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24
05
2010

Ein Marathonlauf war in den 1960er-Jahren für Frauen ein utopisches Ziel.

Liane Winter – Pionierin des Erlebnislaufens – Für zwei Wochen war sie die schnellste Marathon-Läuferin der Welt – Christian Ermert in „leichtathletik“

By GRR 0

Liane Winter war Ehrengast des Festaktes "2500 Jahre Marathon" des DLV und des LSB Rheinland-Pfalz am 7. Mai 2010 in Mainz aus Anlaß des Novo Nordisk Gutenberg Marathon Mainz. Sie gehörte zu den prominenten Läuferinnen und Läufern des DLV, die den deutschen Marathonlauf geprägt und entwickelt haben.

Liane Winter war eine Vorkämpferin für den Frauen-Marathonlauf und für kurze Zeit die schnellste Marathonläuferin der Welt. Sie ist ein Beispiel für eine große Athletin und gleichzeitig demonstrierte sie, wie man ein schweres Schicksal meistern kann. Sie wurde beim Festakt entsprechend gefeiert und gewürdigt. Wilfried Raatz interviewte sie am nächsten Tage auf der Marathon-Messe des Mainz-Marathon bei einer Podiumsdiskussion von German Road Races (GRR) vor einem großen Publikum.

Horst Milde

1975 gewann Liane Winter in 2:42:24 Stunden als erste Nicht-Amerikanerin den Boston-Marathon. Für zwei Wochen war sie die schnellste Marathon-Läuferin der Welt. Heute sitzt die 67-Jährige zwar im Rollstuhl, weil sie an Multipler Sklerose leidet – sportlich aktiv ist sie dennoch Tag für Tag.

Die Bewegung hilft der Wolfsburgerin, mit der Krankheit zu leben.

Aus dem Büro nach Hause kommen, Laufschuhe schnüren und los. Für Hunderttausende von Frauen ist das längst abendliche Routine. In den 1960er-Jahren war dies das Verhalten einer gesellschaftlichen Außenseiterin. „Damals durfte man sich nicht mal in Sportkleidung auf der Straße blicken lassen“, erinnert sich Liane Winter, „schon gar nicht als Frau.“

Deshalb ist sie zu dieser Zeit immer erst losgelaufen, wenn es draußen dunkel war. Zusammen mit einem befreundeten Marathonläufer hat sie ihre ersten Laufschritte außerhalb des Stadions gemacht. „Wenn eins der wenigen Autos vorbeigekommen ist, die es gab, haben wir uns im Straßengraben versteckt“, erzählt sie und schmunzelt. Damals lebte die gebürtige Leipzigerin im hessischen Wetzlar, wohin es sie in den Flüchtlingswirren nach dem zweiten Weltkrieg zusammen mit ihrer alleinerziehenden Mutter verschlagen hatte.

Ein Marathonlauf war in den 1960er-Jahren für Frauen ein utopisches Ziel. Es war ihnen schlicht nicht erlaubt, 42,195 Kilometer im Wettkampf zu laufen. Noch 1967 musste sich die US-Amerikanerin Kathrine Switzer als Mann verkleiden, um sich an den Start des Boston-Marathons zu schmuggeln. Und auch als Liane Winter sieben Jahre später ihren ersten Marathon laufen wollte, wurden ihr hohe Hürden in den Weg gestellt. Ein ärztliches Gesundheitsattest war damals obligatorisch.

„Ihr Puls ist zu niedrig. Ich verschreibe Ihnen jetzt Tropfen, damit Ihr Herz schneller schlägt.“ Mit diesen Worten und ohne Attest schickte der Arzt Liane Winter nach Hause. Sie verschwieg, eine austrainierte Läuferin zu sein. „Damals konnte man ja gar nicht öffentlich erklären, dass man Marathon laufen will“, erinnert sie sich.

Trotzdem reiste sie im Februar 1974 nach Husum an die Nordseeküste, um bei ihrem ersten Marathon zu starten. Dort angekommen, führte ihr erster Weg wieder zu einem Arzt, der ihre Gesundheit in letzter Minute bestätigen sollte. Ihr Blutdruck wurde gemessen – und war zu hoch. „Erst als ich erklärt hatte, dass meine Nervosität die Ursache dafür war, durfte ich starten.“ Trotz Kälte und Wind kam die 1,80 Meter große Läuferin nach 3:11 Stunden ins Ziel.

Ein halbes Jahr später verbesserte sich Liane Winter auf 2:50:31 Stunden. Europäische Bestzeit beim zweiten Frauen-Marathon in Schwalmtal-Waldniel, den „Laufdoktor“ Ernst van Aaken 1973 als ersten internationalen Marathon für Frauen ins Leben gerufen hatte. Weitere sechs Monate später fand Liane Winter ein Flugticket nach Boston im US-Bundesstaat Massachusetts in ihrem Briefkasten. Absender: Dr. Ernst van Aaken.

Der Laufexperte plante eine Vortragsreihe in die USA. Liane Winter sollte ihn nach Boston begleiten und beim ältesten Marathon der Welt starten.

Sie rannte als erste Ausländerin zum Sieg und gehörte fortan zu den bekanntesten Läuferinnen weltweit.

Die Medaille aus massivem Gold, mit der in Boston die Sieger ausgezeichnet werden, erhielt sie allerdings erst 21 Jahre später. Bei den Jubiläumsfeiern 100 Jahre nach dem ersten Boston-Marathon holten die Veranstalter 1996 nach, was sie der Wolfsburgerin 1975 noch verwehrt hatten: eine den Männern ebenbürtige Siegeszeremonie.

Ihre 2:42:24 Stunden vom 21. April 1975 waren Weltbestzeit. Allerdings nur für zwei Wochen. Am 3. Mai lief Christa Vahlensieck in Dülmen 2:40:15 Stunden. „Sie war auf den kürzeren Strecken viel schneller als ich und außerdem sieben Jahre jünger“, sagt Liane Winter, für die es deshalb keine Überraschung war, dass Christa Vahlensieck in ganz andere Bereich vorstoßen sollte als sie. 1983 verbesserte sich die Düsseldorferin auf 2:33:22 Stunden.

Liane Winter zog damals schon Landschaftsläufe der Bestzeitenjagd auf dem Asphalt vor: „Ich war eine Erlebnisläuferin.“ Am wohlsten fühlte sie sich bei Naturläufen wie dem Schwarzwald-Marathon, bei dem sie sich 1991 mit ihrem 50. Lauf über 42,195 Kilometer vom Marathon verabschiedete, oder dem Hermannslauf im Teutoburger Wald. Eine Stoppuhr besaß sie nicht. Ihr Training bestand aus langen Läufen durch die Natur. Oft war sie stundenlang mit einem kleinen Verpflegungs-Rucksack in der Landschaft um Wolfsburg unterwegs.

Auch lange Radtouren gehörten zum Training. „Das war für mich der perfekte Ausgleich zum Alltag im Büro“, erinnert sich Liane Winter. Einmal ist sie von Wolfsburg ins gut 200 Kilometer entfernte Lübeck gelaufen – in nur zwei Tagesetappen und ganz allein. „Ich habe kurz das Holstentor angefasst und dann ging es zurück.“

Bis zu ihrer Frührente 1999 hat sie als Sachbearbeiterin bei VW gearbeitet. Anfang der 1990er-Jahre begann ihre Leidensgeschichte. Unter der warmen Dusche fühlte sich ihr linkes Bein eiskalt an, manchmal durchzuckten sie Schmerzen wie Stromstöße. Acht Jahre lang konnte kein Arzt diagnostizieren, woran sie litt. Sie schluckte jede Menge Medikamente gegen die unterschiedlichsten Krankheiten. Nichts half. Es ging ihr immer schlechter. Sie litt an Krämpfen, in den Beinen kribbelte es. Von den Medikamenten wurde sie immer schlapper und müder. „Ich war am Ende, so konnte ich nicht weiterleben“, erinnert sie sich an die schwerste Zeit ihres Lebens.

2003 erfuhr Liane Winter, dass sie an Multipler Sklerose leidet. Da saß sie schon im Rollstuhl. Obwohl sie genau wusste, dass die Krankheit unheilbar ist, fühlte sie große Erleichterung. Sie las alles, was ihr zum Thema Multiple Sklerose in die Finger kam. Und fällte eine Entscheidung: „Ich nehme seitdem keine Medikamente mehr.“ Sogar auf Kopfschmerztabletten verzichtet sie, setzt stattdessen auf gesunde Ernährung und Bewegung. Dabei muss sie allerdings wie eine Leistungssportlerin auf die richtige Mischung aus Beanspruchung und Entlastung achten, um die Krankheit im Griff zu behalten. „Wenn ich mich angestrengt habe, brauche ich immer eine Ruhephase.“
Um dabei nicht gestört zu werden, geht sie nur zwischen sieben und neun Uhr abends ans Telefon. „Meine Freunde und

Verwandte wissen und respektieren das“, sagt sie. Auf die moderne Kommunikation verzichtet sie ganz bewusst: Liane Winter hat kein Handy, kein Fax und keinen Computer. Die 68-Jährige lebt alleine in ihrer kleinen Wohnung in Wolfsburg – so wie ihr ganzes Leben schon. Auf Hilfe will sie nicht angewiesen sein, Lebenspartner sucht sie keinen: „Was soll ich mir auf meine alten Tage noch jemanden anlachen?“

In ihrem Rollstuhl ist sie jeden Tag in Wolfsburg unterwegs. Beim Berlin-Marathon fährt sie Jahr für Jahr mit. 

Wenn sie nicht ihr tägliches Training abspult – zehn bis 15 Kilometer, bei dem sie den Rollstuhl mit einem angekuppelten Laufrad und Handkurbeln bis auf 20 Stundenkilometer beschleunigt – erledigt sie ihre Einkäufe. Am liebsten auf dem Markt – dort gibt es die frischen Produkte, die sie so schätzt. Fertiggerichte und tierische Fette meidet sie, stattdessen bevorzugt sie Obst, Gemüse und Kräuter, ergänzt durch Fisch und Sojaprodukte.

Und ihre eigene Ernährung empfiehlt sie auch der aktuelle Generation im Marathon: „Mit Pommes und Würstchen läuft niemand schnell.“

Christian Ermert in "leichathletik" – Nr. 19 vom 12. Mai 2010

https://www.leichtathletik.de/index.php?SiteID=578

 

Die Arme laufen weiter – Liane Winter beim Berlin-Marathon 2007 – Friedhard Teuffel im Tagesspiegel

 

Liane Winter aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Liane Winter (* 24. Juni 1942) ist eine ehemalige deutsche Langstreckenläuferin, die in den 1970er Jahren eine Pionierin des Marathonlaufs war.

Am 24. April 1975 gewann sie als erste Ausländerin den Boston-Marathon. Ihre Zeit von 2:42:25 Stunden war zugleich eine Weltbestzeit.

Im Jahr zuvor hatte sie schon in Wolfsburg und in Waldniel deutsche Marathonrekorde aufgestellt. Ein weiterer deutscher Rekord gelang ihr mit 37:16 Minuten im 10-Kilometer-Straßenlauf am 31. Juli 1977 in Brügge.

1979 wurde sie Deutsche Meisterin der Bundesrepublik im Marathon. Im Laufe ihrer Sportlerkarriere bestritt sie 50 Marathonläufe, den letzten im Alter von 50 Jahren.

Liane Winter startete für den Sportverein VfL Wolfsburg. Sie war bis zum 60. Lebensjahr kaufmännische Angestellte bei der Volkswagen AG.

Seit den 1990er Jahren leidet sie an multipler Sklerose, die ihr das Laufen unmöglich macht. Mittels eines Handbikes betreibt sie jedoch auch weiterhin Sport.

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author: GRR

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