Mit Nationalmannschaftsgefühl im Rückstand – Die Leichtathleten erleben bei der Team-EM das seltene Gefühl von Mannschaftssportlern. Der Mannschaftsgeist hilft freilich wenig. Die Deutschen laufen, springen und werfen hinterher – Michael Reinsch, Bergen/Norwegen, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Auch die deutschen Leichtathleten erleben den Nationalmannschafts-Effekt. Eigentlich sind es sogar zwei solche Effekte. Zum einen erleben die notorischen Einzelkämpfer bei der Team-Europameisterschaft in Bergen an der norwegischen Atlantikküste bei strahlendem Sonnenschein das seltene Gefühl, in einer Mannschaft zu kämpfen.
„Das trägt einen“, schwärmte die Siegerin im Diskuswerfen, die Leipzigerin Nadine Müller, nach ihrem souveränen Sieg mit 63,53 Meter, die sie im ersten ihrer vier Versuche erreichte. „Alle wünschen einem Glück, alle schütteln einem die Hand.“ Vom Start weg legte sie fast genau drei Meter mehr vor, als die Zweitplatzierte Nadja Sadova aus Russland (59,59) erreichen sollte, und blieb dennoch vier Meter hinter ihrer Bestleistung von 67,78 Meter aus diesem Frühjahr zurück. Sie werde an Kraft und Technik hart arbeiten, versprach die 24-jährige, um bei der Europameisterschaft in Barcelona auf einen Medaillenrang zu kommen. Dann setze sie sich zu den Mannschaftskameraden in die Startkurve.
Der andere Nationalmannschafts-Effekt könnte dem ähneln, den die Leichtathleten am Freitag im Mannschaftshotel gemeinsam vor dem Fernseher verfolgen konnten: wie Favorit Deutschland bei der Fußball-Weltmeisterschaft an Serbien scheiterte. Titelverteidiger Deutschland geht an diesem Sonntag als Siebter, mit nur 141,5 Punkten – das macht 67,5 Punkte Rückstand auf das russische Team – in die zweite Halbzeit. Das ist eine herbe Enttäuschung. „Falls sich Resignation breitmacht“, überlegte der Kugelstoßer Ralf Bartels, der Kapitän der Mannschaft, deshalb am Samstagabend, werde er vielleicht beim Frühstück einige aufmunternde Worte an seine Mitstreiter richten. „Im Europapokal haben wir auch manchmal zurückgelegen und es dann umgebogen.“ Mit nur zwei Zentimeter Rückstand auf den polnischen Olympiasieger Tomasz Majewski (20,63) war Bartels (20,61) Zweiter geworden.
Für den zweiten von nur zwei Siegen sorgte im Fana-Stadion Speerwerferin Christina Obergföll. „Einen solchen Wettkampf habe ich noch nie erlebt“, staunte sie, als sie bei starkem Wind mit nur 59,88 Meter über die Britin Goldie Sayers (59,25) und die Russin Maiya Abakumova (58,24) gesiegt hatte. „Es war, als würde man gegen eine Wand laufen.“
Den Klose-Effekt erlebte Sprinter Martin Keller. Nicht wegen zweier Fouls, sondern, wie das neuerdings so ist, weil er im Startblock zuckte, bekam der Chemnitzer die Rote Karte zu sehen und musste die Bahn verlassen. Während der britische Hallen-Weltmeister Dwain Chambers, wegen seiner Vergangenheit als Doper bei den Sportfesten der Diamond League nicht eingeladen, mit seinem Sieg in 9,9 Sekunden über den jungen französischen Herausforderer Christophe Lemaitre (10,02 Sekunden) zusätzlich zum Gewinn von zwölf Punkten seinen Platz in der europäischen Hierarchie festigte, gab es für die deutsche Mannschaft für den Hundertmeterlauf null Punkte.
„Abgerechnet wird zum Schluss“
Zweistellig punkteten aus der deutschen Mannschaft am Samstag nur noch Stabhochspringerin Silke Spiegelburg als Zweite (elf Punkte) mit 4,65 Meter hinter der Russin Svetlana Feofanova, die bei gleicher Höhe keinen Fehlversuch hatte, sowie Hammerwerfer Markus Esser und 1500-Meter-Läufer Carsten Schlangen. Esser war mit seiner Weite von 75,79 Meter überhaupt nicht zufrieden und konstatiert ein Formtief. Schlangen konnte sich über seine Zeit von 3:46,89 Minuten nicht beklagen, verschleppte die Konkurrenz doch taktisch das Rennen, in dem der Berliner auf Platz drei und damit zu zehn Punkten spurtete.
Die Siege der beiden deutschen Staffeln zum Abschluss waren nicht die volle Punktzahl wert. Weil die deutsche Mannschaft in die zweite Hälfte der Wertung abgerutscht war, mussten ihre Sprinter in den B-Lauf. Allein an der Spitze kamen Christian Blum, Till Helmke, Alexander Kosenkow und der unglückliche Martin Keller nur auf 39,07 Sekunden, umgerechnet Platz drei. Mit der Hürdensprinterin Carolin Nytra liefen Anne Möllinger, Marion Wagner und Verena Sailer in 43,79 Sekunden sogar nur auf den enttäuschenden Rang fünf.
Allein Carolin Nytra strahlte nach dem Rennen. „Es ist ein schönes Erlebnis und eine Ehre, mit der Bronzestaffel von der Weltmeisterschaft zu laufen“, sagte sie. Sie ersetzte Cathleen Tschirch, die sich den Blinddarm entfernen lassen musste. Noch sei nichts verloren, behauptete tapfer der Präsident des deutschen Verbandes, Clemens Prokop. „Abgerechnet wird zum Schluss.“ Nun ja, vorzeitig ausscheiden kann die deutsche Mannschaft der Leichtathleten im Gegensatz zu der der Fußballspieler immerhin nicht.
Leichtathletik, Team-EM Männer/Frauen in Bergen/Norwegen, Stand nach dem 1. Tag: Gesamtwertung: 1. Russland 209 Punkte, 2. Großbritannien 188, 3. Italien 154,5, 4. Ukraine 153, 5. Frankreich 150,5, 6. Polen 143, 7. Deutschland 141,5, 8. Weißrussland 110,5, 9. Spanien 106, 10. Griechenland 101, 11. Norwegen 95, 12. Finnland 80
Einzeldisziplinen
Männer
100 m (1,1 m Rückenwind/regulär): 1. Dwain Chambers (Großbritannien) 9,99 Sekunden, 2. Christophe Lemaitre (Frankreich) 10,02, 3. Emanuele Di Gregorio (Italien) 10,20, … disqualifiziert nach Fehlstart: Martin Keller (Chemnitz) 400 m: 1. Martyn Rooney (Großbritannien) 45,67, 2. Leslie Djhone (Frankreich) 45,72, 3. Wladimir Krasnow (Russland) 45,74, 5. Thomas Schneider (Potsdam) 46,36 1500 m: 1. Colin McCourt (Großbritannien) 3:46,70 Minuten, 2. Christian Obrist (Italien) 3:36,77, 3. Carsten Schlangen (Berlin) 3:46,89 5000 m: 1. Mo Farah (Großbritannien) 13:46,93, 2. Alemayehu Bezabeh (Spanien) 13:49,24, 3. Sergej Lebid (Ukraine) 13:49,90, … 11. Christian Glatting (Wattenscheid) 14:09,78 4×100 m: 1. Italien 38,83 Sekunden, 2. Großbritannien 39,00, 3. Deutschland (Christian Blum/Chemnitz, Till Helmke/Friedberg-Fauerbach, Alexander Kosenkow/Wattenscheid, Martin Keller/Chemnitz) 39,07, 4. Polen 39,09, 5. Russland 39,32 400 m Hürden: 1. David Greene (Großbritannien) 49,53, 2. Iakovakis Periklis (Griechenland) 50,13, 3. Aleksandr Derewjagin (Russland) 50,20, … 6. Silvio Schirrmeister (Dresden) 51,16 Hochsprung: 1. Aleksander Schustow (Russland) 2,28 m, 2. Tom Parsons (Großbritannien) 2,25, 3. Andrej Prozenko (Ukraine) 2,22, … 10. Raul Spank (Dresden) 2,18 Weitsprung: 1. Pawel Schalin (Russland) 8,26 m, 2. Chris Tomlinson (Großbritannien) 7,98 m, 3. Kafetien Gomis (Frankreich) 7,88 m, … 6. Christian Reif (Ludwigshafen) 7,80 Kugelstoßen: 1. Tomasz Majewski (Polen) 20,63 m, 2. Ralf Bartels (Neubrandenburg) 20,61, 3. Yves Niare (Frankreich) 20,35 Hammerwurf: 1. Pawel Kriwitzki (Weißrussland) 77,79 m, 2. Nicola Vizzoni (Italien) 77,54, 3. Markus Esser (Leverkusen) 75,79
Frauen
100 m: 1. Veronique Mang (Frankreich) 11,23 Sekunden, 2. Ezinne Okparaebo (Norwegen) 11,30, 3. Yeoryia Kokloni (Griechenland) 11,31, … 7. Verena Sailer (Mannheim) 11,39 400 m: 1. Ksenija Ustalowa (Russland) 51,79 Sekunden, 2. Antonina Jefremowa (Ukraine) 52,47, 3. Swetlana Usowitsch (Ukraine) 52,91, … 7. Esther Cremer (Wattenscheid) 54,59 800 m: 1. Natalja Lupu (Ukraine) 2:02,74 Minuten, 2. Swetlana Kluyka (Russland) 2:03,91, 3. Elisa Cusma Piccione (Italien) 2:03,91, … 10. Claudia Hoffmann (Potsdam) 2:05,22 3000 m: 1. Jelena Sadoroschnaja (Russland) 9:08,42 Minuten, 2. Renata Plis (Polen) 9:08,94, 3. Ragnhild Kvarberg (Norwegen) 9:09,59, … 10. Simret Restle (Kassel) 9:21,82 4×100 m: 1. Russland 42,98 Sekunden, 2. Frankreich 43,47, 3. Ukraine 43,72, 4. Großbritannien 43,77, 5. Deutschland (Nytra/Bremen, Marion Wagner, Anne Möllinger, Verena Sailer/alle Mainz) 43,79 400 m Hürden: 1. Natalja Antjuch (Russland) 55,27 Sekunden, 2. Eilidh Child (Großbritannien) 56,48, 3. Anastasija Rabschentschuk (Ukraine) 56,79, … 6. Fabienne Kohlmann (Karlstadt) 58,06 3000 m Hindernis: 1. Julia Sarudnewa (Russland) 9:23,00 Minuten, 2. Katarzyna Kowalska (Polen) 9:43,40, 3. Barbara Parker (Großbritannien) 9:43,40, … 10. Verena Dreier (Kirchen) 10:06,41 Stabhochsprung: 1. Swetlana Feofanowa (Russland) 4,65 m, 2. ilke Spiegelburg (Leverkusen) 4,65, 3. Anna Rogowska (Polen) 4,40 Dreisprung: 1. Olha Saladuha (Ukraine) 14,39 m, 2. Athanasia Perra (Griechenland) 14,34, 3. Jekaterina Kajukowa (Russland) 14,15, … 8. Katja Demut (Jena) 13,78 Diskuswurf: 1. Nadine Müller (Halle/Saale) 63,53 m, 2. Natalja Sadowa (Russland) 59,59, 3. Kateryna Karsak (Ukraine) 57,20 Speerwurf: 1. Christina Obergföll (Offenburg) 59,88 m, 2. Maria Abakumowa (Russland) 58,24, 3. Goldie Sayers (Großbritannien) 57,84
Michael Reinsch, Bergen/Norwegen, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sonnabend, dem 19. Juni 2010
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