Mit vier ins Waisenhaus, bei Adoptiveltern aufgewachsen, und lange auf der Suche nach der leiblichen Mutter - der amerikanische Kugelstoßer Reese Hoffa hat eine hollywoodreife Vergangenheit.
Kugelstoßer Reese Hoffa – Verletzte Seele in einem massigen Körper – Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die Filmrechte sind noch zu haben. Reese Hoffa ist schließlich nur ein Kugelstoßer. Wäre er Baseball-Profi geworden, wie es sein Ehrgeiz und sein Talent als Werfer nahe legten, gäbe es gewiss längst das Buch zum Athleten und mindestens einen Fernsehfilm. Sie wären so unterhaltsam wie rührend.
Aber wie die Dinge stehen, kann der Amerikaner nach seinem Sieg beim Istaf im Berliner Olympiastadion mit 20,67 Meter sagen: „Es tut sich nichts mit Hollywood. Ich konzentriere mich weiter aufs Kugelstoßen.“
Das ist schade. Nicht nur, weil Reese Hoffa gern im Mittelpunkt steht. Wenn er sich freut, macht er Flickflacks im Stadion – ein beeindruckender Anblick bei seinem Gewicht von 142 Kilogramm. Hoffa ist ein Bewegungstalent, er kann mit Messern und Fackeln jonglieren und macht auch auf dem Skateboard eine gute Figur. Rubicks Zauberwürfel ordnet er bisweilen in 45 Sekunden. „Um als schnell zu gelten, muss man unter 25 Sekunden kommen“, sagt er.
Wenn er besonders übermütig ist, tritt er mit Catcher-Maske und einer Art Superman-Kostüm als „The Unknown Shotputter“ auf. In Tokio bestritt er vor drei Jahren so einen Jux-Wettbewerb mit kichernden Ehepaaren. Da war er Hallen-Weltmeister und auf dem Gipfel seiner Karriere. Wenige Tage später gewann er bei der WM in Osaka Gold.
Resse Hoffa: Sportlicher Sieg in Berlin, menschlicher Gewinn in Amerika
Seit er, im selben Jahr in London, mit seiner Drehtechnik 22,43 Meter erreichte, ist er der viertbeste Kugelstoßer des vergangenen Jahrzehnts. „Ich bin der Kleine unter den Giganten“, sagt er, der sich mit 1,90 Meter gegenüber Weltmeister Christian Cantwell (1,98 Meter) und Olympiasieger Tomasz Majewski (2,04) benachteiligt fühlt. „Die Kugel weit zu stoßen, ist toll“, sagt er „Aber es ist die Persönlichkeit, die das Publikum anzieht. Wir brauchen Typen wie Adam Nelson, die ihr Trikot auf die Erde schmeißen und verrückt spielen.“
Die Kindheit ging in Flammen auf
Das ist die eine Seite von Reese Hoffa. In seinem massigen Körper wohnt aber auch die kleine, verletzte Seele eines Jungen, der mit vier seine Mutter und seinen großen Bruder verlor und erst vor zehn Jahren wiederfand. Aufgewachsen in einer Bauernfamilie mit vier Geschwisterkindern konnte er nie die Erinnerung an die Tragödie bannen, die sein Leben aus der Bahn warf. „Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mir geholfen haben, meine Talente zu entwickeln“, sagt er. „Ohne sie wäre ich nie der geworden, der ich heute bin.“ Das Ehepaar Hoffa aus Bardstown in Kentucky, das ihn mit fünf Jahren adoptierte, ließ ihn seinen Namen wählen. Nach einem Fernsehhelden wurde Michael Reese daraus.
Als Maurice Antawn Chism war er 1977 geboren worden, zweites Kind einer allein erziehenden Fünfzehnjährigen. Zwölf Stunden am Tag jobbte das Mädchen im Supermarkt, um ihre beiden Söhne durchzubringen – bis zu jenem Tag, als der Vierjährige die Vorhänge in Brand setzte. Das ganze Haus wurde Opfer der Flammen. In seiner Erinnerung sah er immer wieder das Feuer und wurde immer wieder von der Mutter ins Kinderheim gebracht. Er war sicher, dass das eine sein Fehler und das andere die Strafe dafür war. Im Waisenhaus wurde er von seinem zwei Jahre älteren Bruder getrennt.
Schulnoten für Sport
Seine neue Familie ermöglichte es Reese, sich in allen Sportarten von American Football über Baseball und Basketball bis zum Ringen auszuprobieren. Sie lehrte ihn, der eine dunkel eingefärbte Haut hat, eine Sprache ohne ethnische Einfärbung. „Vielleicht habe ich deshalb nie rassistische Benachteiligung erfahren“, sagt er. Die Eltern verlangten, dass er mit guten Schulnoten bewies, dass er Zeit hatte für Sport. „Wäre der Schnitt schlecht gewesen, hätten sie mich aus dem Team genommen.“ Während der junge Reese Gleichaltrige im Werfen und Fangen trainierte, scheiterte seine eigene Baseball-Karriere daran, dass seine Eltern sich mit einigen tausend Dollar an Kosten für das Team beteiligen sollten. So wurde er in der achten Klasse Leichtathlet.
Seine Sehnsucht nach dem verlorenen Bruder fand bei dem Jungen bedrückenden Ausdruck. Endlos schrieb er Zahlenkolonnen nieder. „Ich versuchte, seine Telefonnummer herauszubekommen“, erinnert er sich an seine Verzweiflung. Auch als Erwachsener ließ er nicht nach, seine Familie zu suchen. Nächtelang durchforschte er an der University of Georgia, wo er Gesundheit und Sport studierte, Websites für die Zusammenführung von Familienmitgliedern.
Er ahnte nicht, dass seine Mutter, ebenso geplagt von der Erinnerung an einen kleinen Jungen, den sie zur Adoption freigab, nach ihm suchte. Das Waisenhaus war längst abgerissen, der Sozialarbeiter von damals gab die Namen der Adoptiveltern nicht heraus. Als sie schließlich eine Suchanzeige im Internet plazierte, dauerte es keine drei Tage, bis sie eine E-Mail von Reese Hoffa erhielt.
Mann mit drei Familien
„Das mit dem Feuer tut mir leid“, war das Erste, was er sagte, als seine Mutter ihn anrief. In endlosen Gesprächen, zunächst am Telefon, dann an ihrem Wohnort in Florida, erzählten sie sich ihre Geschichte und die ihrer Familien. Der große Bruder, von der Schwester seiner Mutter aus dem Heim geholt, war drogensüchtig und straffällig geworden.
Reese war auf dem Weg in die amerikanische Nationalmannschaft und zu den Olympischen Spielen. Die Mutter hatte geheiratet und mit ihrem Mann zwei Kinder. „Wir sprechen und sehen uns regelmäßig“, sagt Reese Hoffa. „Ich habe zwei Mütter und zwei Familien.“
Eigentlich hat er drei Familien. Seit vier Jahren ist er verheiratet.
Michael Reinsch, Berlin, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 23. August 2010