Der Einsatz der deutschen Leichtathleten verdeutlichte, dass der Stellenwert der noch jungen Veranstaltung trotz bescheidenen Zuschauerbesuchs rapide wächst.
Wenn das Vaterland ruft – Michael Reinsch, Bergen/Norwegen, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die deutschen Leichathleten stellen sich bei der Team-Europameisterschaft ihre Einzelinteressen zurück. Dennoch kommt der Vorjahressieger dieses Mal nicht an Russen und Briten heran.
Mit zwei Überraschungssiegen hat die deutsche Nationalmannschaft der Leichtathleten ihren Einbruch wettgemacht. Zum Schluss der Team-Europameisterschaft in Bergen in Norwegen gewannen am Sonntag erst die Kölnerin Sabrina Mockenhaupt das Rennen über 5000 Meter (15:17,38) und dann der Saarbrücker Matthias de Zordo das Speerwerfen mit 83,80 Meter vor dem norwegischen Lokalmatador, Weltmeister und Olympiasieger Andreas Thorkildson.
Zusammen mit den vorausgegangen und voraussehbaren Erfolgen in den Wurfdisziplinen von Diskus-Weltmeister Robert Harting (Berlin), Hammerwerferin Betty Heidler (Frankfurt), Diskuswerferin Nadine Müller (Leipzig) und Speerwerferin Christina Obergföll (Offenburg) kämpfte sich die deutsche Auswahl, die zwischenzeitlich auf Rang sieben abgerutscht war, auf Platz drei vor. Das russische Team löst mit 13 Siegen in vierzig Wettkämpfen und 379,5 Punkten das deutsche ab; Zweiter wurde Großbritannien mit acht Siegen und 317 Punkten. Die deutsche Auswahl kam auf 304,5 Punkte.
Volle Kraft für Deutschland: Betty Heidler wirft den Hammer
Ausgerechnet die kleine, nur 1,65 Meter große Sabrina Mockenhaupt reihte sich in bei den großen, starken deutschen Einzelsiegern ein. „Endlich ein Rennen, in dem ich das Gefühl hatte, ich spiele die Musik“, sagte die 29 Jahre alte Rheinländerin. Oft genug rennt sie, auf der Bahn und auf der Straße, aussichtslos der Konkurrenz aus Kenia und Äthiopien hinterher. Nach ihrem Sieg eilte sie auf die Tribüne, um ihre Mannschaftskameraden anzufeuern.
Der erst 22 Jahre alte de Zordo machte sich bei seinem ersten großen internationalen Wettkampf gleich in der Heimat großer Speerwerfer bekannt. Er folgte damit der Devise, die Weltmeister Harting ausgegeben hatte, nachdem er gewonnen hatte: „Wichtig ist, dass wir durchrocken heute.“ Ihm war der Mannschaftserfolg mindestens so wichtig wie der persönliche. „Mit einem Fuß stehe ich für das Team im Ring und mit dem anderen für mich“, sagte Harting.
Der Einsatz der deutschen Leichtathleten verdeutlichte, dass der Stellenwert der noch jungen Veranstaltung trotz bescheidenen Zuschauerbesuchs rapide wächst. „Ich habe immer im Hinterkopf: die Mannschaft zählt“, sagte Ralf Bartels, der im Kugelstoßen mit 20,61 Meter Zweiter wurde. Die nur zwei Zentimeter, die er kürzer stieß als Olympiasieger Tomasz Majewski, führt er auf Mängel im Bewegungsablauf zurück. „Eigentlich sollte ich längst im Training daran arbeiten“, sagte er. „Aber das Vaterland ruft, und Spaß macht es hier auch.“
Auch Betty Heidler kämpfte nicht für sich. Die ehemalige Weltmeisterin freute sich ausdrücklich für die anderen, dass sie zum Auftakt des zweiten Tages das Hammerwerfen mit 73,24 Meter gewonnen hatte. „Das Beste, was der Mannschaft passieren konnte“, sagte sie. Alles Weitere stand dahinter zurück. „Persönlich bin ich nicht ganz zufrieden“, verriet sie. „Mein weitester Wurf war ungültig.“ Zu diesem Zeitpunkt war das Unternehmen Titelverteidigung bereits gescheitert.
„Die Russen haben in diesem Jahr nicht die dritte Garnitur geschickt, sondern die erste“, konstatierte Betty Heidler. Tatsächlich hat die russische Politik internationale Meisterschaften wie die von Bergen aufgewertet. Sie hat ihren Athleten für die Teilnahme einen Bonus bei der Nominierung für die Einzel-Europameisterschaft in sechs Wochen in Barcelona versprochen und den Trainern üppige Prämien. Schon läuft's.
Diesmal sorgten andere für die Überraschungen
Die Deutschen nahmen diese Team-EM schon im vergangenen Jahr ernst, als sie aus dem Europapokal geschaffen wurde. Sie sorgten dafür, dass bei der Premiere in Leiria in Portugal die deutsche Hymne gespielt wurde. Der Patriotismus hat ein Ziel. Man müsse Identifikationsmechanismen schaffen, sagt Sportdirektor Thomas Kurschilgen vom Deutschen Leichtathletik-Verband. Mit wem identifizieren sich Zuschauer leichter als mit der Nationalmannschaft? Die Russen sind es leid, für Verlierer gehalten zu werden, und die Briten wollen ihre Olympischen Spiele in London 2012 als Sieger angehen.
„Unseren Athleten ist bewusst, dass sie nationale Verantwortung tragen“, sagt Kurschilgen. „Und sie spüren: Jeder trägt direkt zum Gesamtergebnis bei.“ Oder auch nicht. Der Chemnitzer Sprinter Martin Keller handelte sich, weil die Elektronik ein Zucken vor dem Start feststellte, eine Disqualifikation wegen Fehlstarts ein: null Punkte. Das sorgte dafür, dass sein Team in die zweite Hälfte der zwölf Teilnehmer abrutschte und die Sprintstaffeln im B-Lauf starten mussten. „Ich hätte statt der null auch zehn Punkte machen können“, sagte Keller, nachdem er mit der Staffel in der Gesamtrechnung (39,07 Sekunden) für Platz drei mit genau dieser Punktzahl entlohnt worden war.
Er war sicher, dass er hinter den Überfliegern der Saison – dem Engländer Dwain Chambers (9,99 Sekunden) und dem Franzosen Christophe Lemaitre (10,02) – der Schnellste gewesen wäre: „10,20 hätte ich geschafft.“ Diesmal sorgten andere für die Überraschungen.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 20. Juni 2010
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