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26
10
2010

„Es ist an der Zeit, dass wir uns nun auch mit dem befassen, was sicht seit 1950 in der alten Bundesrepublik getan hat“, sagte Jürgen Fischer und ergänzte: Die Ergebnisse dieses vom DOSB angestoßenen Projekts seien „keine Vorlage für haftungsrechtliche oder privatrechtliche Ansprüche“.

Doping in Westdeutschland beginnt schon 1949“ – Ein Zwischenbericht der vom DOSB initierten Gesamtstudie „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“.

By GRR 0

Die These, dass die bundesdeutsche Dopinggeschichte erst mit der „Ära Anabolika“ Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhundertes begonnen hat, sei „nicht haltbar“. Diese Einschätzung traf Erik Eggers von der Berliner Humboldt Universität am Ende seines Vortrages und schloss: „Doping in Westdeutschland beginnt schon 1949.“

Worauf diese schwer wiegende Schlussfolgerung gestützt werden kann, das hatte Eggers und seine Forscherkollegen von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und von der Humboldt-Universität zuvor anhand einer ganzen Reihe belastbarer Fakten aus der Zeit der jungen Bundesrepublik dargestellt. Allein damit wurde illustriert, welchen Nutzen das vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) initiierte Forschungsprojekt über „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“ für eine komplexe und unbefangenen Geschichtsschreibung mit Blick auf die eher unappetitlichen, dunklen Seiten des deutschen Sports mit sich bringen dürfte.

Das Projekt, insgesamt mit einem Etat von 500.000 Euro ausgestattet und vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) finanziert, ist über drei Jahre bis 2012 angelegt. Die erste Ergebnisse, die sich mit der Phase des Dopings in der Bundesrepublik von 1950 bis in die 60er Jahre hinein befasste, wurden am 25. Oktober im Rahmen eines Hearings in Leipzig vorgestellt.

Gleich zu Beginn verdeutlichte Professor Michael Krüger von der Universität Münster, neben Professor Giselher Spitzer aus Berlin einer der Projektleiter, dass es bislang an einer solchen Gesamtgeschichte fehle. Bislang existierten hinsichtlich der Doping-Vergangenheit West nur wenige Fragmente wie ein Werk von Brigitte Berendonk aus dem Jahr 1991 sowie eine Kooperation von Gerhard Treutlein und Andreas Singler aus dem Jahr 2007, das den Wissenschaftlichern als Grundlage diente.

Vor diesem Hintergrund könne das aktuelle „keine lückenlose Aufarbeitung werden, aber einen Mosaikstein liefern“, so Michael Krüger. Welcher Wert für die weitere historische Betrachtung, Diskussion und weitergehende Forschung selbst ein Mosaikstein haben wird, das wurde bereits nach einem Jahr Forschungsarbeit überdeutlich. Die Quellenlage scheint insgesamt besser als vermutet, wie Giselher Spitzer wissen ließ: Was man an Material über Doping in der Bundesrepublik finden kann, das ist unglaublich.

Doping als neuer Abschnitt in der Medizingeschichte

In seinen Ausführungen griff Krüger bis auf die Zeit um die Wende zum 20. Jahrhundert zurück und beleuchtete jene Frühphase, bevor Doping Deutschland in den 60er Jahren angesichts zunehmender Kommerzialisierung, Professionalisierung und Politisierung „zu einem politischen Thema wird“. Aufputschmittel im Bereich Arbeit und Militär in frühen Formen habe es bereits um 1900 gegeben. In den 20er Jahre setzten daneben vermehrt Forschungen zu Testosteron und Nahrungsergänzungsmitteln ein und läuteten einen neuen Abschnitt in der Medizingeschichte ein. Pharmaka wurden nun nicht mehr wie zuvor ausschließlich zu heilpraktischen oder therapeutischen Zwecken benutzt, sondern sie wurden „Funktionsmittel für Steigerung der Normalfunktionen des menschlichen Organismus“.

Es habe „von Beginn an rege wirtschaftliche und kommerzielle Interessen“ am Doping gegeben, so Krüger, und dabei sei die Sportmedizin von Beginn an im Dilemma gewesen und widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt worden. Einerseits seien die Sportärzte „Hauptakteur beim Doping“, ohne die es unmöglich gegangen wäre. Andererseits traten gerade die Sportmediziner von Beginn an zugleich als Mahner und Widersacher und wichtigster Akteure im Kampf gegen Doping auf. Laut Eggers habe die „Gegenbewegung“ aus den Reihen der Sportärzte und Apotheker früh eingesetzt. Schon 1947 seien Forderungen laut geworden, alle Fälle öffentlich zu machen, in denen in Apotheken nach Dopingmitteln verlangt oder nachgefragt wird. Wenig später folgte der Ruf nach einem Leitfaden mit verbotenen Substanzen.

Ergo muss der Handlungsbedarf bereits damals groß gewesen sein. Was die „Insider“ aufgeschreckt haben dürfte, wurde gleich in mehreren der Vorträge berührt. Beispielsweise werde in einer Diplomarbeit aus dem Jahr 1951 von Doping als einem „hart umkämpften Problem“ gesprochen. In einer anderen, bisher unbekannten Diplomarbeit von Jürgen Bliesener, die sich speziell mit Doping im Radsport befasst, gaben die Radsportler schon wenige Jahre nach Ende des Zeiten Weltkrieges bereitwillige Auskunft über in ihrem Metier weit verbreitete Praktiken und den Grad der Verseuchung. Vor allem hinsichtlich des Einsatzes von Amphetaminen, also künstlich hergestellten Drogen mit stimulierender Wirkung.

Freiburg als „Kristallisationspunkt der Doping-Forschung“

Im besonderen Fokus der Aufmerksamkeit steht einer der „Pioniere“ der frühen Dopingforschung, Herbert Reindell. Seine Untersuchungen zur Herzvergrößerung im Sinne der Leistungssteigerung begann er schon vor dem Krieg. Danach führte Reindell, der 1990 verstarb, seine experimentellen Versuche im universitären Bereich weiter, zum Beispiel indem kerngesunden Sportstudenten Dopingmittel injiziert wurden. Er gilt überdies als Doktorvater jener Dissertation, der solche fragwürdigen – und im Übrigen illegalen und gesetzeswidrigen – Methoden ebenfalls zugrunde lagen und die Oskar Wegener zwischen 1952 und 1954 unter dem Titel „Die Wirkung von Dopingmitteln auf den Kreislauf und die körperliche Leistung“ schrieb und die erstaunlicherweise erst 1959 und nur in Auszügen veröffentlicht wurde.

In all dem sieht Holger Jens Schnell von der Humboldt-Universität einen Nachweis, „wie sportmedizinische Forschung zur Dopingforschung wurde“. Umso wichtiger sei die genauere Betrachtung dessen, was Herbert Reindell später in Freiburg „als Kristallisationspunkt der Dopingforschung“ tat und welches Netzwerk dort eventuell wirkte. „Dies hätte früher erkannt und unterbunden werden müssen“, so Schnell. Unter ethischen Gesichtspunkten sei das, was in Freiburg zwischen 1950 und 1971 geschah, als etwas „Verbotenes“ einzuordnen. Parallel zu dem großen Forschungsprojekt des BISp gibt es derzeit noch ein eigenes Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Geschichte der Sportwissenschaft in Freiburg, von dem weitere Aufschlüsse über die Rolle von Herbert Reindell und des Instituts insgesamt für den bundesdeutschen Sport erwartet werden.

BISp-Direktor Jürgen Fischer betrachtete die ersten Erkenntnisse als wissenschaftliche Aufforderung, die Verbindung zwischen der Dopingforschung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg inklusive ihrer Vernetzung mit dem bundesdeutschen Sport gründlicher unter die Lupe zu nehmen. „Was ist aus Kriegs- und Militärforschung in den Sport übergeflossen?“, dies sei eine der wichtigen Fragen, die es zu beantworten gilt.

Doping war Praxis, jedoch kein Thema

Wenn überhaupt, dann wurde in dieser Frühphase über die gesundheitlichen Aspekte der Einnahme von Dopingmitteln der „ersten Generation“ gesprochen, jedoch nicht über ethische. „Dafür fehlte das Bewusstsein“, erklärte Giselher Spitzer das zeitgenössische Klima. Zum laxen Umgang hatte wesentlich beigetragen, dass  zunächst die sportwissenschaftliche Reflektion für das Doping-Phänomen fehlte, die Gruppe von Doping-Verweigerern nicht aufstand und offensiv wurde und das Thema damit gewissermaßen nicht „positiv provozierte“ und überdies der organisierte Sport und seine Protagonisten in einer Mischung aus Ignoranz, Unverständnis und Naivität den Anfängen nicht wehren konnten oder wollten oder beides.

Noch 1968, so Spitzer, habe der Präsident eines olympischen Verbandes an Dopingvergehen in seinen eigenen Reihen nichts Anstößiges gefunden und eine Pro- statt eine Contra-Haltung eingenommen. Vielsagend sind auch die Erlebnisse eines nicht genannt sein wollenden Athleten, der sauber bleiben wollte, sich vom Trainer trennte, um einen anderen, dopingfreien Verein zu suchen. „Das war praktisch das Ende seiner Karriere.“

Wie in der zeitgenössischen Wahrnehmung Doping in der jungen Bundesrepublik zwar gängige Praxis gewesen, öffentlich und gesellschaftlich aber kaum als Thema in Erscheinung trat, dies führte Juniorprofessor Henk Erik Meier von der Universität Münster anhand einer Analyse von Leitmedien vor Augen, vor allem von „Spiegel“ und „Zeit“. In den früheren 50er Jahren befassen sich die Redaktionen dort fast überhaupt nicht mit Doping, während es beispielsweise im Jahre 2007 insgesamt 102 „Spiegel“-Beiträge zu diesem Thema gab. Insgesamt habe die Quote der Artikel zum Doping in den untersuchten Medien zwischen 1949 und 1969 bei unter 5 Prozent gelegen, so Meier. Dopingphänomene hätten zudem keinerlei Anlass für eigene Recherchen gegeben. „Es hat den Eindruck, dass Doping zwar ein Problem war, aber weniger im deutschen Sport.“

Kein Wunder, dass der Ruf nach Verboten und einem Bann erst Ende der 60er erschallt. Eine Zäsur sei der 2. Dezember 1969 gewesen, als Brigitte Berendonk in einem Aufsatz für die „Zeit“ die Verbreitung von Doping auch im bundesdeutschen Sport scharf anprangert, den Verbänden Zynismus und Scheinheiligkeit vorwirft und eine klare Aufforderung zum Handeln ausspricht. In der Zeit zuvor, so Meier, gebe es noch keinen Grundverdacht gegenüber dem Sport. „Es war keine Periode ausgeprägter Aufmerksamkeit für Doping.“

Erste Doping-Definition

Die drohende Flut weder rechtzeitig erkannt noch ihr einen Riegel vorgeschoben zu haben, obwohl das juristische Instrumentatrium und allein das Standesrecht der Ärzte und Apotheker dafür ausgereicht hätte, dem liegen auch staatliche Versäumnisse und Versäumnisse des organisierten Sports zugrunde. Daran ließen die Projektleiter Krüger und Spitzer in ihren Ausführungen keinerlei Zweifel. Vereinzelte Doping-Verbote gab es schon in den 50er Jahren (auf internationaler Ebene bei den Leichtathleten und Boxern, national bei den Radsportlern). Doch alles in allem ließ der energische Widerstand gegen die Manipulationen auf sich warten und schien keine Lobby zu haben.

Als dem Bundestag des Deutschen Sportbundes (DSB) 1965/1966 ein Antrag vorlag, Doping zu verbieten, lief dieser ins Leere. Es wurde eine entsprechende Empfehlung an die einzelnen Verbände weitergegeben – ein „Papiertiger“. Als Vier Jahre später der Deutsche Sportärzte-Bund abermals einen solchen Anlauf unternahm, führte dies beim DSB 1970 immerhin zu Rahmenrichtlinien. Bis diese in den Verbänden bis hinunter zu den Vereinen tatsächlich umgesetzt wurden, dauerte es noch einmal sieben Jahre. Davor waren diese Richtlinien lediglich vom Bund Deutscher Radfahrer, von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung, vom Deutschen Leichtathletik-Verband und vom Deutschen Tischtennis-Bund übernommen worden. Deutschland gab sich auch kein Anti-Doping-Gesetz, wie es in Frankreich und Belgien im Jahr 1965 geschah.

„Was machbar ist, das machen wir auch“

Seinen ersten Eindruck nach der Präsentation der ersten Ergebnisse im Forschungsprojekt zur deutschen  Doping-Geschichte formulierte  BISp-Direktor Jürgen Fischer folgendermaßen. Dem Handlungsmuster in dieser Phase habe anscheinend die Devise zugrunde gelegen: „Was machbar ist, das machen wir auch.“ Eine Einschätzung, die sich für dieses erste Kapitel als treffende Überschrift anbietet. An der Oberfläche wird das Übel bestenfalls als neues Phänomen wahrgenommen, während darunter sämtliche Spielräume und wissenschaftlichen Neuentwicklungen eifrig ausgenutzt werden, um Vorteile im sportlichen Wettstreit zu erzielen. Das Übel des Übels haben die Wissenschaftler schon klar benannt: Ohne Netzwerke, in denen zumindest Apotheker, Ärzte und Athleten wirkten, wäre es nicht gegangen.

„Es ist an der Zeit, dass wir uns nun auch mit dem befassen, was sicht seit 1950 in der alten Bundesrepublik getan hat“, sagte Jürgen Fischer und ergänzte: Die Ergebnisse dieses vom DOSB angestoßenen Projekts seien „keine Vorlage für haftungsrechtliche oder privatrechtliche Ansprüche“. Ebenso wenig wollen die Wissenschaftler mit ihren Erkenntnissen eine Vorlage für „öffentliche Skandalisierungen“ liefern. „Das ist ein guter Tag für den Sport, weil wir ein klein wenig Aufarbeitung der Vergangenheit erleben“, sagte Ingo Weiss, der Vorsitzende der Deutschen Sportjugend (dsj). „Wir möchten hieraus lernen, vor allem vor dem Hintergrund der Dopingprävention, die für uns und den DOSB ein ganz wichtiges Thema ist, so wie dieses Forschungsprojekt insgesamt.“

Ingo Weiss plädierte wie Jürgen Fischer und alle an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und der Humboldt-Universität Berlin für eine vorbehaltlose Aufklärung ohne Tabus. „Wir möchten, dass die beiden Forschergruppen frei und unabhängig arbeiten können. Wir nehmen da von Seiten des Sports keinerlei Einfluss. Die Wissenschaftler haben absolute Freiheit.“

Quelle: DOSB

 

author: GRR

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