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2009

Samuel Wanjru verdient mit einer Sekunde 100000 $, der Marathon-Weltrekord bleibt in Berlin und die Russin Liliya Shobukova rennt das schnellste Finish in der Geschichte des Marathons der Frauen und ist dabei schneller als alle Männer.

Maßarbeit in der Kälte und ein sensationelles Finish – Eine Nachlese zum Bank of America Chicago Marathon 2009 von Helmut Winter

By GRR 0

Über den Chicago Marathon am 11. Oktober 2009 wurde auf der Homepage von GRR bereits ausführlich berichtet (incl. Interviews mit Irina Mikitenko). Hier folgen weitere Anmerkungen und Analysen zur Veranstaltung, die u.a. zeigen, weshalb Irina das Rennen der Frauen unter diesem Voraussetzungen nicht gewinnen konnte.

Samuel Wanjiru (KEN) gewann am Sonntag wie erwartet souverän den Chicago Marathon und verbesserte dabei den Streckenrekord aus dem Jahre 2002 von Khalid Khannouchi (2:05:42) um eine Sekunde auf 2:05:41, verfehlte aber sein Vorhaben, einen neuen Weltrekord zu erzielen, am Ende doch recht deutlich. Dabei hatte es bei recht kalten Temperaturen um den Gefrierpunkt zunächst sehr gut ausgesehen.

Mit einer beeindruckenden Gleichmäßigkeit wurden die ersten fünf Kilometer in jeweils 2:53 gelaufen, mit 14:34 lag man damit deutlich auf Weltrekordkurs. Bei 10 km in 29:10 hatte man fast wieder genau Hailes Zwischenzeit bei seinem Weltrekord in Berlin 2008. Dies setzte sich mit 5 km Abschnitten von 14:48 und 14:50 bis zur Halbmarathonmarke in 1:02:01 und bis zu den 25 km in 1:13:40 fort.

Dort stieg allerdings der letzte noch verbliebene Pacemaker aus, der Sieger des Laufs vor zwei Jahren, Patrick Ivuti, und das Tempo wurde erheblich langsamer. Drei Kenianer hatten sich bis hierhin deutlich vom Rest der Mitstreiter abgesetzt: Favorit Sammy Wanjiru, Paris-Sieger Vincent Kipruto und Debutant Charles Munyeki, der beim schnellen Rotterdam Marathon im Frühjahr bis 30 km das Tempo machte. Schon vor der 5 km Marke war einer der Mitfavoriten, Abderrahim Goumri (MAR) zurückgefallen, beim Halbmarathon war er nur auf Platz 10 mit 50 Sekunden Rückstand. Danach begann aber seine Aufholjagd, die ihm im Ziel noch auf die zweite Position brachte.

Anstatt die glänzenden Zwischenzeiten konsequent in Richtung Weltrekord fortzuschreiben, begannen an der Spitze eigentlich unerklärliche taktische Aktionen und das Tempo wurde langsamer. Mit 5 km Splits von 15:05 und 15:12 von 25 km nach 35 km (1:43:58) verabschiedete man sich vom dem im Vorfeld groß angekündigten Vorhaben.

Kurz darauf in Chinatown legte Wanjiru einen seiner typischen Zwischenspurts ein und Kipruto und Munyeki fielen sofort zurück. Bei 40 km in 1:58:56 betrugt der Vorsprung auf Kipruto bereits 20 Sekunden. Aber abgesehen vom verfehlten Weltrekord wurde es am Schluss sogar noch mit dem Streckenrekord knapp. Auch durch auffrischenden Wind bedingt lief Wanjiru das Ende in nur 6:45 (dazu unten mehr!), begann bereits früh auf der Zielgeraden seinen Sieg zu feiern und unterbot die Bestmarke von 2:05:42 um nur eine Sekunde. Und das hatte auch finanzielle Folgen: Neben dem 75000 $ Preisgeld bekam er nämlich noch eine Prämie von 100000 $, knapper hätte er dieses Geld nicht verdienen können.

Hinter Wanjiru kämpfte sich Goumri immer weiter nach vorne, bei 40 km war er bereits Dritter und hatte Kirputo vor sich, den er bis ins Ziel mit 2:06:04 noch überholen konnte.  Goumri war auch der schnellste Mann in der zweite Hälfte, mit 1:03:14 lief er diesem Abschnitt 26 Sekunden schneller als der Sieger Wanjiru. Kipruto wird mit Hailes Siegerzeit von Berlin, 2:06:08, Dritter und danach schaffte Munyeki ein tolles Debut in 2:07:07. Ein weiterer hoch eingeschätzter Debütant, Tedese Tola ETH) konnte die Erwartungen nicht erfüllen, fiel schon früh zurück und wurde in 2:15:48 Neunter.

Nur sieben Läufer unterboten am Ende den internationalen Standard von 2:13. Ausgezeichnet die Zahl von 81 Finishern unter 2:30, aber nur 834 Läufer schafften die 3 Stunden.

Nach den hohen Temperaturen in den beiden Vorjahren gab es in diesem Jahr das andere meteorologische Extrem, für einen Weltrekord waren Temperaturen um den Gefrierpunkt, die während des Laufs nur gering stiegen, zu ungünstig. Und wenn Haile in Berlin die Obergrenze für einen Weltrekord bei etwa 17°C zog, so dürfte nach den Erfahrungen in Chicago die untere Schranke bei etwa 5 Grad liegen.

Aber auch mit seiner Renngestaltung wird Wanjiru in absehbarer Zeit den Weltrekord kaum verbessern. Mit einem sehr schnellen Beginn, anschließendem Taktieren und eingestreuten Zwischenspurts wird er zwar auch weitere Rennen gewinnen können. Für den Weltrekord wird das aber kaum langen. Diesbezüglich ist die Parallele zum diesjährigen London Marathon erstaunlich, denn in Chicago lief er in fast genau der gleichen Zeit die zweite Hälfte deutlich langsamer (1. Hälfte: 1:02:01, 2. Hälfte: 1:03:40).

Dies hatte in Chicago aber nicht nur mit dem Wetter zu tun, sondern lag an einer fehlenden kontrollierten Tempogestaltung in der zweiten Hälfte. Mit neidvoller Anerkennung schaut man auf den Berlin-Marathon, der seine letzten Weltrekorde u.a. der Beachtung dieser Fakten verdankt. Dort wird man sicher erleichtert die Kunde aus Chicago vernommen haben und kann jetzt bis zum Dubai Marathon im Januar warten, wo nach ersten Gerüchten Haile wieder seine Bestmarke angreifen will und wo eine optimierende Organisation in allen Belangen nichts dem Zufall überlässt.

Aber wie das Beispiel Chicago wieder zeigte: Der Marathon ist eine Freiluftveranstaltung, und man bleibt den Launen des Wetters ausgesetzt. Das macht die ganze Angelegenheit aber so interessant, auch für Samuel Wanjiru.

Der hat sicher nach wie vor das Potential für einen Marathon-Weltrekord, aber da müssen viele Komponenten zusammenspielen. Nicht unbedingt förderlich ist die Aufkündigung eines kontrollierten Trainings in Japan unter Coach Morishita. Dort begann er mit 15 Jahren eine einmalige Karriere, wobei die erste Zeit auf der im Winter sehr kalten Insel Hokkaido seiner Anpassung an die geringen Temperaturen am Sonntag in Chicago gewiss förderlich war. Da ihm das damals in Japan zu ungünstig erschien, wechselte er bald ins südliche Fukuoka, wo er auch 2007 sein Debut im Marathon in 2:06:39 gab.

Nun ist Sammy wieder in der kenianischen Heimat, wird von Dr. Rosa und Paul Tergat „angeleitet“, trainiert aber weitgehend nach eigenen Vorgaben. Man gewinnt den Eindruck, dass die Trainingsabläufe konzeptionell recht chaotisch gestaltet sind. In Andeutungen war nun zu erfahren, dass er über eine Rückkehr nach Japan nachdenkt, zumal man dort einen Weg gefunden zu haben scheint, die vorgeschriebenen langen Aufenthaltszeiten bei einer Beschäftigung im Land zu verkürzen.

Im Vergleich zu den Männern verlief das Rennen der Frauen insbesondere in der Anfangsphase überraschend passiv. Keine der arrivierten Läuferinnen ergriff die Initiative, so dass sich eine lokale Nachwuchshoffnung namens Tera Moody in Szene setzen konnte, die bei der WM in Berlin 2:36:39 lief und deren Bestzeit fast 15 Minuten hinter der der Favoritinnen Irina Mikitenko und Deena Kastor lag. Zwischenzeiten von 18:16 bei 5 km und 36:14 bei 10 km zeigten aber, dass das der Zurückhaltung der Eliteläuferinnen geschuldet war, die angesichts der hohen Standard in Chicago schon erstaunte.

Durch das langsame Tempo der breiten Spitze der Frauen gingen diese in dem zahlreichen Männerfeld fast unter, und die Kameras der TV-Übertragung hatten es nicht leicht, die Läuferinnen der Weltklasse in Szene zu setzen. Erst nach gut 15 km fasste sich die Äthiopierin Erkesso ein Herz und steigerte das Tempo, wobei sich schon hier zeigte, dass die beiden Altmeisterinnen Deena Kastor und Berhane Adere nur schwer folgen konnten. Beim Halbmarathon lag eine sechsköpfige Gruppe in indiskutablen 1:15:04 vorn, Paule Ratcliffe war 2002 bei ihrem Welt- und Streckenrekord von 2:17:18 bei ähnlich kalten Bedingungen über 5 Minuten schneller.

Das Rennen wurde nun aber deutlich schneller, und die 5 km Abschnitte legte man mehr als eine Minute schneller um die 17 Minuten zurück. Am Ende lief die Siegerin die zweite Hälfte in 1:10:52 über vier Minuten flotter. Nachdem zunächst Kastor und dann auch Adere dem Tempo der Spitze nicht mehr folgen konnten, kämpften in Richtung 40 km Marke vier Frauen um den Sieg: die beiden Russinnen Shobukhova und Vorjahressiegerin Grigoryeva, Erkesso (ETH) und Irina Mikitenko. Dabei versuchte Irina immer wieder das Tempo zu steigern, um die Zahl der Mitkonkurrentinnen weiter zu reduzieren. Irina war ja als eine der Favoritinnen an den Start gegangen und hatte beste Chancen diesen Lauf zu gewinnen.

Aber auch ihr wird nicht unbekannt gewesen sein, dass mit Shobukhova eine Läuferin an der Spitze dabei war, der das langsame Tempo in der ersten Hälfte nur gelegen kam. Die lief nämlich auf den Unterdistanzen in letzter Zeit nahezu Fabelzeiten, wie 14:23.75 (!) im Juli 2008 über 5000 m und ein Jahr später 30:30.93 über 10000 m, aktuelle Zeiten, die man kaum kommentieren muss.

Und obwohl Irina nach der gewiss nicht einfachen Vorbereitung auf den Lauf in Chicago im zweiten Teil eine Galavorstellung bot, war der Lauf für sie nicht zu gewinnen. Sie lief in 2:26:31 als Zweite ein, absolvierte die zweite Hälfte in guten 1:11 und konnte sich über dieses Resultat und den erneuten Gewinn der Marathon Majors sichtlich freuen.

Warum aber Irina diesen Lauf jenseits der 40 km gegen ihre russische Konkurrentin verlor, ist einem Schlussabschnitt von Shobukhova geschuldet, den man ohne Übertreibung als sensationell einstufen muss!

Zusammen mit Irina passierte sie die Matten bei 40 km in 2:19:20 und siegte in 2:25:56, d.h. für die letzten 2195 m brauchte sie fantastische 6:36, das sind genau 3 Minuten pro km. Ein schier unglaubliches Finish. Und das gewinnt noch eine andere Dimension, wenn man sieht, dass ca. 20 Minuten zuvor beim gleichen Lauf die Männer Sammy Wanjiru in 6:45 und Abderrahim Goumri in 6:42 langsamer waren. Das hat es vermutlich bei einem Elitemarathon noch nie gegeben.

Man kann da einfach nur über dieses Finale der Russin in ihren erst zweiten Marathon staunen. Selbst Irina lief in 7:11 noch einen hervorragenden Schlussteil. Ein Blick in die Statistik: auch Paula Ratcliffe kam bei ihrem Fabelweltrekord von 2:15:25 nicht in diese Dimension. Ihr 40 km Split von 2:08:29 bedeuten 6:56, gleichfalls klasse, aber kaum vergleichbar mit der Leistung der Russin. Erstaunlich nur, dass bei aller akribischer Suche nach Superlativen, diese einmalige Leistung in der Geschichte des Marathons bisher nicht thematisiert wurde.

Es gab noch eine weitere bemerkenswerte Bestmarke zu vermelden. Der an beiden Beinen amputierte Brite Richard Whitehead steigerte seine Bestmarke vom diesjährigen Rom Marathon auf 2:50:38. Damit wurde er 377. der Gesamtwertung. Beeindruckend was Mensch und Prothesenmaterial mittlerweile auch im Marathon leisten.

Für die großen Masse der Breitensportler waren die kalten Bedingungen deutlich förderlicher als die Hitze der Vorjahre. Zwar traten nur 34792 der angemeldeten 45000 Starter an, aber von denen kamen 33419 ins Ziel; eine beeindruckende Finisherquote von 96 %. Durch das kalte Wetter bleiben viele Zuschauer lieber zu Hause und schauten sich den Lauf – so Interesse bestand – in einer gut produzierten Liveübertragung von NBC-5 an.

Wie man 1,5 Millionen zählen konnte, ist kaum nachzuvollziehen. Eine vorsichtige Schätzung dürfte diese Zahl eher in dem Bereich von wenigen 10 % dieser Zahl sehen. Aber stimmungsvoll war es an einigen Punkten schon, der Zielbereich im Grant Park kam auch in diesem Jahr an seine Kapazitätsgrenzen.

Am Ende war eigentlich jeder zufrieden mit dem Ablauf einer wieder tollen Veranstaltung, allen voran die Sieger Sammy Wanjiru und Liliya Shobukhova, aber auch Irina Mikitenko. Denn die wird zusammen mit Sammy die aktuelle Runde der Marathon Majors gewinnen.

Und obwohl das kaum jemanden interessierte, für die beiden Gewinner der 500000 $ Preissumme lohnt sich dieser Wettbewerb auch ohne fehlende Akzeptanz in der Öffentlichkeit allemal.

Helmut Winter

author: GRR

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