Positiver Test: Für Shelly-Ann Fraser ist der Vorwurf des Dopings verheerend. Stets hatte die Dreiundzwanzigjährige betont, Vorbild sein zu wollen. Nun muss der Verband Jamaikas über eine mögliche Sanktionierung entscheiden.
Shelly-Ann Fraser – Mehr als nur Zahnschmerzen – Von Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Zähne sollen der Grund sein. Shelly-Ann Fraser, die Olympiasiegerin und Weltmeisterin über hundert Meter, ist positiv auf ein im Sport verbotenes Schmerzmittel getestet worden. Sie reiste aus Lausanne, wo sie am Donnerstag über den Befund informiert wurde, zurück in ihre Heimat Jamaika – ohne am Abend beim Golden-League Sportfest zu starten.
Für die Dreiundzwanzigjährige ist der Vorwurf des Dopings verheerend. Stets hatte sie betont, dass sie mit ihrem Ehrgeiz und Arbeitsethos Vorbild für Kinder und Jugendliche sein wolle, die wie sie aus dem Getto stammten. Seit Januar ist sie Botschafterin für das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, Unicef. Die nur 1,60 Meter große Sprinterin gewann bei den Olympischen Spielen von Peking 2008 in 10,78 Sekunden und siegte bei der WM in Berlin 2009 in 10,79. Ihre Bestzeit beträgt 10,73; nur drei Frauen waren schneller.
Shelly-Ann Fraser startet für die Laufgruppe MVP Track and Field Club aus Kingston, die von Trainer Stephen Francis geführt wird. Ihr gehören die drei Sprinter an, die mit Usain Bolt bei den Olympischen Spielen in der Staffel Weltrekord liefen – Asafa Powell, Nesta Carter und Michael Frater – die Olympiasiegerin über 400 Meter Hürden, Melaine Walker, sowie die Weltmeisterin im Hürdensprint, Brigitte Foster-Hylton. Bruce James, Präsident von MVP, sagte, es habe sich bei dem inkriminierten Wirkstoff um Oxycodon gehandelt. Dieser gilt, da morphinhaltig, als Narkotikum.
„Wir informieren, weil wir nichts zu verstecken haben“
Shelly-Ann Fraser sei beim Diamond-League-Sportfest von Schanghai am 23. Mai positiv getestet worden. Vor dem Flug nach China habe sie sich in Kingston einer Zahnoperation unterzogen, sagte James. Sie habe so starke Schmerzen bekommen, dass sie sich von den Ärzten des Meetings ein Betäubungsmittel habe verschreiben lassen. Da die Schmerzen anhielten, habe sie ein stärkeres Medikament genommen und nach ihrer Niederlage (11,29 Sekunden) vergessen, es bei der Dopingkontrolle anzugeben. „Es gibt bestimmte Regeln, die manche Menschen zu Opfern machen“, sagte ihr Manager Adrian Laidlaw.
Oxycodon ist 1917 von dem Darmstädter Unternehmen Merck entwickelt und in dem Schmerz- und Hustenmedikament Eukodal vermarktet worden. „Wir informieren darüber, weil wir nichts zu verstecken haben“, sagte James der Internetplattform trackalerts.com. „Das positive Ergebnis ist kein leistungssteigerndes Doping oder eine verschleiernde Substanz. Deshalb wollen wir den Fall so schnell wie möglich gelöst haben. Wir haben entschieden, dies öffentlich zu machen.“
Shelly-Ann Fraser hat große Probleme mit ihren Zähnen und trägt seit Jahren eine Klammer. In diesem Jahr sind deren einzelne Teile durch rote Fäden verbunden. Darauf angesprochen, erzählte sie vor wenigen Wochen, durch Daumenlutschen in ihrer Kindheit seien ihre Schneidezähne nach vorn, andere Zähne aber nach hinten gewachsen. Als Stephen Francis sie 2006 in seine Laufgruppe aufnahm, bat sie ihn, ihr eine kieferorthopädische Behandlung zu ermöglichen, wie sie ihre alleinerziehende Mutter niemals hätte bezahlen können. „Dafür musst du siegen“, habe dieser gesagt und das Geld für die Behandlung vorgestreckt.
„Man muss wissen, dass man am Ende erwischt wird“
Als in der vergangenen Woche in Eugene (Oregon) der Internetdienst Universal Sports sie nach den zahlreichen positiven Dopingtests von Jamaikanern (Yohan Blake, Allodin Fothergill, Sheri-Ann Brooks, Marvin Anderson, Lanceford Spence und Chris Williams) in den vergangenen Jahren fragte und wissen wollte, ob dahinter womöglich der verzweifelte Wille stecke, der Armut zu entkommen, widersprach sie. „Das ist einfach Gier. Man muss wissen, dass man am Ende erwischt wird“, sagte sie zum Thema Doping.
James sagte, Shelly-Ann Fraser sei nicht gesperrt. Sie wolle so schnell wie möglich vom jamaikanischen Verband angehört werden. Dieser befindet über eine Sanktionierung.
Er erwarte, dass der Fall nicht zu einer Sperre führe, sagte James.
Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 9. Juli 2010