Ihre Chancen, in rund drei Wochen bei der Weltmeisterschaft in Berlin ihren Titel zu verteidigen, sagt Trainer Lloyd Cowan, stünden fifty-fifty. Aber was bedeuten schon Crystal Palace und die WM im Vergleich zu dem Höhepunkt, den die Laufbahn von Christine Ohuruogu in drei Jahren erleben soll?
Sprinterin Christine Ohuruogo – Das Gesicht einer Kriegerin – Michael Reinsch, London, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
24. Juli 2009 Die Olympiastadt 2012 hat vorübergehend ihr Gesicht verloren. Beim zweitägigen Leichtathletik-Sportfest von Crystal Palace in London an diesem Freitag und Samstag fehlt ausgerechnet die Weltmeisterin und Olympiasiegerin über 400 Meter. Christine Ohuruogu hatte einen miserablen Start in die Saison, nun ist sie verletzt.
Ihre Chancen, in rund drei Wochen bei der Weltmeisterschaft in Berlin ihren Titel zu verteidigen, sagt Trainer Lloyd Cowan, stünden fifty-fifty. Aber was bedeuten schon Crystal Palace und die WM im Vergleich zu dem Höhepunkt, den die Laufbahn von Christine Ohuruogu in drei Jahren erleben soll?
Dann nämlich kommen die Spiele zu ihr nach Hause. Das Olympiastadion, die Hallen fürs Schwimmen, für Basketball und Handball, die Hockeyanlage, das Olympische Dorf sowie Fernseh- und Pressezentrum entstehen auf 300 Hektar Industriebrache im East End von London. „In Stratford!“ präzisiert die 25-jährige Christine Ohuruogu. „Dort wohne ich.“ Olympische Spiele als Entwicklungsprogramm für den unterentwickelten Osten: Mit diesem Konzept sind zwei deutsche Bewerbungen gescheitert, die von Berlin für 2000 und die von Leipzig für 2012. Nun realisiert es London.
Drei Dopingtests verpasst, gesperrt, anschließend Weltmeisterin und Olympiasiegerin: Christine Ohuruogu
„Ich sehe das nicht als schlechte Gegend“, sagt Christine Ohuruogu, die als zweites von acht Kindern nigerianischer Einwanderer dort aufgewachsen ist. „East End ist eine große multikulturelle Gemeinschaft. Es hat vielleicht eine negative Presse. Aber ich würde nirgendwo anders leben wollen.“ Während Touristen auf das Dach eines Parkhauses am Bahnhof steigen müssen, um den Baufortschritt des Olympiastadions verfolgen zu können, haben andere die blühende Zukunft schon deutlicher vor Augen. Immobilienspekulation blüht; Stratford weist eine beeindruckende Dichte an Maklerbüros auf.
„Ich glaube, die Spiele werden ordentlich und fair veranstaltet“
Auch Christine Ohuruogo, die sich gerade ein Häuschen im Osten gekauft hat, beobachtet, dass die neuen Wohnungen auf Singles zugeschnitten sind, nicht auf Familien. „Wir müssen den Wandel akzeptieren“, sagt sie. „Ich begrüße die Olympischen Spiele. Ich glaube, dass sie ordentlich und fair veranstaltet werden, so dass auch die Leute von hier etwas davon haben.“ Andererseits klingen auch Befürchtungen durch, wenn sie sagt: „East End ist eine Gegend, wo Menschen seit Generationen Familien gründen und ihre Kinder in die Schule schicken. Es wäre nicht gut, wenn die jüngste Generation wegziehen müsste, weil sie sich die Mieten nicht leisten kann.“
Die Eltern Ohuruogu leben mit den acht Geschwistern von Christine in einem Eigenheim. Christine Ohuruogu erzählt, dass sie Anfang des Jahres dort stand, wo einst die Ziellinie sein wird. Sie führte Lamine Diack, den Präsidenten des Leichtathletik-Weltverbandes, durch den Rohbau des Stadions. Ob Sebastian Coe, der Chef des Organisationskomitees, sie zu der Tour eingeladen habe, will sie nicht beantworten. Diack und sie hätten sich ohnehin getroffen, sagt sie. Sie wisse gar nicht, wer wen angerufen habe.
Das sind die Spätfolgen einer Schlagzeile, die sie am Tag nach dem Gewinn der WM mit Wucht traf. Da veröffentlichte eine Boulevardzeitung ihr Porträt auf der Titelseite und forderte: „Macht dies nicht zum Gesicht von London 2012!“ Drei Doping-Tests hatte sie innerhalb eines Jahres verpasst, sie wurde 2006 für ein Jahr gesperrt. Im zweiten Wettbewerb ihrer Saison 2007 – im ersten war sie lediglich 53,09 Sekunden gerannt – wurde sie Weltmeisterin. Doch der Verdacht blieb ihr auf den Fersen.
„Sie macht das im Kopf klar und ist immer in Top-Form“
„Ich bin durch die Hölle gegangen“, sagte sie ein Jahr später, als sie in Peking Olympiasiegerin geworden war. „Der Zweifel ist da“, räumt sie ein, „aber er berührt mich nicht. Ich habe meine Arbeit zu tun, und ich glaube an meine Arbeit.“ In einer Ochsentour erklärte sie nach Osaka fast jedem Sportreporter Großbritanniens persönlich, dass sie nicht durch böse Absicht, sondern durch Leichtfertigkeit und Unorganisiertheit die drei Trainingskontrollen verpasst hatte. „Die Medien stellten mich als schuldig dar“, sagt sie, „aber die Leute in Großbritannien haben verstanden, was wirklich passiert ist.“
Die Amerikanerin Sanya Richards ist vor einer Woche in Paris ihr 37. Rennen über 400 Meter in weniger als fünfzig Sekunden gelaufen; das hat noch keine Frau geschafft. Christine Ohuruogu hat diese Marke erst zweimal unterboten in ihrem Leben: im WM-Finale von Osaka und in Peking. Will sie den Titel von Berlin, wird sie auch dort so schnell laufen müssen. Das sei kein Problem, hatte sie noch gesagt, als sie sich bei ihrem ersten 400-Meter-Lauf dieses Jahres in Oslo in 51,19 Sekunden fast zwei Sekunden Rückstand auf Sanya Richards eingehandelt und kurz darauf die britische Meisterschaft in Birmingham in nur 51,26 Sekunden gewonnen hatte.
Im vergangenen Jahr sei sie um dieselbe Zeit noch langsamer gewesen. „Sie könnte mit einer Bestleistung von 55 Sekunden in die Weltmeisterschaft gehen, aber dann 49 Sekunden laufen“, sagt Hürdensprinter Andy Turner, ihr Trainingspartner. „So eine Athletin ist Christine. Sie macht das im Kopf klar und ist immer in Top-Form, wenn es um die Meisterschaft geht.
Sie ist eine Wettkämpferin.“ Commonwealth-Champion Christine Ohuruogu sagt es so: „Ich bin eine Kriegerin.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinn Zeitung, Freitag,dem 24.Juli 2009