Die erdrückende Überlegenheit der Übersee-Sportler, so scheint es, wollen EBU-Sender ihrer Kundschaft nicht ständig zumuten, europäische Einschaltquoten bei internationalen Championaten sinken konstant in gleichem Maße, wie der Medaillenanteil zurückgeht.
Warnsignal aus Doha – Der Leichtathletik-Weltverband ist finanziell in Bedrängnis – zudem tobt ein Machtkampf um Präsident Diack – Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung
München – Als Mitte März von der Hallen-WM der Leichtathleten aus Doha (Qatar) hierzulande keine bewegten Bilder im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu sehen waren (und in anderen mittel-europäischen Ländern auch nicht) und die Ereignisse der Cross-WM 14 Tage später in Bydgoszcz (Polen) nur in spärlichen Notizen der Printmedien Widerhall fanden, vermuteten Leichtathletikfreunde: Da stimmt doch was nicht?
Und tatsächlich: die Ursache für die TV-Probleme in diesem Frühjahr ist eine überraschende Volte vom vergangenen Oktober. Damals, unmittelbar nach der glanzvollen und hochquotigen WM 2009 in Berlin, hatte der Weltverband IAAF eine von bisherigen Usancen abweichende Finanzaktion fixiert: Den Verkauf der Fernsehrechte an allen IAAF-Weltmeisterschaften als Paket bis 2013 an den schwedischen Ableger der Pariser Unternehmensgruppe Lagardere (Jahresumsatz 13,4 Mrd.Euro), an International Events and Communication in Sports (IEC). Seit 1983 bis Ende 2009 war stets die EBU, in der Westeuropas Staatssender gebündelt sind, Abnehmer der Rechte gewesen.
Die Schweden hatten 80 Millionen Dollar geboten, die EBU trotz Nachbesserung nur etwa 63 Millionen (nach 80 Mio. bis 2008). Weil IEC zunächst auf der teuren Ware sitzen blieb (von den großen Öffentlich-Rechtlichen dockte vorerst nur RAI/Italien bei IEC an), gab es im März auf den meisten europäischen Bildschirmen nichts zu sehen.
Dass die IAAF mit EBU brach und die IEC-Millionen einsteckte, deuten Insider als finanztechnisch notwendige, aber wegen des Reichweitenproblems auch riskante Maßnahme zur Abfederung eines Finanzengpasses im ersten, weil von Rogges IOC höher als alle anderen Verbände subventionierten olympischen Sportverband.
Auf der IAAF-Councilsitzung Mitte März in Doha hatte Schatzmeister Jean Poczobut (Frankreich) seine 26 Kollegen mit dem Hinweis erschreckt, die IAAF lebe über ihre Verhältnisse, gebe seit geraumer Zeit mehr Geld aus, als sie einnehme. Wie es heißt, stünden 47 Millionen Dollar Einnahmen knapp 70 Millionen Ausgaben gegenüber.
Poczobuts „Warnsignal“ (Councilmitglied Helmut Digel-Tübingen) wurde nicht nur im Sitzungsraum von Doha vernommen. Auch die Londoner Tageszeitung Daily Mail bekam Wind vom nicht ausbalancierten IAAF-Etat. Ende März titelte das Blatt: „Exklusiv: Schock und Schrecken, IAAF steuert auf eine finanzielle Apokalypse zu“.
Die Leichtathletik gehe bankrott, wenn der Weltverband nicht seine Kosten senke, die Reserven seien bald aufgebraucht. Die IAAF reagierte prompt. Mediendirektor Nick Davies („die IAAF ist gewiss nicht immun gegen die raue Wirklichkeit des heutigen Finanzklimas“) musste eine an zwei Branchendienste in Deutschland und Großbritannien adressierte Erklärung formulieren.
In der wurden vor allem die Verdienste der Präsidentschaft Lamine Diacks um die Mittelakquise betont. Und: Die Rücklage habe Ende 2008 81,5 Millionen Dollar betragen. Diese Summe veranlasste Daily Mail-Autor Neil Wilson, einen seit 40 Jahren mit der IAAF und dem IOC beschäftigten Reporter, nachzufragen, „warum der Schatzmeister dann nach nur 15 Monaten seine Besorgnis vortragen muss“.
Was von dem Geplänkel um die Finanzsituation der IAAF, die Ratsmitglied Digel zufolge „so stabile Einnahmen hat wie nur noch Fifa und IOC, in mehrfacher Millionenhöhe auf zehn Jahre“, zu halten ist? Vermutlich steckt ein neuer, von England aus gestarteter Versuch der Europa-Leichtathletik dahinter, die seit 1999 währende IAAF-Präsidentschaft des Senegalesen Diack, 76, zu beenden, seine „Afrika-Politik mit afrikanischen Interessen, die nicht ganz billig sind“ (Digel).
Die Europäer sorgen sich, weiter abgehängt zu werden. Sie bieten der Sportart wohl die attraktivsten Bühnen, die aber werden nur von den Wunderknaben und Powerfrauen aus der Karibik, Afrika und den USA zur Selbst-darstellung genutzt. Eigene weltweit vermarktbare Stars sind: Mangelware. Hochspringerin Blanca Vlasic vielleicht und Stabartistin Jelena Isinbajewa, doch die hat sich gerade in eine unbefristete Schaffenspause verabschiedet. Die erdrückende Überlegenheit der Übersee-Sportler, so scheint es, wollen EBU-Sender ihrer Kundschaft nicht ständig zumuten, europäische Einschaltquoten bei internationalen Championaten sinken konstant in gleichem Maße, wie der Medaillenanteil zurückgeht.
Die Anstrengungen der Europäer, durch die Wahl eines der Ihren zum IAAF-Präsidenten (der letzte war der 1999 früh verstorbene Italiener Nebiolo) ihren Einfluss zu verbessern, laufen nach Lage der Dinge jedoch ins Leere.
Erstes Handicap: Europa geht nicht geschlossen zu Werke. Statt sich auf einen Kandidaten festzulegen, streben die IAAF-Vizepräsidenten Sergei Bubka (46, Ukraine), noch amtierender Stabhochsprung-Weltrekordler, und Sebastian Coe, 53, die britische Ikone der Mittelstrecke, nach dem höchsten Amt.
Zweites und wohl entscheidendes Hindernis: Lamine Diack wird sich 2011, wenn er 78 ist, zum dritten Mal zur Wahl stellen. Dies verlautet aus seriöser Quelle. Es heißt, Diack denke darüber nach und werde sich in den nächsten vier Wochen erklären. Hintergrund dieses unerwarteten Schritts ist die Ambition des Afrikaners, 2012 Staatschef von Senegal zu werden. Seine Wahlchancen seien mit dem Amt des IAAF-Präsidenten besser.
Das allgemeine Unbehagen ob dieser Strategie hat ein Szenekenner so formuliert: „Und niemand in der IAAF wehrt sich dagegen“.
Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung. Donnerstag, dem 15. April 2010
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