Wie wurde der Londoner Marathon, den Brasher 1981 - inspiriert von seiner vorjährigen Teilnahme am New Yorker Marathon - ins Leben rief, zu einer solchen Goldgrube? Diese Frage untersuchten zwei britische Journalisten, Duncan Campbell vom "New Statesman" und Neil Wilson von "Independent Newspaper".
20 Jahre Deutsche Einheit – Der 17. Berlin-Marathon am 30. September 1990 – Der „Wiedervereinigungsmarathon“ drei Tage vor der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – Ein Rückblick IX. – Die britische Laufszene von Michael Coleman
20 Jahre Deutsche Einheit sind am 3. Oktober 2010 in Berlin und in vielen anderen Städten Deutschlands feierlich begangen worden. Am 30. September 1990 – drei Tage vor der Wiedervereinigung – gab es schon die "sportliche Wiedervereinigung" auf den Straßen Berlins, als der BERLIN-MARATHON zum ersten Mal seit 45 Jahren seine Laufstrecke wieder durch das Brandenburger Tor von West nach Ost und über den Potsdamer Platz zurück in den Westteil legen konnte.
Dieser 17. BERLIN-Marathon war mit seiner Rekordbeteiligung von 25.000 Läufern und Läufern aus aller Welt ein sportliches "Jahrhundertereignis" und ein Medienerereignis zudem. Aus dem Programm- und Ergebnisheft des BERLIN-MARATHON von 1990 werden hier – in loser Reihenfolge – Beiträge übernommen, die nichts an ihrer Aktualität verloren haben und gleichzeitig die Erinnerung an eine einmalige Laufveranstaltung in unser Gedächtnis zurückholen sollen.
Horst Milde
Der Londoner Marathon ist zum Millionärsmarathon geworden. Spitzenläufer sowie deren Agenten verdienen an dem Lauf fast ein Vermögen. Für die Verwaltung des London-Marathon ist die Veranstaltung eine reiche Einnahmensquelle und Geld für Wohltätigkeitszwecke fällt auch noch ab.
In den zehn Jahren seit Beginn des Marathonlaufs ist die Strecke vom Start am Nullmeridian in Greenwich bis zum Ziel auf der Westminster Bridge gleichsam mit Gold gepflastert worden.
Der Londoner Marathon ist der reichste, der größte und – seitdem er im vergangenen Jahr auch den Weltcup einschließt – der schnellste unter den Marathonläufen. Dem Chef des Rennens Chris Brasher kostete es wahrscheinlich einiges an Blut und Schweiß und vermutlich auch ein kleines Vermögen an Spesen, um die IAAF zu überzeugen, London zum Austragungsort der Weltcupläufe zu wählen. Wie dem auch sei, in London soll nun der Marathon der Marathons stattfinden.
Reichtum zieht Reichtum an, und London ist keine Ausnahme dieser Binsenweisheit. Es gibt auch kein Zeichen dafür, daß irgendwo jemand die Bremse anzieht. Berichten zufolge haben Brasher und der New Yorker Marathon-Chef Fred Lebow einen "Waffenstillstand" in ihrem Konkurrenzkampf vereinbart. Er war allmählich kindisch geworden.
Und nun erfahren wir, daß David Griffiths – den Brasher zunächst zu seinem Nachfolger stilisiert hatte, aber nach sieben Monaten wieder feuerte – von den "race governors" wieder eingesetzt worden ist, mit neuem Aufgabenbereich. Er wurde gebeten, Brasher nicht ins Gehege zu kommen und sich in diesem Jahr vornehmlich mit der Entwicklung einer Strategie zu beschäftigen, die London zum größten Marathonspektakel macht, das die Welt je gesehen hat.
Als ehemaliger Chef des Wembley Stadions weiß Griffiths genau, was benötigt wird: Vor allem Geld. Zum Beispiel erhielt Belayneh Densimo bzw. Äthiopien beim diesjährigen Lauf am 22. April US-$ 100 000
als Startgeld. Douglas Wakiihuri, dem man zur selben Zeit in London $ 150 000 bot, lehnte ab.
Wie wurde der Londoner Marathon, den Brasher 1981 – inspiriert von seiner vorjährigen Teilnahme am New Yorker Marathon – ins Leben rief, zu einer solchen Goldgrube? Diese Frage untersuchten zwei britische Journalisten, Duncan Campbell vom "New Statesman" und Neil Wilson von "Independent Newspaper".
Erstens: die Einnahmen des diesjährigen Laufs beliefen sich auf 1,52 Millionen Pfund: 901 000 Pfund von den Sponsoren, 339 000 Pfund Teilnahmegelder, 100 000 Pfund für die Antrittsformulare und 100 000 Pfund vom Verkauf der Übertragungsrechte.
Zweitens: die Ausgaben: Mehr als die Hälfte der Einnahmen wurde an 70 bis 80 Spitzenathleten und ihren Agenten ausgezahlt, Startgeld, Hotelrechnungen, Reisekosten und Theaterbesuche. Auch die einfachsten Läufer, die eingeladen waren, bekamen 50 Pfund Taschengeld pro Tag während ihres Londonaufenthaltes. Ferner 203 000 Pfund an Gehältern und Büromaterial. Das Marathonbüro arbeitet das ganze Jahr über. Die Bearbeitung und die Auswahl der Teilnahmeanträge verbrauchte 100 000 Pfund. Eine Viertelmillion Pfund kostete die Durchführung der Veranstaltung selber – Polizei und Absperrungen, beispielsweise, sind nicht kostenlos. Und so weiter und so weiter.
Der Gewinn der ganzen Veranstaltung wurde auf 36 000 Pfund geschätzt, ein Bruchteil der Summe, die an die Athleten ausgezahlt wurde. Dieser Gewinn geht an die Londoner Stadtbezirke zur Unterstützung öffentlicher Sport- und Freizeiteinrichtungen.
Die große Differenz zwischen den Geldern, die an die Elitesportler und ihr Gefolge ausgezahlt wurden, und der Summe, die der Sportjugend von London zugute kam, ist nicht unbemerkt geblieben. Besonders auffällig wird dies beim Zieleinlauf des diesjährigen Londoner Marathons: Ein Außenseiter, Allister Hutton, gewann mit 2:10:10 Stunden und $ 3000 Startgeld. Densimo gab bei der Hälfte auf, der erste Äthiopier (Dereje Neol) lief als 18. durchs Ziel, und nur einer der sechs sowjetischen Läufer – Yakab Tolstikow, mit 2:11:07 Sechster – rechtfertigte sein Startgeld; zwei ehemalige London-Gewinner, Hugh Jones ($ 18 000 Startgeld) und Mike Gratton ($ 2000) hielten an, um sich den Zieleinlauf anzusehen.
Am selben Tag gewann Gidamis Shahanga in Wien mit 2:09:97. London hat eine Dreiviertelmillion Dollar ausgegeben – wofür?
Obendrein war der Unisys-Computer sechs Stunden nach Schluß des Laufes nicht in der Lage, die Presse mit mehr als den ersten 250 Namen zu versorgen. Und wegen der niedrigen Wolken fand die Übertragung aus den TV-Hubschraubern der BBC wieder einmal nicht statt. Die Presse saß im County House an der Westminster Bridge fest und konnte den gesamten Lauf auf dem Fernsehschirm verfolgen, dessen Bilder von festen Kameras übertragen wurden. Im Führungswagen konnte kein Rundfunkreporter mitfahren.
Aus all dem wird deutlich, daß David Griffiths eine ganze Menge zu verbessern hat. Die meiste Kritik richtete sich jedoch an Chris Brasher und seine angeblich zunehmenden diktatorischen Methoden. Eine Reihe von qualifizierten Mitarbeitern war entweder entlassen worden oder von selber gegangen, darunter David Bedford, seit 1989 Brashers Assistent.
Zu aller Überraschung beschloß Brasher dann noch, aus dem AIMS (Internationaler Marathon-und Straßenlaufverband) auszutreten, eine Organisation, die er selber mit ins Leben rief. Da wurde es Zeit für die "race governors" einzugreifen und klarzustellen, wer hier das Sagen hat. Sie gaben sich mit Brashers Begründungen für die Entlassung von Griffiths nicht zufrieden und stellten diesen wieder ein, wenn auch mit neuem Aufgabenbereich. Erstmals seit ihrer Einsetzung durch den (inzwischen abgesetzten) Stadtrat für Groß-London (Greater London Council) zeigten die "governors" die Zähne.
Brasher, der im August 62 wurde, wird noch den Weltcup-Lauf 1991 durchführen und dann in den Ruhestand gehen. Darauf hat man sich verständigt. Behält er danach noch Einfluß auf den Marathonlauf, wird es schwierig werden, einen Nachfolger zu finden.
Erfolg zieht Erfolg nach sich, aber auch Neid. Nach seinem überraschenden Sieg im Hindernislauf bei der Olympiade 1956 in Melbourne wurde Brasher Sport- und Rundfunkjournalist. 1971 gründete er zusammen mit seinem Sportkollegen John Disley (Bronze im Hindernislauf, Helsinki 1952) einen Sportschuh-Konzern, Fleetfoot Ltd. der zwischen 1981 und 1984 New-Balance-Schuhe vertrieb. Ab 1984 war Fleetfoot offizieller Vertreiber von Reebok-Schuhen in Großbritannien. Im Januar 1990 wurde Fleetfoot vom anglo-amerikanischen Konzern Reebok übernommen. Brasher wurde Vorsitzender von Reebok (UK) und Disley Geschäftsführer.
edes Jahr vergibt der Londoner Marathon einem Sportschuh-Sponsor das Recht, den Namen des Marathon in seiner Werbung zu verwenden und des direct-mailing an die Adressen der 60 000 bis 70 000 Läufer. Laut Campbell und Wilson im "Independent an Sunday" hat Brasher veranlaßt, daß in jedem Jahr, außer einem, mit seinen Schuhen geworben worden ist. Eigentlich ist es Aufgabe des Kassierers der Marathonorganisation (nicht Brashers oder Disleys), dem vermutlich meistbietenden Sponsor diese Werbemöglichkeit einzuräumen.
Brasher ist mit seinem Schuh-Konzern und durch seine Verbindung mit dem Londoner Marathon zu einem reichen Mann geworden. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber Kritiker des Londoner Marathon Chefs sollten nicht vergessen: Vor dem Marathon hatte London nichts und es gab keine Läufer. Freilich weisen die Bücher nur
36 000 Pfund für wohltätige Zwecke aus. Was sie jedoch nicht zeigen, sind die Millionen von Pfund, die gesponsorte Läufer aufgebracht haben für wohltätige Zwecke ihrer Wahl. Zum Beispiel bekommt die Zeitung, für die ich arbeite, die "Times", jährlich zwölf Startplätze für Leser, die wir aussuchen.
In diesem Jahr half ein Leser einem Dorf in Sussex, Geld für ein neues Rettungsboot zu sammeln; ein anderer unterstützte einen Rugbyklub in Rumänien; ein weiterer sammelte Geld für Obdachlose. Solche Leser haben wir! Elf gingen an den Start – der Zwölfte hatte sich verletzt – und sie brachten zusammen 100 000 Pfund auf. Das ist ein Durchschnitt von 9000 Pfund pro Person.
Für viele spendenabhängige Organisationen ist der Londoner Marathon zur Haupteinnahmequelle geworden. Das hat gerade im Großbritannien von Mrs. Thatcher von besonderer Bedeutung, wo staatliche Unterstützung immer mehr abnimmt. Immer mehr gemeinnützige Organisationen veröffentlichen in Sportzeitschriften Aufrufe an Läufer, sie zu unterstützen, ihre T-Shirts zu tragen und Spenden zu sammeln. Diese Aufrufe bleiben nicht ungehört und viele Läufer laufen für eine gute Sache.
Gewiß, der Londoner Marathon ist äußerst lukrativ geworden, aber nicht nur für Christopher Brasher.
Michael Coleman
Übersetzung: Benita Coleman
Das BERLIN-MARATHON Programmheft vom 30. September 1990: