Jeder Muskel, jede Faser scheint beim „Laufsystem Carsten Schlangen“ für nur ein Ziel disponiert zu sein: über die 1.500 m deutlich schneller als die Konkurrenz zum Sieg zu rennen.
Die Temposchmiede der LG Nord Berlin – Trainingsbesuch bei Carsten Schlangen – Volker Schubert in SPIRIDON
In der deutschen Mittelstreckenszene gilt die LG Nord Berlin als Synonym für exzellente Schnelligkeitsausdauer. Natürlich besonders wegen 1.500-m-Ass Carsten Schlangen, der als deutsche Hoffnung auf die Leichtathletik-WM in Berlin hinfiebert. Doch auch die„zweite Reihe“ hat ein beachtliches Potential.
Würden die Konstitutionstypen noch gelten, dann wäre Carsten Schlangen (LG Nord Berlin) von seiner Körperform her der vollendete Leptosom, ein klassischer Astheniker. Carsten Schlangen ist ein 1,92 m hochgeschossener, filigraner Schlaks, äußerst sehnig, etwas knochig und drahtig-muskulös zugleich. Er scheint wie geschaffen, um eines par excellence zu beherrschen: das schnelle Laufen. Etwa wie Harald Norpoth, Deutschlands Mittelstrecken-Ass der Sechziger. Und genau das macht er, wie sein früheres Konterpart, mit Inbrunst, Disziplin und Bravour.
Jeder Muskel, jede Faser scheint beim „Laufsystem Carsten Schlangen“ für nur ein Ziel disponiert zu sein: über die 1.500 m deutlich schneller als die Konkurrenz zum Sieg zu rennen.
Seine letzten Goldmeriten hat er sich bei den „Deutschen“ verdient, als er in Ulm, im Duell mit dem Erfurter Stefan Eberhardt durch seinen unwiderstehlichen Antritt zum nationalen Meistertitel eilte. Natürlich war die Endzeit von 3:43,66 min nicht spektakulär, wohl aber die Schlussrunde, wo Schlangen die letzten 400 m katapultartig in 51,94 sec abspulte.
Das Ticket für die WM in Berlin hat Schlangen schon seit Juni in der Tasche. Da brillierte er mit neuer Bestzeit von 3:34,60 min im Berliner Olympiastadion und ist in Europa die Nummer sechs. Nur Eberhardt, der vom Typ an die DDR-Lauflegende Werner Schildhauer erinnert, ist noch besser. Der 24-jährige – 2006 Deutscher Hallenmeister – wuchs beim ISTAF ebenso gewaltig über sich hinaus und etablierte sich mit 3:33,92 min als Europas Zweitschnellster. Allerdings verfügt Schlangen in seiner Spezialdisziplin über eine höhere Leistungsdichte, toppte die 3:35 bereits 2008 und weist insgesamt eine sehr solide wie kontinuierlich gestiegene Bilanz über die 1.500 m auf.
Für Schlangen ist längst wieder der Berliner Trainingsalltag eingekehrt. Da heißt es mit Zielrichtung WM wieder gehörig an den Tempostellschrauben drehen. Schlangen trainiert im Norden Berlins, im Ortsteil Tegel. Der ist ebenso park- wie waldreich. Punkt 18 Uhr läuft sich Schlangen mit einer Crew drei weiterer LG Nordler ein. Erst geht es für rund 30 min durch eine Kleingartenkolonie in der Steinbergpark und danach auf den Hatzfeld-Sportplatz. „Per aspera ad astra“, wie der Lateiner sagt – „über steinige Pfade zu den Sternen“. Schon beim Einlaufen geht die Laufgruppe vom 4:10er zum Viererschnitt über und die letzten 10 min liegt das Mittelstrecklerquartett etwa bei 3:45 min/km.
Erst etwas verhaltene Gymnastik, dann geht das Tempoprogramm auf dem Rasen los. Zunächst folgen drei sprintstarke Steigerungsläufe über 100 m. Was die Vier das so „runterheizen“, sieht schon sehr schnell aus. Dass die vier so schnell sind, kommt nicht von ungefähr: denn mit von der Partie sind der 20-jährige Alexander Hudak, Johannes Riewe (23) und Merlin Rose (22). Letzterer war 2003 bis 2005 Deutscher Jugendmeister (800 m – Bestzeit 1:49). Hudak ist sogar schon 1:47 min gelaufen und Riewe schafft 3:49 min über Schlangens Lieblingsdisziplin. „Die Gruppe ist einmalig. Wir steigern uns beim Training richtig rein, jeder gibt jedem dabei die Impulse“, freut sich Schlangen.
Allerdings fehlen drei weitere Laufkoryphäen, denn zum Spitzenteam der LG Nord gehört auch der mehrfache deutsche 1.500-m-Meister Franek Haschke, sowie Jonas Stifel und Falko Zauber. Franek widme sich verstärkt dem Medizinstudium, Jonas kann nicht und Bundeswehrsportsoldat Zauber laboriere an einer Verletzung, so Schlangen zu SPIRIDON. Eine echtes Dreamteam, denn seit 2006 beherrscht die LG Nord als Deutscher Meister im 3 x 1.000 m Staffellauf die Szene. Seit 2005 ist Schlangen bei der LG Nord. „Ein Glücksgriff“, wie er sagt. 2005 wurde er Deutscher Vizemeister und spürte bei den damaligen 3:40 min, dass da noch mehr drin ist.
Erneut tobt das Nordler-Team über den Rasen des beschaulich mit Kastanien eingerahmten Standardsportplatzes. Immer drängt alles nach vorn, so tut sich der Eindruck auf, wie bei einer Schar einjähriger Geparden, die nicht aufhören kann, im wilden Spiel ihre Kräfte zu messen. Drei Runden ansteigendes Tempo, was stets in einer Endspurt ähnlichen langen Geraden endet, mehrmals natürlich und mit erholsamen Trabpausen durchmischt.
„Wir alle können zu jeder Jahreszeit die 1.000 m in 2:30 min rennen“, informiert Schlangen nicht ohne Stolz in der Stimme. Nach 75 min ist Schluss mit dem Tagespensum. Der Trainer, Professor Dr. Roland Wolff, ist nicht dabei, was ungewöhnlich ist. „Das Programm gab’s kurzzeitig über Handy“, sagt Schlangen. Stetes Erstaunen scheint auch Teil des Erfolgsgeheimnisses von Wolff zu sein, der als „graue Eminenz“ – Journalisten gegenüber regelmäßig zugeknöpft – alle Tempodetails immer kurz vorm Training bekannt gibt.
„Da ist jedesmal eine Überraschung“, schmunzelt Schlangen, der neun Trainingseinheiten absolviert und verrät, dass er nie mehr als 100 km pro Woche abspult, maximal 2.000 m scharfes Tempo läuft und 3-4 Mal in der Woche hart trainiert. „Der Rest ist Betriebsgeheimnis“, so Schlangen verschmitzt. Für die WM in Berlin hat sich der angehende Architekt keine Renntaktik zurechtgelegt: „Das bringt nichts. International muss man alles rennen können, von der schnellen 51-er Schlussrunde bis zum Tempobolzen von Anfang an.“
Für das hauptstädtische WM-Abenteuer fühlt sich Schlangen gut vorbereitet. Beim schnellen Rennen mit guten Pacemakern traue er sich jetzt 3:33 min zu. „Die 3:36 bis 3:37 laufe ich beständig“, schätzt er sein aktuelles Laufrepertoire ein. Was folgt, ist der letztmalig Feinschliff im Trainingslager im brandenburgische Königswusterhausen.
„Dort ist eine Top-Kunststoffbahn und die Gegend idyllisch“, so der Olympialäufer, der 2008 im Pekinger Vogelnest das Finale nur knapp verfehlte. „In Berlin will ich vor mir selbst bestehen, die WM mit dem Gefühl beenden, mein Bestes gegeben zu haben“, sagt Schlangen zur „vorprogrammierten Gänsehautatmosphäre“ in Berlins WM-Arena.
Volker Schubert in SPIRIDON – August 7/2009