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18
07
2009

Leichtathletik – Orte der Demütigung – Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

17. Juli 2009 Das Kulturprogramm der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Berlin beginnt mit einem Beitrag zur Unkultur, und zwar auf mehreren Ebenen. „Vergessene Rekorde“ heißt die Ausstellung im Centrum Judaicum in der prächtig renovierten Synagoge mit der Goldkuppel in Berlins Mitte.

Am Beispiel der drei Leichtathletinnen Lilli Henoch, Martha Jacob und Gretel Bergmann stellt sie dar, wie jüdische Sportlerinnen und Sportler, in Vereinen und damit in der Mitte der Gesellschaft aktiv, von 1933 an diskriminiert, betrogen und verfolgt wurden.

Das Schicksal der Gretel Bergmann, die 95 Jahre alt in New York lebt, wird im Herbst unter dem Titel „Berlin 36“ in die Kinos kommen. Am ersten Juli-Wochenende fand die deutsche Meisterschaft der Leichtathleten in Ulm statt – ohne irgendeinen Hinweis darauf, dass die im nahen Laupheim geborene Hochspringerin dort Mitglied des Fußballvereins war – bis zu ihrem Ausschluss.
 
Leben, Erfolg und Schicksal

Über ihren Gegenstand hinaus ist die Ausstellung selbst auch ein Lehrstück. Ihr mühsames Zustandekommen zeigt, wie wenig sich der Sport für seine Vergangenheit interessiert. Zwei Ordner voller lobender Absagen sammelten Hans Joachim Teichler, Leiter des Arbeitsbereichs Zeitgeschichte des Sports an der Universität Potsdam, und seine Mitarbeiter, als sie das Werk zu realisieren versuchten.

Erst das persönliche Engagement von Berthold Beitz und die Unterstützung der von ihm gegründeten Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie die Entschlossenheit von Hermann Simon, dem Leiter des Centrum Judaicum, der den Exponaten einen Platz im Repräsentantensaal der Jüdischen Gemeinde gegeben hat, ermöglichten es, bis Ende August zu belegen, dass Sport nicht per se Integration vollzieht.

Die Ausstellung und vor allem das begleitende Buch (Bahro, Braun, Teichler : „Vergessene Rekorde“, Verlag für Berlin-Brandenburg, 206 Seiten, 16,90 Euro) erzählen von Leben, Erfolg und Schicksal der drei Frauen und liefern damit die Ausgangspunkte der Beschreibung, wie sich die Sportvereine Deutschlands von Horten der Kameradschaft und der Freundschaft in Orte der Demütigung verwandelten.

Das dürfte nicht nur für Deutsche, sondern auch für Besucher und Teilnehmer der Leichtathletik-Weltmeisterschaft aus aller Welt interessant sein, kommen sie doch im Stadion der Olympischen Spiele von 1936 zusammen.

Hitler setzte persönlich judenfreie Mannschaft durch

Gretel Bergmann dürfte die Bekannteste der drei Sportlerinnen sein. Teichler und seine Mitarbeiter belegen, dass Hitler 1936 persönlich durchsetzte, dass keine jüdischen Mitglieder in die deutsche Olympiamannschaft aufgenommen wurden. Sie beschreiben, wie er Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) brüskierte, die seinen gegen jede Olympische Charta verstoßenden Antisemitismus unterstützten und zu bemänteln bereit waren.

Der Amerikaner Charles H. Sherrill schlug Hitler persönlich die Idee von IOC-Präsident Henri de Baillet-Latour vor, wegen der internationalen Boykottdiskussion zumindest Gretel Bergmann aufzubieten, als Alibi-Jüdin. Die nationalsozialistische Sportführung realisierte den Plan allerdings mit der Nominierung der Fecht-Olympiasiegerin und sogenannten Halbjüdin Helene Mayer. Gretel Bergmann, die deutsche Meisterin, wurde, ohne dass dies Widerhall oder gar Widerspruch fand, ausgeladen.

Da lag der skandalöse Berlin-Besuch des ungenierten Antisemiten Avery Brundage, Präsident des amerikanischen NOK und später Präsident des IOC, schon fast zwei Jahre zurück. 1934 machte er sich ausgerechnet bei den Nationalsozialisten über die Lage jüdischer Sportler in Deutschland kundig.

Die Vertreter der Betroffenen lud Brundage ein einziges Mal zu einem Gespräch ein. Mit am Tisch saß bei dieser Gelegenheit der stellvertretende Reichssportführer in SA-Uniform. Jüdische Sportler aus Sportvereinen auszuschließen, wie es die Nationalsozialisten angeordnet hatten, fand Brundage vollkommen akzeptabel. Sein Club in Chicago, sagte er zum Abschluss dieser unwirklichen Begegnung, nehme schließlich auch keine Juden auf.

Armutszeugnis für offizielles Kulturprogramm

Lilli Henoch war deutsche Meisterin im Kugelstoßen und Diskuswerfen, im Weitsprung und mit der Sprintstaffel und wurde 1942 in der Nähe von Riga ermordet. Die Sportlehrerin blieb bis zu ihrer Verhaftung und Verschleppung bei ihren jüdischen Schülern und ihrer Mutter in Berlin. Martha Jacob, Speerwurf-Meisterin von Deutschland, Großbritannien und schließlich von Südafrika, rettete ihr Leben durch Emigration.

Die Erinnerung an sie und Abertausende jüdische Sportlerinnen und Sportler unterstützt die Bohlen und Halbach-Stiftung mit 30.000 Euro. Aus dem Topf für das Kulturprogramm der Weltmeisterschaft, den der Bund mit zwei Millionen Euro gefüllt hat, kommen 5000 Euro. Der Großteil des Kulturbudgets zur WM geht für eine Arena am Brandenburger Tor drauf, die mit Musik und Kochstudio bespielt werden soll.

Nicht nur der Sport ist ignorant seiner Vergangenheit gegenüber. Teichlers Lehrstuhl in Potsdam, nur einer von zwei sporthistorischen in Deutschland, soll nach der Emeritierung des Professors in zwei Jahren gestrichen werden.

„Sportstudenten auszubilden ohne Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte“, warnt Teichler, „ist unverantwortlich.“ Seine als Wanderausstellung angelegte jüngste Arbeit ist auch ein Plädoyer für die Kultur des Erinnerns.

Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 17. Juli 2009

author: GRR

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