Liu Xiang ist Olympiasieger von Athen 2004. Er lief 2006 in Lausanne in 12,88 Sekunden über 110 Meter Hürden Weltrekord. In Osaka 2007 wurde er Weltmeister
Air Liu fliegt nicht mehr – Michael Reinsch, Doha, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Air Liu ist wieder am Start. Statt mit Düsenantrieb scheint das Symbol der chinesischen Leichtathletik bei der Hallen-Weltmeisterschaft in Doha allerdings mit der Propellermaschine unterwegs zu sein. „Ich bin froh, wenn ich es ins Finale schaffe“, sagt der chinesische Hürdensprinter Liu Xiang nach dem Vorlauf: „Unmöglich, dass ich hier eine Medaille gewinne.“
Er sollte recht behalten. In 7,65 Sekunden – immerhin persönliche Jahresbestzeit – belegte der Chinese am Sonntag den siebten Platz. Den Titel gewann Olympiasieger Dayron Robles (Kuba) in starken 7,34 Sekunden vor den beiden Amerikanern Terrence Trammell (7,36) und David Oliver (7,44). Als bester Deutscher war Helge Schwarzer im Halbfinale in 7,74 Sekunden hängen geblieben.
Bei der Hallen-WM 2008 in Valencia war Liu noch zweieinhalb Zehntelsekunden schneller gewesen als jetzt in Doha: 7,49 Sekunden, . Seine Bestzeit datiert aus dem Jahr 2007, als er in Karlsruhe 7.42 lief. „Ich weiß, dass er viel besser ist“, sagt Trammell: „Er war der dominierende Mann unserer Sportart. Und er ist der Held, den die Leute zurückkommen sehen wollen.“
Der 26-Jährige Liu Xiang war zwar als Titelverteidiger über 60 Meter und die fünf Hürden nach Qatar gekommen. Doch er kann froh sein, dass er überhaupt wieder auf die Beine gekommen ist nach dem Absturz, den er vor fast zwei Jahren erlebte. Welche Hoffnung Politik, Publikum und nicht zuletzt der Sportapparat auf einen triumphalen Heimsieg von Liu bei den Olympischen Spielen von Peking 2008 gesetzt hatten, klang im Aspire Dome wie ein Nachhall an, als eine chinesische Fangruppe derart schrie und lärmte, dass der schlaksige Athlet aus Schanghai den Start unterbrach, aus dem Startblock aufstand und mit dem Finger auf den Lippen Ruhe von seinen Landsleuten einforderte.
Liu Xiang ist Olympiasieger von Athen 2004. Er lief 2006 in Lausanne in 12,88 Sekunden über 110 Meter Hürden Weltrekord. In Osaka 2007 wurde er Weltmeister. Als Werbefigur und Hoffnungsträger allgegenwärtig, sollte er persönlich beweisen, dass China auf dem Sprung ist. Dann brach das System Liu Xiang zusammen. An der Achillessehne seines rechten Fußes waren vier Kalkablagerungen, die nie recht behandelt worden waren, auf bis zu zwölf Millimeter Umfang gewachsen. Der Schmerz ließ sich ausgerechnet beim Vorlauf am 18. August nicht mehr wie in dem Monaten und Jahren zuvor mit Betäubungsmitteln unterdrücken und ignorieren.
Liu Xiang trat, rasend vor Schmerz, in den Katakomben gegen die Wände, schleppte sich an den Startblock – und verließ nach einem Fehlstart wortlos seine Bühne: das vollbesetzte Vogelnest. 80.000 Zuschauer schwiegen entsetzt, viele weinten. Lius Trainer Sun Haipeng musste sich unter Tränen erklären. Der tief verletzte Athlet zog sich in ein Militärhospital zurück. Er war zu hoch geflogen. Air Ikarus.
Er hat nach wie vor Schmerzen in der Achillessehne
Eine Operation in Houston/Texas, ein wochenlanger Klinikaufenthalt – und neunzehn Monate später ist er zurückgekehrt in die Welt der Leichtathletik. Sein Comeback gab er im vergangenen Herbst, als er beim Grand Prix in Schanghai an den Start ging. In der erstaunlich guten Zeit von 13,15 Sekunden wurde er Zweiter hinter Terrence Trammell.
Als er kurz darauf bei den chinesischen Nationalspielen vor 50.000 begeisterten Zuschauern siegte, glaubte er sich über den Berg. „Ich habe viele Goldmedaillen in meiner Karriere gewonnen“, sagte er. „Aber diese ist etwas Besonderes; sie macht mir neue Hoffnung.“ Sun Haipeng behauptete, die leichten Schmerzen, die Liu Xiang im Knöchel verspüre, hätten nichts zu bedeuten. Nach dem Vorlauf zog er sofort seine Spikes aus und verließ die Bahn barfuß. Er habe Schmerzen in der Achillessehne, sagte er unumwunden. „Es fühlt sich unangenehm an“, sagte er. „Mir fehlen Kraft und Stärke.“
„Der Zweck der Reise ist nicht, Medaillen zu gewinnen“
Für 1,3 Milliarden Chinesen ist Liu, was Usain Bolt für die westliche Welt ist: ein Superstar, der weit über seinen Sport hinaus Aufmerksamkeit erregt. Deshalb erwartet auch der neue Hallen-Weltmeister Robles seine Rückkehr. „Wer weiß, ob ich gesiegt hätte, wenn Liu fit gewesen wäre“, sagte der Kubaner, als er in Peking Olympiasieger geworden war.
Zwei Monate vorher hatte er in Ostrava den Weltrekord von Liu um eine Hundertstelsekunde unterboten. Und nun zitierte er Liu Xiang, der das Ausscheiden von Robles bei der Hallen-WM in Valencia genauso kommentiert hatte: Wenn der Kubaner nicht am Start hocken geblieben wäre, weil er einen Fehlstart gesehen zu haben glaubte, hätte er, Liu, vielleicht gar nicht gewonnen. Die Überflieger der Leichtathletik schätzen einander. Sobald Liu wieder konkurrenzfähig sei, sagt Robles, verleihe das ihrer Disziplin mehr Glanz.
Das kann dauern. Liu Xiang ist wohl vor allem zur Abwechslung von der Trainingsroutine nach Qatar geflogen. „Der Zweck der Reise ist nicht, Medaillen zu gewinnen“, sagt Delegationsleiter Feng Shuyong. „Er möchte einfach die Atmosphäre der Meisterschaft erleben.“ Auch Trainer Sun räumt ein, dass nicht einmal der Fuß auskuriert ist. „Durch die Intensivierung des Trainings spürt Liu leichte Muskelschmerzen um den Knöchel“, sagt er. „Und wir haben eine kleine Entzündung in dem Bereich seiner früheren Verletzung gefunden.“
Air Liu hat offenbar noch Probleme mit der Flugsicherheit.
Michael Reinsch, Doha, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 14. März 2010