Warum im spanischen Hochsommer beide Marathonentscheidungen bis in die Mittagszeit reichen mussten, bleibt in der Tat unergründlich.
Muster ohne Wert? Anmerkungen zum Marathon der Männer im Rahmen der EM 2010 in Barcelona von Helmut Winter
Viktor Röthlin ist der neue Europameister im Marathon der Männer. Nach längerer Pause, bedingt durch diverse ernsthafte gesundheitliche Probleme, feierte der Schweizer ein beeindruckendes Comeback und war am letzten Sonntag in der Mittagshitze der katalanischen Metropole mit deutlichem Abstand der beste Läufer eines Feldes von etwa 50 Läufern.
Vermutlich siegte er auch deshalb, weil er sich mit den klimatischen Randbedingungen am besten arrangieren konnte. Und so groß die Freude sehr sichtbar beim Erstplatzierten war, bleibt schon zu fragen, was eine Meisterschaft unter derartigen Bedingungen für die Athleten und den Laufsport bringt.
Den EM-Titel wird Viktor in gewissen Grenzen hoffentlich „vermarkten“ können, aber schon ein Blick auf seine Siegerzeit von 2:15:31 relativiert den sportlichen Wert seiner Leistung. Dies sind nämlich im Mittel 5km-Abschnitte von über 16 Minuten. Der Weltrekord der Frauen (erzielt unter allerdings weit besseren Bedingungen) liegt 6 Sekunden unter der Siegerzeit.
In der aktuellen Weltbestenliste des Jahres 2010 liegt er damit um Platz 350, am Ende des Jahres wird das etwa für Position 800 reichen. Die Nächstplatzierten werden mit ihren Zeiten im Jahr 2010 nicht unter den Top 1000 rangieren, wie vielleicht auch generell alle deutschen Läufer über die Marathondistanz, von denen keiner der EM-Starter das Ziel erreichte.
Somit bleibt zu diskutieren, ob Europas Spitze wirklich so „schlecht“ ist und was solche Ergebnisse erklären kann. Nimmt man die Bestenliste des Jahres 2010 im Marathon der Männer zur Hand, finden sich die ersten Europäer auf den Plätzen 32 und 64. Iaroslav Musinchi lief im Mai tolle 2:08:32 in Düsseldorf, in Hamburg kämpfte der eingebürgerte Norweger Buta mit 2:09:27 lange um den Sieg. Vor diesen beiden Athleten, die beide in Barcelona nicht am Start waren, liegen in der Liste neben zwei Marokkanern nur Kenianer und Äthiopier auch vom Zeitregime in einer anderen Welt.
Die nächst besten Europäer in 2010, der Pole Szost (Platz 93, 2:10:27) und der Russe Kulkov (Platz 156, 2:11.50), waren in Barcelona am Start, konnten aber nicht überzeugen. Szost stieg gegen Mitte des Rennens aus, Kulkov wurde in bescheidenen 2:22:24 15. und lag damit allerdings noch vor dem zuvor hoch gehandelten Österreicher Günter Weidlinger, der nach den Problemen beim Wien-Marathon im Frühjahr einen noch herberen Rückschritt zu verkraften hatte.
„Es war unglaublich heiß, das hätte ich mir nicht so arg vorgestellt“, so der österreichische Rekordmann. „Es war sicher mein härtester Marathon. Schon bei den ersten Tempospritzen habe ich mich nicht gut gefühlt. Es war überhaupt nicht mein Tag. Ich habe irrsinnig Kopfweh jetzt, aber aufgeben war nie ein Thema. Ich bin meinen Rhythmus weitergelaufen, aber immer langsamer geworden. Am Schluss habe ich mehrmals pausieren müssen, um es ins Ziel zu schaffen.“ Nicht nur für Weidlinger wird sich der Auftritt in Barcelona kaum gelohnt haben. Wann er von diesem Kraftakt voll regeneriert ist, wird sich zeigen. Sein wahres Leistungspotential bei einem Herbstmarathon abzurufen, das bedeutet eine Zeit unter 2:10, ist weitgehend auszuschließen.
Betrachtet man ferner, dass bei dem Lauf in Barcelona alle Läufer, auch der Sieger, deutlich über dem primären Qualifikationsstandard von 2:13 einliefen, kann dies nicht nur einem unzureichenden Leistungsniveau zugeschrieben werden. Und wie es Weidlinger in seinem Statement schon andeutete, gibt es in der Tat einen Grund: die äußeren Bedingungen. Dass man Meisterschaften in Regionen vergibt, die im Sommer hohe Temperaturen aufweisen, lässt sich kaum vermeiden, obwohl die Ausdauerdisziplinen von den äußeren Bedingungen besonders betroffen sind. Aber durch Finalläufe in den Abendstunden, lassen sich im Rahmen der Stadionleichtathletik ungünstige klimatische Effekte in Grenzen lindern.
Während in Laufzeitschriften, Ratgebern für Hobbyläufer oder diversen Foren darauf verweisen wird, dass "ein intensives Training bei 25°C bereits eine hohe Anforderung für den Körper darstellt and ab 30°C Ausdauersport nur noch im Schatten oder im Wasser betrieben werden sollte" (Achim Achilles), schickt man Europas Topathleten in der prallen Mittagssonne ans absolute Leistungslimit
Deshalb kann man nur mit Unverständnis registrieren, dass bei den letzen internationalen Meisterschaften die Marathonläufe unter Bedingungen stattfanden, die kaum zu verantworten waren; nicht nur leistungssportlich, sondern vor allem im Sinne der Gesundheit der Athleten. Wer bei den vorletzten Weltmeisterschaften in Osaka die Marathonläufe unter Saunakonditionen miterlebt hat, kann nur mit Verwunderung feststellen, dass diese Abläufe an den Grenzen des Zumutbaren zu keinerlei Umdenken bei den Verantwortlichen geführt haben.
Warum im spanischen Hochsommer beide Marathonentscheidungen bis in die Mittagszeit reichen mussten, bleibt in der Tat unergründlich. In der Schlussphase betrugen die (Schatten-)Temperaturen über 30°C, in der Sonne war es noch ungleich wärmer. Was dabei leitungssportlich herauskommt, konnte man am Sonntag unmittelbar erleben. Dabei zeigten die Wetterdaten in den frühen Morgenstunden um etwa 10° tiefere Temperaturen, das ist für den Marathon sicher auch noch nicht optimal, aber nicht zu vergleichen mit den Verhältnissen gegen Mittag, wo auch die Sonneneinstrahlung ein Maximum zeigt.
Gründe für diese Festlegungen werden viele vorgebracht, vor allem das Fernsehen wird immer wieder benannt. Dabei präsentierte sich die TV-Übertragung von der besten Seite mit sehr guten Informationen über den Rennverlauf und am Rande auch über die Stadt. Beim ZDF machten das gut eingespielte Duo Poschmann-Leissl tolle Arbeit und betrieben sogar mit zusätzlichen 5 km-Splits umfassende Analysen des Rennverlaufs.
Die Übertragung hätte somit eigentlich eine Werbung für den Laufsport werden können, wenn man nur den Athleten auch die Chance gegeben hätte, bei besseren Konditionen bessere Leistungen zu zeigen. Insofern wurde der Lauf ein Opfer von vermeintlichen TV-Quoten und der Willkür verantwortlicher Funktionäre.
Allein ein Blick auf die Ergebnisliste sollte allen Verantwortlichen zeigen, dass man diesen EM-Marathon kaum als Erfolg verbuchen kann. Mit der Aussicht auf einen Titel sind bei internationalen Meisterschaften immer noch Athleten bereit, sich unverantwortlichen Belastungen auszusetzen. Aber auch diese Gruppe scheint kleiner zu werden.
Nach Barcelona kann nur nachdrücklich appelliert werden, in dieser Angelegenheit vor allem im Sinne der Athleten ein Umdenken in Gang zu setzen, denn sonst besteht in der Tat die Gefahr, dass die Marathonläufe bei großen Meisterschaften zu einem „Muster ohne Wert“ verkommen.
Helmut Winter