympischen Geschichte die Juden ein Prozent der Teilnehmer erreichten.“ Tatsächlich glaubte er, dass schon ein halbes Prozent ein hoher Prozentsatz wäre.

Das Dritte Reich nahm Brundages Erklärung begeistert auf. Sieben Wochen später, am 15. September 1935, verkündete Hitler die Nürnberger Gesetze.

Darin verloren die Juden ihre Bürgerrechte, ihnen wurden der Rechte auf Landerwerb entzogen, sie durften nicht mehr Arier heiraten, und es war ihnen untersagt, arische Frauen als Haushaltshilfen einzustellen. Zu dieser Zeit, das stellte auch Schaap fest, waren die Vereinigten Staaten ebenfalls weit davon entfernt, ein festes Bollwerk der gesellschaftlichen Gleichheit zu sein. Während aber die Rasse-Beziehungen in den USA sich wenigstens bessern würden, marschierte seiner Meinung nach Deutschland genau in die genau entgegen gesetzte Richtung. Nach nur 23 Monaten an der Macht hatten die Nazis die Uhr für die Juden ins Mittelalter zurückgestellt. Hitler hatte beschlossen, aus den Olympischen Spielen ein spektakuläres Glanzstück für sein Regime zu machen. Dabei hielt er mit seiner vertrackten Logik es für nötig, die Juden auszuschließen.

Owens war inzwischen der amerikanische Athlet mit den glänzendsten olympischen Aussichten, und in einem Radio-Interview, das im November 1935 gesendet wurde, meinte er reinen Herzens: „Wenn es in Deutschland eine Diskriminierung gegen irgendwelche Minderheiten gibt, dann müssen wir uns von den Spielen zurückziehen.“

Als Larry Snyder der Inhalt des Gesprächs zugetragen wurde, hörte er sofort alle Alarmglocken läuten. Sein Jesse müsste offensichtlich vor sich selbst beschützt werden.

Er hatte wohl seinen Verstand verloren und sagte ihm, dass ein Boykott witzlos sei. Deutschland, musste sich der arglose Owens anhören, sei lediglich der Gastgeber der Spiele. Das wäre etwas vollkommen anderes als die regierende Institution selbst. Das Internationale Olympische Komitee. Außerdem sei es schon zu spät, den Austragungsort zu ändern. Sein Schützling müsste sich schon nach Berlin verfügen, wollte er seinen olympischen Traum verwirklichen. Andernfalls würde er ein „vergessener Mann“. Snyder erinnerte Owens außerdem daran, dass er auch nicht zum Sugar-Bowl-Leichtathletik-Sportfest in New Orleans eingeladen worden war, doch nur, weil er schwarz war. Und er fragte: „Warum sollten wir gegen Deutschland vorgehen für etwas, was wir genauso bei uns daheim erleben?“

Snyder bestand bei ihrem Gespräch auf seiner Meinung, dass der Boykott sowieso nicht stattfinden würde.

Schließlich schwenkte Owens endlich auf seine Linie ein und sagte ihn, dass er sein Leben lang darum gekämpft hätte, der amerikanischen Lesart des Hitlerismus davon zu laufen. Das war ein böses Wort. Er widerrief sich: „Alles was ich will, ist zu laufen.“ Diese Aussage deckte sich mit Owens’ Handlung, zusammen mit anderen schwarzen Sportlern einen Brief pro Olympiateilnahme an die AAU zu schicken. Im Dezember 1935 war die unbehagliche Kontroverse endgültig vom Tisch. Berlin würde Owens empfangen.

Und Brundage hatte ihm einen Freibrief ausgestellt, womit er sich auf der offiziellen Linie der Sportfunktionäre befand. Die war zwar gegen Owens inneren Überzeugungen gerichtet. Unrecht blieb Unrecht, sei es an den deutschen Juden oder an den amerikanischen Schwarzen. Aber am besten war es jetzt, an diesen wunden Punkten nicht zu rühren.

Spektakel wurden im neuen Deutschland der Befehl des Tages. Nur wenige Vorgänge konnten an die Olympischen Spiele heranreichen.

Mit ihren entzückten Massen, den im Gleichschritt marschierenden Mannschaften, den Uniformen, Flaggen, Hymnen, Medaillen und der albern-religiösen Rhetorik. Für Hitler wurde eine  faschistische Fantasie wahr. Er konnte die neue Hauptstadt vorzeigen und hatte den Schmutz, den Verfall und die Dekadenz Weimars durch große Boulevards und Marmorpaläste ersetzt. Die Armut war den Blicken der Öffentlichkeit entschwunden. Die meisten Berliner waren heiter und schwammen auf einer Welle wirtschaftlicher und patriotischer Erneuerung, sofern sie nicht den besonderen gelben „Juden“-Bänken in weit entfernten Ecken öffentlicher Parks übergeben wurden.

Die Olympiade war ein bedeutender Augenblick für Hitler und Deutschland, weil für zwei Wochen im Februar in den Alpen, dem Schauplatz der olympischen Winterspiele, und dann für zwei Wochen im preußischen Sommer die Augen der Welt auf sie gerichtet waren.

Die Spiele aber wären für die Nazis nutzlos und provinziell gewesen, wenn die amerikanischen Athleten ihnen ferngeblieben wären. Sie waren die besten der Welt. Ihre Abwesenheit hätte die Spiele zu einer Farce degradiert. Bei seiner erst elften Austragung der Spiele im Jahr 1936 war die Idee noch nicht sehr fest verankert.

Jesse Owens näherte sich mit der Gemächlichkeit einer Schiffsreise dem alten Europa und dem faschistischen Deutschland und dem Ereignis der Olympischen Spiele. Am 24. Juni 1936 ging er in Bremerhaven mit der amerikanischen Mannschaft vom Deck der „SS Manhattan“.

Nach dem Empfang durch den Bürgermeister und die Hitler-Jugend in Berlin wurden die Sportler zum Olympischen Dorf gefahren, wo ein utopisches Paradies auf sie wartete. In seinem Tagebuch staunte er wortreich über das angebotene Tischlein-Deck-Dich, über die Steaks, den Schinken, die Eier, den Speck, die Früchte, die Säfte. Der Überfluss schmeichelte besonders die Nachfahren früherer Sklaven, deren einzige ernsthafte Bedrohung während jener Tage das Übermaß und das drohende Übergewicht waren.

Am ersten Tag der Spiele füllten sich die Ränge, das neue Stadion fasste bis zu 110.000 Zuschauer, und um vier Uhr am Nachmittag gaben sie ihrem Führer Adolf Hitler einen triumphalen Empfang.

Seine Popularität erreichte einen neuen Höhepunkt, als er durch das Westportal schritt. Er sah schnittig aus in seiner braunen Uniform, eine glänzende Schirmmütze schützte sein Gesicht vor der hochsommerlichen Sonne, die Hände steckten in gleichfarbigen Lederhandschuhen, obwohl es unangenehm schwül war. An einer schwarzen Binde am linken Arm prangte ein germanisches Hakenkreuz, das als Abzeichen auf der Höhe der linken Brust wiederkehrte. Das Volk sollte ihn nicht anders als erhaben wahrnehmen, wie er mit seiner Entourage über den Platz geradewegs zu seiner Führerloge auf der Ehrentribüne schritt, die er während der Wettkämpfe nicht mehr verließ. Endlich war die Rede an ihm, die Spiele zu eröffnen.

Owens war für drei Wettbewerbe gemeldet, die 100 m, 200 m und den Weitsprung, und während er in den Sprints allein seine Landsleute als Gegner ein wenig beachten musste, war er besonders neugierig auf einen Gegner im Weitsprung.

Er hieß Carl Ludwig „Luz“ Long. Sogar Hitler soll seinen Namen als aussichtsreich erwähnt haben, als den Besten der alten Welt, den Europarekordler. Die 100 m hatte Owens in der Zeit von 10,3 Sekunden sicher gewonnen, und am nächsten Tag standen am Vormittag gleichzeitig zwei Wettbewerbe an, 10:30 Uhr die Weitsprung-Qualifikation und um 10:45 Uhr der 200-m-Vorlauf.

Aus der Entfernung beäugten Owens und Snyder diesen Long, und sie sahen sich bestätigt in der äußeren Beschreibung dieses Athleten, von dem alle sagten, er gäbe das perfekte Modell des Ariers ab, des sogenannten Herrenmenschen, wie Hitler und seine Clique ihn als ihr germanisches Ideal beschrieben.

Er war 1,90 m groß, blond, hatte blaue Augen und besaß eine Figur wie geschnitzt.

Owens konnte sich nicht dagegen wehren, ihn aus den Augenwinkeln zu beobachten, da war eine bestimmte Aura, die ihn umgab und als gefährlichen Gegner erkennen ließ. „Er sieht wirklich wie ein Nazi aus“, sagte Snyder und staunte. „Er sieht auch aus wie einer, der in ziemlich guter Form ist“, antwortete Owens. Normalerweise machte er sich keine Gedanken über seine Gegner.

Aber von Long soll irgendetwas Zwingendes ausgegangen sein. Etwas unbestimmt Bedrohendes.

Owens machte sich Gedanken darüber, dass Long nicht diese lange Schiffsreise hinter sich hatte, während der er nicht richtig trainieren konnte, dass er vertrautes Essen aß und vor seinem eigenen Publikum kämpfen konnte. Bis zu welchem Ausmaß würden sich die Vorteile schließlich auswachsen? Er wusste es nicht. Ihm kam in den Sinn, ihn als seinen Erzrivalen zu betrachten.

Doch er merkte in Wahrheit, dass von dem Deutschen nichts Einschüchterndes ausging. Allerdings war er selbstbewusst genug, und deshalb fühlte Owens sich nicht gerade komfortabel in seiner Haut. An die gewaltige Zahl von 90.000 Zuschauern schon am Vormittag hatte er sich schnell schon gewöhnt.

Die Deutschen liebten ihn, und sie zeigten es.

Die Weite für die Qualifikation betrug 7,15 m. Ein kleiner Hüpfer. Lächerlich. „Kein Problem“, sagte Snyder. Er hatte seinen nettesten Ton aufgelegt, aber innerlich zitterte er. „Glatt und leicht“, rief er. „Und denk’ daran, nicht zu übertreiben!“ Die Antwort kam prompt. „Ich werd’ mich nicht überanstrengen.“ And die Reihe bald an ihn kommen sollte, er steckte noch im Trainingsanzug, lief er gelöst den Anlauf hinunter, er wollte seine Schritte fühlen und seine Form, und dann sprang er in den Sand.

Aber als er das Rechteck wieder verließ, hob der deutsche Kampfrichter unbeteiligt die rote Fahne. Das Signal für ungültig. „Wie?“ rief Owens, „was soll das heißen?“ Er regte sich furchtbar auf. In gebrochenem Englisch wurde er gleich aufgeklärt. Ein Probesprung wäre nicht zugelassen, verstand er. Was allen Teilnehmern vorher auch bekannt gegeben worden war.

Owens merkte, dass die Menge den erfolgreichen Long zu feiern begann. Das war der Augenblick, da er seine Nerven verlor. Das war albern, aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Sein zweiter Sprung geriet dann viel zu kurz, etwas über sieben Meter.

Gegenüber dem Leichtathletik-Historiker Ekkehard zur Megede aus Berlin sagte er fast drei Jahrzehnte später: „Da kam mein schärfster Rivale Luz Long zu mir, redete auf mich ein, beruhigte mich und gab mir manchen guten Ratschlag. Daraus schöpfte ich die Kraft, im dritten Versuch die verlangten 7,15 m  zu überspringen.“ So steht es also in der Geschichte der olympischen Leichtathletik, Band 1. „Die Situation“, schrieb Arthur Daley in The New York Times als Augenzeuge, „wurde alarmierend“.

Owens konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Versagensängste peinigten ihn. „Deswegen bin ich nicht hierher gekommen. Ich mache mich zum Idioten. Ich, der größte Weitspringer aller Zeiten!“

Plötzlich fühlte er einen Handschlag an seiner Schulter. „Was machst du denn da, Jazzee Owenz?“ fragte der Fremde in seinem dicken deutschen Akzent. Er trug ein weißes T-Shirt mit einem Adler auf der Brust. „Ich bin Luz Long“, stellte er sich vor. „Ich glaube, ich weiß, was du falsch machst.“

„Hallo Luz.“ Es klang komisch,  aber der Amerikaner war jetzt auf einmal die Ruhe selbst. Long fuhr fort: „Du weißt, du sollest dich eigentlich mit geschlossenen Augen qualifizieren. Warum ziehst du nicht eine Linie ein paar Inches vor dem Brett? Dann trittst du garantiert nicht über und bestimmt springst du weit genug.“

Owens spürte, dass sein Gehirn in dieser Sekunde das logische Denken sofort wieder auf. Die Folklore fabulierte später über diesen dramatischen Moment, Long hätte das T-Shirt seines Konkurrenten als sichtbares Zeichen auf die Aschenbahn gelegt. Allerdings meldete sich dafür später kein Augenzeuge. Es wird wohl so gewesen sein, dass allein schon der simple Rat die Lage zu entspannen vermochte.

Der Wettkampf am Nachmittag besaß die ganze knisternde Spannung, die von einem olympischen Finale ausgehen konnte. Schon im dritten Durchgang des Vorkampfs stellte Long mit 7,84 m einen neuen Europarekord auf, aber als er bei seinem fünften Anlauf sogar auf 7,87 m flog, war die Hölle los. Jetzt lag er nämlich gleichauf mit Owens, und obwohl niemand in dem Hexenkessel sein eigenes Wort nicht mehr verstand, schlenderte sein stärkster Gegner hinüber zu ihm, um zu gratulieren.

Er lächelte entspannt, stellte sich sodann selbst an die Ablaufmarke, sprintete schneller als jeder andere, traf den Balken und holte sich die Führung wieder zurück, mit 7,94 m. Long seinerseits trat über, und sein neuer schwarzer Freund spendete dem auch ihm freundlich gesinnten Publikum zum guten Schluss die umjubelte Siegerweite von 8,06 m.

Im Olympiaalbum von Berlin 1936, das vom Cigaretten-Bilderdienst Hamburg-Bahrenfeld herausgegeben wurde,  ist ein Bild zu sehen, das der Sammler einkleben konnte, auf dem Owens und Long während des Wettkampfs entspannt lächelnd auf einer Decke liegen und in die Kamera schauen.

Eine andere Quelle berichtete, dass nach dem Wettkampf der Deutsche den Arm seines Bezwingers in die Luft reckte und die Leute zum Sprechchor „Jesse!“ „Jesse!“ aufforderte.

Übrigens hatte der erwähnte Bilderdienst nicht weniger als sieben Owens-Bilder in sein Buch gerückt. Man konnte darüber spekulieren, ob Hitler dieses unübersehbare herzliche Einvernehmen wahrnahm. Richtig ist, dass er es schwerlich übersehen konnte. Später gratulierte er Long in seinem privaten Raum im Stadion-Inneren zur Silbermedaille – nachdem sie Arm in Arm zur Umkleidekabine gegangen waren.

Black and White. Owens schrieb später: „Hitler muss verrückt geworden sein, als er unsere Umarmung sah.“

Das amerikanische Pressecorps wollte wissen, wie Hitler auf das herzliche Einvernehmen von Owens und Long reagieren würde. Die Frage war, ob er den Schwarzen ungnädig behandelte oder mit Nichtachtung bestrafen wollte? Viele Zeitungen berichteten, er habe dem gewiss unerwünschten Sieger nicht offiziell gratuliert. Doch Owens hatte eine eigene Meinung. „Ich hatte gar nicht darauf geachtet“, teilte er dem Journalisten Grandland Rice mit, und versöhnlich sagte er: „Irgendwie winkte er in meine Richtung, als er das Stadion verließ und ich fühlte, seine Geste würde mir gelten“. Vielleicht überstrahlte einfach nur die Erleichterung über den guten Ausgang des Wettkampfs seine Laune.

Mit der dritten Goldmedaille, der im 200-Lauf (20,7 Sekunden), hätte Owens’ olympischer Auftritt enden sollen. Eigentlich. Aber in letzter Minute wurde er als Startläufer in die Viermal-100-m-Staffel berufen. Allerdings behauptete Marty Clickman, den er als Startläufer ersetzte, dass er ausdrücklich aus politischen Gründen ausgebootet wurde. Er und auch sein Kollege Sam Stoller. Und zwar aus dem einzigen Grund, weil nur sie die Juden im Leichtathletik-Team waren.

Mehr noch, der Verursacher des plötzlichen Austauschs war NOK-Präsident Avery Brundage. Sein Ziel wäre es gewesen, dass er mit dieser Umstellung nichts anderes als die Nazis hätte besänftigen wollen. Sein Argument: Die murrenden Nazis und Hitler hätten mit dem Auftreten der Afroamerikaner schon wahrlich genug Demütigungen schlucken müssen. Das Schlimmste, den olympischen Staffelsieg zweier Juden, wollte er ihnen ersparen. 

Der amerikanische 400-m-Oympiasieger Archie Williams erinnerte sich viel später in einem Interview genau an diese Situation, weil sie unter ihnen im Olympischen Dorf das Gesprächsthema in der amerikanischen Leichtathletik-Mannschaft war.

„Es war politisch“, sagte er. „Mehr als alles andere. Es gab viel Gerede, dass sie nicht laufen durften, weil es Hitler verärgert hätte.“ Es wurde darüber spekuliert, dass der Grund mit ihrem jüdischen Bekenntnis zu tun hatte. Für Glickman selbst war seine und Stollers Rückversetzung jedenfalls ein ganz klarer Fall von Antisemitismus. Für ihn war Brundage ein begeisterer Anhänger von Hitlers Regime und er hätte sogar die Reporterfrage verneint, dass Hitler antisemitische Politik betrieb.

Clickman und Owens wurden ihr weiteres Leben lang gute Freunde, und der Jude wies immer wieder darauf hin, dass sein schwarzer Kollege sich ausdrücklich für seinen Staffelstart eingesetzt hätte. Die ursprüngliche Absicht wäre gewesen, dass auch die anderen Teammitglieder zu ihrem Olympiastart kommen sollten, eine Haltung, die Williams jedenfalls für die amerikanische Viermal-400-m-Staffel bestätigte.

Über Owens fand er nur lobende Worte: „Er war so ein Bursche, wie du gern auch einer sein wolltest.“

Nach Williams’ und Glickmans Schilderungen bestanden nur noch geringe Zweifel daran, dass Owens seine Einzigartigkeit mit dem Gewinn von den vier olympischen Goldmedaillen besonders einem hinterhältigen Schachzug verdankte. Owens zog aus dem Judenhass Hitlers, der mit der Verachtung für schwarze Mitbürger verglichen werden konnte, seinen letzten phantastischen Profit.

Erst er machte ihn zu einer einmaligen lebenden Legende. Und was für ein böser Treppenwitz der Sport-Geschichte! Plötzlich hatte die mathematische Formel von Minus mal Minus das großartigste Plus in der Sporthistorie des 20. Jahrhunderts ergeben.

Dieses spannende Thema sparte Shaap leider aus. Zu Glickman wäre noch zu sagen, dass er, der mit 83 Jahren starb, die bekannteste Radio-Stimme der USA fürs Basketball wurde, ein sogenannter Householdname.

Als er zusammen mit Owens im Jahr 1985 zu einem Besuch ins Berliner Olympiastadion zurückkehrte, war er überrascht über die Heftigkeit seiner nie verarbeiteten Gefühle aus der Zeit, die er als erst 18 Jahre alter Student durchlitten hatte. „Ich war erstaunt über mich selbst, über dieses Gefühl von Wut.“   

Die Vollendung der vierten olympischen Goldmedaille war dann nur noch ein Kinderspiel. Schon im Vorlauf stellte das amerikanische Quartett den Weltrekord von 40,0 Sekunden ein, eine Zeit, die es am Nachmittag des 9. August auf 39,8 verbesserte. Der Vorsprung vor den Italienern und Deutschen betrug 13 und 14 Zehntelsekunden. Allein ihr hoch dekorierter Startläufer hatte einen Vorsprung von fünf Metern herausgeholt.

Auf dem Teilnehmerblock soll er Luz Long wahrgenommen haben, wofür es aber kein Zeitzeugnis gab. Im Reich der Fabel spielte auch die Szene, als Owens auf dem Siegerpodest stand und sein Blick zur Führerstand hinüber glitt. Die Euphorie hätte ihn jetzt davongetragen und er glaubte zu sehen, dass ihm Führer zuwinkte. So endete der Schlussakkord. In süßem, unwirklichem Kitsch.

In den USA holte die Wirklichkeit schnell den schwarzen Mann wieder ein. Nach der Konfettiparade durch die Fifth Avenue von New York, die für die erfolgreiche US-Olympiamannschaft veranstaltet wurde, musste Owens zum anschließenden Empfang im nahen Waldorf-Astoria-Hotel erst einmal den Frachtaufzug besteigen.

Der große Sportstar wurde schmerzlich an seine Herkunft als „non-human“ erinnert, als Nicht-Mensch, wie es damals hieß. In den vielen Reden, mit denen er sich in den folgenden Jahrzehnten einen guten Lebenstandard sicherte, ließ er auch eine andere Episode immer wieder aufleben.

Sie ging so: „Ich wurde nicht von Hitler eingeladen, ich wurde aber auch nicht vom Weißen Haus eingeladen, um dem Präsidenten die Hand zu schütteln.“ Und in den Omnibussen hatte er wieder den hinteren Eingang zu besteigen, genau so wie es von seinen seine schwarzen Mitschwestern und Mitbrüder verlangt wurde.

Owens und Long sahen sie nach ihrer Berliner Begegnung nie wieder. Aber sie begannen einen Briefverkehr, der erst aufhörte, nachdem der Deutsche, inzwischen Rechtsanwalt in Hamburg, als Soldat in einem britischen Lazarett in St. Pietro auf Sizilien gestorben war.

Die Kränze, die der Amerikaner fortan über ihn flocht, waren von nun an nur noch posthum, und sie erhielten dabei eine Art von ewiger Würde. An die Herzen rührte ein oft wiederkehrender Satz während seiner Vorträge:

„Sie können alle Medaillen und Pokale einschmelzen, und sie wären trotzdem keine Unterlage für die 24-Karat-Freundschaft, die ich in jenem Moment für Luz Long fühlte.“

Nach seinem Tod verlieh das Internationale Olympische Komitee Long die Pierre-de-Coubertin-Medaille. Die Stadt Leipzig und das Olympische Dorf in München 1972 hielten die Erinnerung an den bemerkenswerten Weitspringer mit einem Luz-Long-Weg wach. Einzig die offizielle deutsche Leichtathletik konnte mit seinem Namen nie etwas Richtiges anfangen.

Sehr wahrscheinlich lag es daran, dass die Nazi-Parteigänger nach dem Zweiten Weitkrieg in einer unseligen Stetigkeit auch in der Stunde Null das Kommando wieder bis in die fünfziger Jahre hinein übernahmen.

Als 1973 unter amerikanischen Sportjournalisten nach dem bedeutendsten Sportereignis des Jahrhunderts gefragt wurde, antworteten die meisten, es sei Jesse Owens epochaler olympischern Siegeszug vor den Augen Hitlers gewesen.

Die Ironie der Geschichte wollte es also, dass er die Auszeichnung, so wie sie zustande kam, nie wollte.

Robert Hartmann 

Jesse Owens – Eine Sportlegende – Ausstellung des Sportmuseum Berlin – "AIMS Marathon-Museum of Running" im "Haus des Deutschen Sports" – „Jesse Owens Returns To Berlin“

Jesse Owens – Eine Sportlegende – Ausstellung des Sportmuseum Berlin

 

VERGESSENE REKORDE – Schicksale dreier jüdischer Leichtathletinnen dokumentiert – Ausstellungseröffnung am 21. Juni 2009 um 16 Uhr im Centrum Judaicum zu Berlin

VERGESSENE REKORDE – Schicksale dreier jüdischer Leichtathletinnen dokumentiert

author: GRR

Comment
0

Leave a reply