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04
08
2009

Den zehnten deutschen Meistertitel in Bremen feierte er schon wie ein Weltmeister! Es war ein Ausbruch von Lebensglück, herausgeholt aus den Tiefen seiner Psyche.

Willi Wülbeck – „Williii“ oder von der Lust am Laufen – Robert Hartmann schreibt über Willi Wülbeck und die 800 m in Helsinki 1983 – Der läuferische Rückblick – Teil VI

By GRR 0

Am 15. August beginnen die 12. Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Berlin. Es ist das größte Sportereignis auf deutschem Boden in diesem Jahr und der Saisonhöhepunkt eines Sports, der die Extreme bündelt. Die Leichtathletik mit ihren 47 Disziplinen gilt immer noch als der wichtigste Kernsport des olympischen Programms. Kein anderer Sport bringt Sieger aus so vielen verschiedenen Ländern hervor wie sie. Andererseits leidet sie besonders unter den Phänomenen der Moderne wie Kommerzialisierung oder Doping. 

German Road Races (GRR) wird in loser Reihenfolge über einige ehemalige  Aushängeschilder der deutschen Leichtathletik berichten, um "Appetit" auf die 12. IAAF Weltmeisterschaften der Leichtathletik zu machen!

»Ehrgeiz und Wille«, gehörten zum Leistungssport, unbedingt, und weil Willi Wülbeck gut weiß, daß er mit diesem Allgemeinplatz nicht eine einzige graue Gehirnzelle in Bewegung setzen kann, hängt er halt noch seine persönliche Note dran: »Aber auch eine Portion Unzufriedenheit muß mit im Spiele sein.«

Daß er bei der Stange blieb über all die Jahre? Er hatte schon 1973 dem späteren Olympiasieger und Weltrekordler Steve Ovett, »Steve Wonder«, einen Kampf auf Biegen und Brechen angeboten, und 1977 hatte er noch Sebastian Coe besiegt. Danach zogen sie ihre eigenen Kreise, and Wülbeck grübelte darüber nach, warum all seinen frühen Wegbegleitern der Sprung in die Weltelite gelang, nur ihm nicht.

Er hörte nicht auf zu grübeln als Hans-Peter Ferner Europameister wurde, in Athen '82. Dieses Ereignis traf ihn im Kern, dort, wo sich Herz und Schmerz in trister Nachbarschaft eng verbunden fühlen.
Die sportliche Zukunft wurde, es fiel wie Schuppen von den Augen, bald an ihre von der Zeit gesetzten Grenzen stoßen. Da begann schon eine Uhr abzulaufen. »Positiv denken« schrieb er sich aufs selbstverzierte Panier. Zickzack-Willi ist er — halb im Scherz, halb im Ernst — genannt worden. Auch wenn es schwerfallt: die gerade Linie ist zu suchen. Kurven, bitte schön, weist sein Metier immer noch insgesamt vier auf.

Den zehnten deutschen Meistertitel in Bremen feierte er schon wie ein Weltmeister! Es war ein Ausbruch von Lebensglück, herausgeholt aus den Tiefen seiner Psyche. Wülbeck ging aus seiner Haut, er legte seine Gefühle offen. Schaut her, nur gemeinsame Freude macht stark. Und die gemeinsame Freude war ja auch fast immer da. Die Massen liebten ihren » Williii«, sie Standen zu »ihrem« Jungen aus dem Kohlenpott, der zwar kompliziert zu seiner eigenen Persönlichkeit stand und steht, dessen Offenheit aber immer ankommt.    R. H.

Willi Wülbeck hatte noch zwanzig Meter zurückzulegen, als er unser Blickfeld erreichte. Die Augen waren jetzt halb verschlossen, and in dem von einem dünnen blonden Bart überwucherten schmalen Gesicht zeigte sich der Schmerz der letzten Anstrengung. Und je näher er dem Ziel entgegenspurtete, je näher er uns kam, umso deutlicher erlebten und sahen wir seine Sehnsucht, das nahe, rettende Ufer jetzt endlich zu erreichen.

Vielleicht trägt uns auch nur in der rückwärts gerichteten Schau die dem Heldenhaften so geneigte Sprache der französischen Sportzeitung »L'Equipe« davon, und wir erliegen einer Sinnestauschung?

»Es war eines der aufregendsten Rennen in der Geschichte, von vollendeter Schönheit.« Die schwelgerischen, grenzüberschreitenden Journalisten aus Paris bauten dem Willi Wülbeck einen Sockel und stellten ihn darauf, als sei er einer der ihren. Sie vergaßen nicht, darauf hinzuweisen, daß Rudolf Harbig einer der Großen auf der Zwei-Runden-Strecke war, vor dem Zweiten Weltkrieg, sie hielten fest, daß noch nie ein bundesdeutscher Läufer eine internationale Meisterschaft auf dieser Distanz gewonnen hatte, obwohl auch schon Schlagzeilen gezimmert wurden, in denen die 800 Meter die deutsche Strecke genannt wurde.

Der 800-m-Endlauf in Helsinki war von einer erlesenen Schlichtheit. Die zwei jungen Wölfe Joaquim Cruz aus Brasilien und Peter Elliott, beide erst 20 Jahre alt, suchten ihren Vorteil in einer geordneten Flucht nach vorne. Nach der Startkurve — wenn die acht Kandidaten ihre abgesteckten Bahnen verlassen und die Innenbahn ansteuern — sprintete der Europameister Hans-Peter Ferner von außen, Bahn sieben, zu den beiden Enteilten hin. Der Ingolstädter schloß dann die Lücke nicht nur für sich, sondern auch Willi Wülbeck, der indessen noch sehr sachte seine schon von Vor- und Zwischenlauf angezapften Energien verströmte.

Nach 350 Metern tauschten die zwei vorne ihre Platze, nach 400 Metern blieb die Uhr bei 50,58 Sekunden stehen, fünfzig Meter weiter zog Wülbeck an Ferner vorbei, und im folgenden spielte der Oberhausener weiterhin die Reife seines Jahrgangs 1954 aus, indem er in Ruhe seinen Auftritt abwartete. In der Zielkurve bereitete er ihn vor, indem er leicht aufschloß, und sein Antritt in die letzte Gerade hinein trug ihn sofort weg, während hinter ihm der Holländer Rob Druppers seinen Spuren folgte und noch Cruz das Silber wegschnappte. Ferners Rennen war es nicht gewesen, er wurde Siebter.

»Williiii!« Der neue Weltmeister! Die über tausend deutschen Schlachtenbummler feierten mit. Ein urdeutscher Vorname auf der deutschen Strecke als Schlachtruf? Aber geh', als Anfeuerungsruf! Dieses »Williiii« hat, sofern es Wülbeck galt, noch nie teutonisch geklungen. Wenn das Volk auf den Rängen losschreit, entkrampft es sich, ein Blick in die Gesichter in der Menge genügt zur Beweisführung.

Wülbeck wird geliebt, wie jeder sich selbst liebt, voller Verständnis für die tausend schwachen Augenblicke im Leben; aber der schöne Glorienschein der ehrlichen Zahlen soll an diesem Dienstagabend ebenfalls aufleuchten.

1:43,65 Minuten erzielte der 28 Jahre alte Mittelstreckler. Das war eine Sekunde unter seinem bisherigen bundesdeutschen Rekord aus dem Jahr 1979. Neue Jahresweltbestzeit, die bisherige hatte der Brite Sebastian Coe gehalten, der Weltrekordler, der nach vier Niederlagen in fünf Rennen fassungslos eine Woche vor der WM aufsteckte.

In Helsinki hat niemand an dieses Thema gerührt. Der Name Coe wäre nur ein Reizwort gewesen, geeignet, das ungetrübte Fest zu stören. Wülbeck ist im Finale in der Tat sein eigener Hausherr gewesen. An drei Tagen lieferte er diese Zeiten ab: 1:46,55, 1:46,21 und die 1:43,65 Minuten. Diese Trilogie zeugt von einem stocksoliden Unterbau. »Ich habe im Winter auch bewußt auf Ausdauer trainiert«, erzählte er.

Der Titel ist kein Zufall, er hat seine Geschichte, die lang und kompliziert ist wie zum Beispiel das finnische Wort für Ziel, das die Tageszeitung »Helsingin Sanomat« traumwandlerisch sicher in ihrer Schlagzeile mit dem Namen des Deutschen verband: »Willi Wülbeck paasi vihdoin paamaaraansd« — was so viel heißt wie: nach langem Weg endlich am Ziel.

Er hat die Einmaligkeit von zehn bundesdeutschen Meistertiteln auf den 800 Metern, hintereinander, in Szene gesetzt. Aber international betrachtet findet sich unter der Lupe allein eine Silbermedaille, schon 1973 bei den Junioren-Europameisterschaften erworben. Olympiavierter 1976, Achter der Europameisterschaften 1974 und 1982. 1978 in Prag hatte er auch schon gewinnen sollen – so wie er es beim Europapokal-Endkampf 1977 in Helsinki tat – aber er verirrte sich im Bauch der Tribune und die Sportwelt lachte ihn aus.

Auf und ab. »Wenn man Erfolg hat«, sagte er am Morgen nach dem Triumph, »sollte man ihn ein bißchen feiern.« Er hat schon zu viel gesehen, der Williiii. Und die Zeiten ändern sich manchmal schnell. Coe fehlte, Ovett wurde nur Vierter über 1500 Meter, und Alberto Juantorena, der wiederaufgestandene Kola aus Kuba, stürzte schon im Vorlauf, als er lässig und unaufmerksam über die Innenkante der Bahn austrudeln wollte, dabei jedoch stolperte und sich im linken Full alle Bänder abriß. Seine Olympiasiege von 1976 aber 400 und 800 Meter sollten keine Ergänzung erhalten.

Während sie alle ihre Trauer trugen, hob »L'Equipe« den würdevollen Satz in ihr Blatt: »Nichts ist moralischer als die Geschichte des Willi Wülbeck.«

Nichts ist vergänglicher als Ruhm

Am Morgen nach dem Sieg saß er, umringt von Journalisten, auf einem Stuhl, den sie vor den Wohnblock 7b draußen im Athletendorf Otaniemi hingestellt hatten. Ferner tauchte auf, und Wülbeck rückte ein Stück zur Seite, so daß beide ihren Platz fanden. Geteilte Freude, geteiltes Leid. Die Spruchweisheit wurde sinnfüllig. Erst elf Monate vorher waren ihre Rollen umgekehrt verteilt gewesen. »Wenn ich neben Hans-Peter herging, war ich mehr oder weniger sein Schattenmann. Mich hat das nicht gestört, das ist normal. Der Satz, nichts ist vergänglicher als der sportliche Ruhm, war mir schon vor zehn Jahren klar.« Willis Worte wie für das goldene Buch.

Seinen 72 Jahre alten Trainer Hans Raff trafen wir zwei Tage später. Er saß auf einer Parkbank am See, der nahe dem Olympiastadion liegt. Die Familie Wülbeck feierte gerade den Erfolg, das Restaurant lag nur hundert Meter von der Bank entfernt, aber der Lärm erreicht hier den alten Weisen nicht mehr. Er las Zeitung und genoß den Tag. Der Laiendarsteller eines Zimmertheaters ruderte auf einem alten Kahn vorbei, offenbar gehörte diese Einlage zum Stück, das sie gerade spielten.

Der Gegensatz zur Welt der Verkleidung und der Schminke hatte größer nicht sein können. Rail und sein Schützling haben der Natur im Sportler immer nachgespürt. »Der Willi«, sagte er, »kann noch sechs Jahre auf seinem jetzigen Leistungsstand weitermachen. Ich habe schon vor zehn Jahren den Veranstaltern gesagt, behaltet nur eure 200 Mark für ein Rennen. Ich lasse mir dieses Talent nicht kaputtmachen. Man muß doch weitersehen.«

Wieder zehn Tage weiter gewann der Weltmeister in London beim Europapokal seinen 800-m-Lauf. Müde vom Feiern, hatte er sich noch einmal zusammengerissen. »Ich denke jetzt darüber nach, wie ich mit dieser Bürde, Weltmeister zu sein, fertig werde«, erzählte er und schlug wieder ein neues Kapitel des Buches Wülbeck auf. »Ich darf mich nicht unter Druck setzen lassen. Ich muß mir den gleichen Gefallen am Laufen und Wettkampf erhalten, wie ich ihn in meinerJugend hatte.« Eine neue Sehnsucht hat die alte schon abgelost.

Mr. Cram, bitte übernehmen Sie!

»The big guns.« So umschreiben die Briten das Wort von den Superstars. Die großen Gewehre in der Leichtathletik sind die Meilenläufer, und wenn sie weißer Hautfarbe sind, Englisch ihre Muttersprache ist und sie bei den Weltereignissen den Taktstock selbst in die Hand nehmen können, dann mögen sie schon mal galoppierenden Geldschranken gleichen.

Alles, was flotte Beine hat, in denen sich schnelle und ausdauernde Muskeln in höchster Vollendung einander ergänzen, drängt zu den reichlich gefüllten Futterkrippen. Logisch, daß in Helsinki kein anderer Wettbewerb derart übervölkert war mit Assen wie der 1500-m-Lauf.

Aber heute, nachdem der »Grand mit Vieren« ausgespielt ist, bleibt in der Erinnerung nur noch ein flüchtiger Eindruck haften. In den Vor- und Zwischenlaufen waren die Tempoläufer reihenweise abgedrängt worden, das war die Krux. Denn übrig blieb nur noch eine stattliche Versammlung von Läu-fern, die einträchtig ihr Spurtvermögen als königlich bezeichnen würden.

In 65,02 Sekunden ging es durch die erste Runde, in 2:07,76 Minuten durch die zweite. Sogar Frauen mit Mary Decker an der Spitze des Zuges waren schneller unterwegs gewesen. Zu solchen Rennverläufen stellt sich stets die Feststellung ein: Nur der Sieger hat recht.

Der Sieger hieß Steve Cram und ist, fürs weitere Geschäft glücklicherweise, ein Engländer. Dem scharf gesetzten Antritt des kleinen Marokkaners Said Aouita 450 Meter vor dem Ziel war er mit einer weiteren Temposteigerung eingangs der letzten Kurve begegnet. Der 22 Jahre alte Europameister wickelte in aller Ruhe Meter um Meter sein taktisches Konzept ab.

Hinter ihm hatte der höher gewettete Amerikaner Steve Scott eine Schrecksekunde lang zu spät reagiert, wohingegen Olympiasieger Steve Ovett — zusammen mit Coe der Krösus der Strecke zwischen 1977 und 1981 — in den hinteren Regionen tändelte, als vorne die Post abging. Allerdings — wenige Wochen nach der WM lief er mit 3:30,78 neuen Weltrekord.

Kaum jemand mochte ihrem Hader noch zuhören, plötzlich gab es Wichtigeres zu tun im Stadion. Aoutia giftete gegen sich selbst: »Ich hätte eher spurten sollen.« Scott: »Mein Plan, nach 1200 Metern vor zu gehen, ging nicht auf.« Ovett hatten wir schon. Cram: »Es lief bestens.« Selbstverständlich. Seine Schlußrunde legte er in 52,0 Sekunden zurück.

Die Siegerzeit von 3:41,59 Minuten war in den Vor- und Zwischen-Entscheidungen einundvierzigmal unterboten worden. Im Finale ging es nur noch darum, die letzte übriggebliebene Spreu vom besten Weizen zu trennen. »King Cram«: Der Londoner Fleetstreet-Journalismus stellte sich schnell um. Hatte es nicht einmal das Traumrennen Coe-Ovett gegeben, geplant als Millionen-Dollar-Ding? Doch, es sollte im Sommer 1982 in Nizza, London und Eugene über die Bühnen gehen. Wegen Krankheits- und Verletzungsfällen der Hauptdarsteller fiel es damals aus.

Mr. Cram, bitte übernehmen sie. Dies ist der 1500-Meter-Lauf der Welt.    

Robert Hartmann

800 m (9.08.1983) – 1. Willi Wülbeck (D) 1:43,65 – 2. Rob Druppers (HOL) 1:44,20 – 3. Joaquim Cruz (BRA) 1:44,27 – 4. Peter Elliott (GBR) 1:44,87 – 5. James Robinson (USA) 1:45,12 – 6. Agberto Guimaraes (BRA) 1:45,46 – 7. Hans-Peter Ferner (D) 1:45,74 – David Patrick (USA) 1:46,56 – Matthias Assmann (D) mit 1:48,73 im Semifinale ausgeschieden.

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author: GRR

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