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2010

Am Anfang mußten Läuferinnen zugleich große Täuscherinnen sein. Als man sie an Laufwettbewerben nicht teilnehmen ließ, mußten sie sich aus ihren Häusern heraus - und in die Rennen einschleichen.

20 Jahre Deutsche Einheit – Der 17. Berlin-Marathon am 30. September 1990 – Der „Wiedervereinigungsmarathon“ drei Tage vor der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – Ein Rückblick IV. – Joan Benoit Samuelson – First Lady des Marathon – Von John McGrath und Marc Bloom

By GRR 0

20 Jahre Deutsche Einheit sind am 3. Oktober 2010 in Berlin und in vielen anderen Städten Deutschlands feierlich begangen worden. Am 30. September 1990 – drei Tage vor der Wiedervereinigung – gab es schon die "sportliche Wiedervereinigung" auf den Straßen Berlins, als der BERLIN-MARATHON zum ersten Mal seit 45 Jahren seine Laufstrecke wieder durch das Brandenburger Tor von West nach Ost und über den Potsdamer Platz zurück in den Westteil legen konnte.

Dieser 17. BERLIN-Marathon war mit seiner Rekordbeteiligung von 25.000 Läufern und Läufern aus aller Welt ein sportliches "Jahrhundertereignis" und ein Medienerereignis zudem. Aus dem Programm- und Ergebnisheft des BERLIN-MARATHON von 1990 werden hier – in loser Reihenfolge – Beiträge übernommen, die nichts an ihrer Aktualität verloren haben und gleichzeitig die Erinnerung an eine einmalige Laufveranstaltung in unser Gedächtnis zurückholen sollen.

Horst Milde

 

Ihr Sieg in Los Angeles ziert ohne Zweifel die Medaillen des BERLIN-MARATHON 1990, doch zur besonderen Ehre des diesjährigen historischen Marathonereignisses in Berlin wird Joan Benoit durch ihren Triumph über alle Widrigkeiten im Jahr 1984. Sie verwirklichte einen fast unerfüllbaren Traum.

In die Geschichte des Frauensports wird Joan Benoit als eine Vorkämpferin und als ein Symbol für Sieg und Gleichheit eingehen.

JOAN BENOIT -DIE ANFÄNGE

Es war einmal in Cape Elizabeth im US-Staat Maine, als Männer Männer und Frauen Hausfrauen waren, da wuchs ein Mädchen namens Joan Benoit mit einer Leidenschaft für Sport heran. "Ich wollte unbedingt Baseball spielen und hoffte, daß sie (die Jungen) mir sagten Joanie, komm' spiel mit', aber das geschah niemals. Als ich darum bat, mitspielen zu dürfen, lachten sie nur." Das war 1967, da war sie zehn Jahre alt.

Die junge Joan Benoit mußte sich viele Hänseleien gefallen lassen, aber sie liebte nun mal das Spielen im Freien undwuchs zu einer hervorragenden alpinen Skiläuferin heran. Sie träumte sogar vom Unmöglichen: Der Teilnahme an den Olympischen Spielen. Nachdem sie sich bei einem Skiunfall das Bein gebrochen hatte, begann sie mit dem Laufen. Und sie fand großen Gefallen daran, denn nun brauchte sie nicht mehr auf Schnee zuwarten!

Doch das Laufen hatte zunächst auch seine Tücken. Sie wollte nicht ausgelacht oder immer "Söhnchen" (sonny) genannt werden, und sie mochte nicht, daß sie irgend jemand beim Laufen beobachtet. Was würden die Leute denken, was würden sie sagen.

BLUMEN BETRACHTEN

"Als ich anfing zu laufen", erzählt Joan, "war es mir so peinlich, daß ich langsam ging, wenn ein Auto vorbeifuhr." Sie lächelt. "Ich tat so, als betrachtete ich die Blumen am Wegesrand."

Am Anfang mußten Läuferinnen zugleich große Täuscherinnen sein. Als man sie an Laufwettbewerben nicht teilnehmen ließ, mußten sie sich aus ihren Häusern heraus – und in die Rennen einschleichen. Oft waren sie gezwungen, sich als Männer einzutragen. Und wenn sie eine Starterlaubnis bekamen, dann nicht einfach als Läuferinnen, sondern als Frauen-Läufer mit angeblichen Beschränkungen, an die sie schließlich selber zu glauben begannen. Sie liefen mit, aber ohne echten Einsatz. Sie mußten eben erst die Blumen betrachten.

Doch bald achteten die Frau¬en nicht mehr auf die Blumen, sondern auf sich selbst und gingen hart zur Sache, und, wie es scheint, es entwickelte sich schnell eine Bewegung, die zum ersten olympischen Frauen-Marathon führte – 42,195 Kilometer, genau wie bei den Männern, die gleiche Strecke, Zentimeter für Zentimeter. Das war 1984 in Los Angeles, Kalifornien, mit dem historischen Lauf der Joan Benoit.

LOS ANGELES 1984 – VORSPIEL

Joan Benoit ging keineswegs als Favoritin an den Start des ersten olympischen Frauen-Marathons, obwohl sie den Weltrekord innehatte (2:22:43, Boston 1983). Sie gewann die US-Olympia-Auswahl mit einer nicht so beeindruckenden Zeit von 2:31:04, und ihr allgemeiner Konditionszustand schien fragwürdig.

Nur zwei Monate vor den Auswahlkämpfen hatte sie wegen Schmerzen im rechten Knie einen 20-Meilen-Trainingslauf nach 14 Meilen abbrechen müssen. Das war unannehmbar für Joan Benoit, der harten Neu-Engländerin aus Maine, dem härtesten der Staaten Neu-Englands. Nach einer erzwungenen Ruhepause begann sie wieder zu trainieren, aber das Knie bereitete ihr weiterhin Schmerzen. Trainer Bob Sevene machte sich Sorgen, und doch beschrieb Joan später Phasen dieses Trainings als "die beste Trainingsarbeit in meinem Leben."

Nach mehreren Wochen immer wieder unterbrochener Trainingsphasen, Kortisonbehandlung und vielen erzwungenen Ruhepausen gab es noch keine Besserung des Knies. Zögernd entschieden sich Betreuer und Ärzte für einen chirurgischen Eingriff, der nur 17 Tage vor Beginn der US-Auswahlkämpfe an Joans Knie vorgenommen wurde. Bis zum Mittwoch vor Beginn des Auswahllaufes konnte Joan keinen Schritt mehr laufen. Es grenzte an ein Wunder, daß sie die Marathon-Distanz durchhielt, geschweige denn gewann, und niemand, auch sie nicht, wußte, was dieser Lauf ihr wirklich abverlangte.

Ihre Konkurrentinnen kamen fit, ausgeruht und anscheinend gut vorbereitet nach Los Angeles. Die beiden Norwegerinnen Grete Waitz und Ingrid Kristiansen wurden als Favoritinnen gehandelt. Ein Jahr lang hatten sie sich nur auf diesen Lauf vorbereitet, hatten alles in Betracht gezogen und waren in Spitzenform. Sie hatten, wegen der Hitze in Los Angeles, in doppelten Trainingsanzügen trainiert, Anti-Smogmittel inhaliert und sich immer wieder Aufnahmen ihrer eigenen Stimmen angehört, die ihnen sagten, daß sie es schaffen würden, komme was da wolle. "Alles ist bestens", erklärte der norwegische Langlauftrainer Johan Kaggestad, der die beiden betreute. "Alles lief nach Plan."

Wenn es für die Norwegerinnen überhaupt eine amerikanische Bedrohung gäbe, so dachten sie, dann Julie
Brown, nicht Joan Benoit. Julie Brown hatte beim Auswahllauf ohne größere Anstrengungen mit 2:31:41 den 2. Platz besetzt, sie lebte seit Jahren in der Gegend von Los Angeles und konnte auf ausgezeichnete Bahnrekorde mit guten Zeiten verweisen. Aber man erwartete tatsächlich einen Sieg der Norwegerinnen. Norwegen, wenn nicht die Welt, sah Grete schon mit der Goldmedaille. Von wenigen anderen wie Lisa Martin und Lorraine Moller (Australien), Rosa Mota (Portugal), Charlotte Teske (Bundesrepublik) sowie Jacqueline Gareau und Sylvia Ruegger (Kanada) wurde der Kampf um Silber und Bronze erwartet.

Aber es war Gretes Lauf. Joan Benoit stellte keine Bedrohung dar, sie konnte nicht gewinnen, es sprach alles dagegen.

LOS ANGELES — DER LAUF

Also ließen Grete Waitz, Ingrid Kristiansen und die anderen Läuferinnen Joan Benoit laufen, als diese 14 Minuten nach dem Start des ersten olympischen Frauen-Marathons auf einer kurzen Steigung ihren ersten Durchbruch schaffte. "Da ihr Zustand beim Vorlauf nicht besonders gut war, dachten Grete und ich, sie würde irgendwann zusammenbrechen", sagte Ingrid Kristiansen nach dem Wettkampf. Sie beachteten Joan Benoit einfach nicht. Tatsächlich kannten sie Joan Benoit nicht. Sie dachten nur, sie würden sie kennen. Joan Benoit baute ihren Vorsprung beständig aus, der Abstand zwischen ihr und der folgenden Gruppe wurde so groß, daß die Fernsehkameras bald nicht mehr beide aufs selbe Bild bekommen konnten. In diesem Augenblick war Joan Benoit Sinnbild der völlig ungebundenen Frau. Sie zeigte, wie weit die Frauen gekommen waren und wie weit sie noch gehen würden, sie stand für all das, was der olympische Marathon der Frauen symbolisch zum Ausdruck brachte.

Auf der einladenden Abwärtsstrecke des San Vincente Boulevards, nahe dem luxuriösen Brentwood Country Club, hatte Joan Benoit eine Führung von elf Sekunden nach zehn Kilometern, obwohl die Zwischenzeit nur 35:24 betrug. Dort, wo San Vincente auf den Pazifischen Ozean stößt, auf dem schönsten Abschnitt der Strecke, entschloß sich Joan Benoit, nichts mehr zurückzuhalten. "Ich blickte zurück und sah niemanden, der mir gefährlich wurde. Ich sagte mir, okay, ab geht's."

Und wie sie abging. Beim Halbmarathon hatte sie ihre Führung auf mehr als anderthalb Minuten ausgebaut. Und trotzdem sie in der Endphase verlangsamte, betrug ihre vierte 10-km-Zeit immer noch 34:51, schneller als die ersten zehn Kilometer. "Bei Meile 22", sagt Benoit, "spürte ich Erschöpfung und ließ etwas, nach, aber dann sagte ich zu mir: 'Wenn du jetzt zu sehr nachläßt und deinen ganzen Lauf kaputtmachst, wirst du dir das niemals verzeihen'. Also legte ich wieder Tempo zu, und das war's." Später beschrieb sie diesen Lauf als den
bequemsten Marathon ihrer Laufbahn.

LOS ANGELES – DAS ZIEL

Während des Vormittags füllte sich das Memorial Colosseum von Los Angeles bis auf den letzten Platz. Auf dem Stadionbildschirm konnte man den Fernsehbericht verfolgen. Als Joan Benoit vom Exposition Boulevard, der letzten Hauptstraße, abbog, bebte das ganze Stadion vor Spannung.

Aus dem Dunkel des Tunneldurchgangs lief sie in das gleißende Licht der Arena, scheinbar viel zu klein für das, was sie gerade vollbracht hatte. Ein widerhallender Jubel begrüßte Joan Benoit, während sie aufrecht und konzentriert wie immer ins Stadionrund einlief. Schließlich, in der letzten Kurve, riß sie sich die weiche weiße Mütze vom Kopf und winkte dem Publikum zu. Joan Benoits Zeit war 2:24:52, automatisch ein neuer Olympiarekord. Als sie mit der US-amerikanischen Flagge die Siegerrunde drehte, sah die Welt darin nicht nur den Sieg einer amerikanischen Athletin, sondern den Triumph der Athletinnen überall auf der Welt.            
            
Die Langlaufdisziplin der Frauen hat sprichwörtlich die gesamte Marathondistanz hinter sich gebracht, und Joan Benoit Samuelson.

Die Autoren:
John McGrath ist Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift New England Runner. Marc Bloom war Berichterstatter bei den Olympischen Spielen in Los Angeles für die Zeitschrift "The Runner" und ist zur Zeit Herausgeber und Redakteur der Zeitschrift "The Harrier". 

 

Das BERLIN-MARATHON Programm 1990:

 

20 Jahre Deutsche Einheit – Der 17. Berlin-Marathon am 30. September 1990 – Der „Wiedervereinigungsmarathon“ drei Tage vor der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – Ein Rückblick III. Die Nordafrikaner sind Spitze auf der Bahn und im Gelände – Die Europäer auf der Straße – Wilfried Raatz

 

20 Jahre Deutsche Einheit – Der 17. Berlin-Marathon am 30. September 1990 – Der „Wiedervereinigungsmarathon“ drei Tage vor der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – Ein Rückblick II. Durch das Brandenburger Tor – Ein Traum wird wahr! Von Andrea Schlecht

 

20 Jahre Deutsche Einheit – Der 17. Berlin-Marathon am 30. September 1990 – Der „Wiedervereinigungsmarathon“ drei Tage vor der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – Ein Rückblick I.

 

20 Jahre Deutsche Einheit – Der 17. Berlin-Marathon am 30. September 1990 – Der „Wiedervereinigungsmarathon“ drei Tage vor der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – Horst Milde berichtet

 

author: GRR

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