Es war kein Zufall, daß die Läufer die ersten gemeinsamen Sportkontakte schon am 11.11.1989 in Berlin beim Crosslauf des SCC knüpften. Wir liefen von jetzt an gemeinsam und kosteten unseren Gruß "Sport frei" in vollem Maße aus.
20 Jahre Deutsche Einheit – Der 17. Berlin-Marathon am 30. September 1990 – Der „Wiedervereinigungsmarathon“ drei Tage vor der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – Ein Rückblick XIII. – Der DDR-Läuferbund – Interessengemeinschaft aller Langstreckenläufer und vieler Freizeitsportler – Von Gerd Engel und Klaus Hennig
20 Jahre Deutsche Einheit sind am 3. Oktober 2010 in Berlin und in vielen anderen Städten Deutschlands feierlich begangen worden. Am 30. September 1990 – drei Tage vor der Wiedervereinigung – gab es schon die "sportliche Wiedervereinigung" auf den Straßen Berlins, als der BERLIN-MARATHON zum ersten Mal seit 45 Jahren seine Laufstrecke wieder durch das Brandenburger Tor von West nach Ost und über den Potsdamer Platz zurück in den Westteil legen konnte.
Dieser 17. BERLIN-Marathon war mit seiner Rekordbeteiligung von 25.000 Läufern und Läufern aus aller Welt ein sportliches "Jahrhundertereignis" und ein Medienerereignis zudem. Aus dem Programm- und Ergebnisheft des BERLIN-MARATHON von 1990 werden hier – in loser Reihenfolge – Beiträge übernommen, die nichts an ihrer Aktualität verloren haben und gleichzeitig die Erinnerung an eine einmalige Laufveranstaltung in unser Gedächtnis zurückholen sollen.
Horst Milde
Die Läufer der DDR haben sich ihre Heimstatt geschaffen, sie schlossen sich im Läuferbund der DDR zusammen. Ein langgehegter Wunsch und schließlich eine zwingende Notwendigkeit. Aber, wie sich auf der Strecke bis hin zum Gründungstag am 21. April 1990 zeigte, auch ein Weg voller Stolpersteine, Widerstände, Fehlhaltungen. Nun muß er denen, die ihn nicht wollten, deutlich machen, daß er wohl vonnöten war. Viele Vorbilder existieren nicht. Auch in der Bundesrepublik "noch?" nicht.
Als eigentliche Geburtsstunde für unsere Laufbewegung kann das Jahr 1967 gelten: die "Lauf Dich Gesund" – Bewegung wurde ins Leben gerufen. Die Formel "Lauf Dich Gesund" fand ihren Platz in der Umgangssprache. Der tiefe Sinn: Gesundheit für Herz und Kreislauf durch Laufen wurde ein populärer Gegenstand. Laufen begann gesellschaftsfähig zu werden und nicht nur als Gesundheitstraining. Eine wachsende Zahl von Menschen hat durch ihre eigene physische Aktivität, durch eigenes Mittun erlebt, welchen Reichtum man gewinnen kann.
Mancher hat neue Freunde kennengelernt, sowohl sportlich interessierte, als auch unternehmungslustige und gesellige Menschen. Viele haben das Medium Sport auf neue Weise für sich erschlossen, das in diesem Feld nicht die absolute Leistung, sondern angemessenes Verhalten, individuelles und altersbezogenes Leisten zu ersten Kriterium erhebt. Nicht wenige sind bei der Bewegung der Natur auf bewußte Weise begegnet: "Eile mit Meile" setzte ab 1973 fort, was 1967 begonnen wurde und fügte einige Farbtupfer dazu. Die Sportjournalisten
engagierten sich, Meilenpässe, Meilentrikots, Meilenabzeichen, die Meilenfibel erschienen in der Öffentlichkeit. Meilenkomitees übernahmen es, Lauf- und Wanderveranstaltungen zu inspirieren bzw. zu unterstützen und gaben Meilenkalender heraus.
Auf diese Weise fanden auch mehr und mehr Kinder, Jugendliche und Erwachsene Anregungen, Informationen und schließlich auch Wege zum Laufen. Aus dem Kreis begeisterter Anhänger wuchsen viele tüchtige und engagierte Organisatoren mit einer Fülle von Ideen hervor. Der Sache zuliebe, dem Laufen fest verschrieben – also aus eigenem Antrieb heraus – waren und sind viele ehrenamtlich tätig, nicht selten auf sich allein oder eine kleine Schar Unermüdlicher gestellt.
Sie alle: die Aktiven, die Sympathisanten und die Organisatoren brachten es zuwege, daß Laufen der Volkssport Nr. 1 in der DDR wurde.
Örtliche und landesweite Laufaktionen, Laufspektakel, Staffeln in allen Variationen und Stunden- bzw. Paarläufe mit den interessantesten Modifikationen. Hunderttausende waren und sind dabei, ca. 60.000 zählen zum harten Kern.
Über 1.000 namhafte Laufveranstaltungen, insgesamt weit über 10.000 Läufe werden jährlich in der DDR organisiert. Wer kennt nicht den GutsMuts-Rennsteiglauf (8.000 Teilnehmer), den Harzgebirgslauf in Wernigerode (4.000 Teilnehmer), den Kyffhäuserberglauf (4.000 Teilnehmer), den Zittauer Gebirgslauf (3.000 Teilnehmer) oder den Schweriner Fünf-Seenlauf (3.000 Teilnehmer).
Wer hätte nicht schon die Läuferschlangen beim Elbe-Friedensmarathon in Dresden, beim Friedenslauf in Halle oder dem in Berlin bewundert. Auch IOC-Präsident Antonio Samaranch zählt zu den Bewunderern. Als er 1985 in Berlin den Friedenslauf gestartet hatte, bemerkte er: "Das ist der wichtigste und schönste Lauf, den ich jemals gesehen habe. Noch nie habe ich so viele Teilnehmer erlebt, die aus Lust und Lebensfreude laufen. So stelle ich mir die Verwirklichung der olympischen Prinzipien vor. Der Sport kann eine Menge zu einem guten Verständnis zwischen den Menschen beitragen."
Viele der bekanntgewordenen Läufe finden in den schönsten Gebirgen und Tälern oder an Seen statt. Weitgerühmt ihr volkstümlicher, jedermann zugänglicher und familienfreundlicher Charakter. Daher sind oft kürzere und längere Strecken im Angebot und nicht zufällig fallen sie oft mit besonderen Anlässen zusammen: vom Neujahrslauf bis zum Silvesterlauf, zum Frühlingsbeginn, zu Jubiläen oder auch zum Gedenken an Personen oder besondere historische Ereignisse.
Gab es eine Überhöhung politisch motivierter Laufveranstaltungen? Eher nein, wenn man das Geamtspektrum sieht, denn einige vor allem in 7 bis 8 Bezirksstädten im Rangeln um vordere Wettbewerbsplätze durchgeführte Läufe haben die Szene nicht gravierend bestimmt.
Haben die leistungsorientierten Läufe überwogen? Ist dem Bedürfnis der vielen Namenlosen zur Genüge Rechnung getragen worden? Dies auszuwiegen könnte sicher aufschlußreich sein, ist hier und heute aber nicht möglich. Nehmen wir den Weltrekord der 100 Lehrerstudentinnen in Berlin-Hohenschönhausen im Juli 1989 – eine wahre Hitzeschlacht – über 100 mal 1000 m. Die wenigsten unter den 100 waren je in einem Wettkampf gestartet – eine Demonstration für einen sportlichen Lebensstil konnte der Zuschauer diesen Lauf eher betiteln.
Sicher konnten leistungsstarke Läufer und Läuferinnen von Laufstart zu Laufstart eilen und ebenso sicher fanden ihre Plätze und Zeiten auch ihre Schlagzeilen, naturgemäß breitere als jene, die Herrn oder Frau Niemand im Hinterfeld hätten nennen können. Wenn es ein Defizit gab, dann den für den Einsteiger firmierten Lauf, wie es sie unter dem Synonym der Schildkröte in Südkorea als "Turtle – Marathon", als "Straße der Erholung" in Bogota, Kolumbien oder als City-Läufe "Ohne Gewinner und Verlierer" in Luxemburg gibt. Aber es wäre falsch, zu übersehen, daß doch eine stattliche Zahl von keineswegs rekordverdächtigen Läufern mit dem Motiv "Lieber schöne Erlebnisse als Zeiten und Ergebnisse" die Startplätze aufsuchte.
Diese lebensvolle und von Vitalität geprägte Bewegung besaß und besitzt ihr Eigengewicht und ihre starken Triebkräfte. Aber – immer wieder wurde es spürbar – die Läufer waren alleine gelassen. Es fehlten nicht die Glieder, es fehlte der Kopf. Der Leichtathletikverband konnte und wollte die Interessen der Läufer nicht wahrnehmen. Der erste Rangplatz in der Welt, das war das Ziel. Zu erreichen war es mit Topathleten. Leistungssport wurde zur Selbstdarstellung des Regimes benutzt. In der Verbandsleitung waren die Läufer – obwohl in Spitze und Breite immer eine Zierde der DDR Leichtathletik – nicht präsent. Man brachte nicht mehr auf, als hin und wieder einen Spitzenrepräsentanten der Verbandsführung zu einem Laufstart zu entsenden, echte Hilfe und Unterstützung für Organisatoren, für Laufgruppen, fachliche Beratung für Lauftreffs oder Anleitung für Laufkurse; alles dies geisterte hin und wieder verbal durch Reden und Erklärungen – wurde allerdings real nicht wirksam.
So nimmt es nicht wunder, wenn wir Läufer den 9. November 1989 als den Schritt sahen, mit dem ein neues Lebensgefühl Gestalt annehmen konnte. Was uns eh und je verwehrt wurde, auch auf den Straßen im anderen Teil Deutschlands und in der Welt zu laufen, wurde greifbare Realität. Wir konnten "Weltanschauung" betreiben, uns bei Freunden informiern, vergleichen. Es war kein Zufall, daß die Läufer die ersten gemeinsamen Sportkontakte schon am 11.11.1989 in Berlin beim Crosslauf des SCC knüpften. Wir liefen von jetzt an gemeinsam und kosteten unseren Gruß "Sport frei" in vollem Maße aus.
Gemeinsam wurden die ersten Zukunftsaussichten erörtert, eine Absichtserklärung war verfaßt mit unseren Gedanken zu einem neueren Sport in der DDR, eine Initiativgruppe mit dem Ziel konstituiert, den BERLIN-MARATHON durch beide Teile Berlins und durch das Brandenburger Tor zu führen. Schnell war man sich einig, auch einen Neujahrslauf durch das Brandenburger Tor zu organisieren.
Wie man weiß, mit großem Erfolg. Beides erträumte Wirklichkeit!
Schon vor dem 9. November wurde eine andere Gruppe initiativ, vorwiegend auf Betreiben von Werner Zock. Sie verfolgte das Ziel, einen eigenen "Läuferverband der DDR" aufzubauen. Der Gedanke war schon im Dezember 1988 da. Viele Gespräche wurden geführt, Laufidealisten für die Mitarbeit gewonnen, Stein auf Stein zusammengetragen. Es sollte eine Interessengemeinschaft aller Läufer werden: vom Gesundheitsläufer, dem allein laufenden Freizeitsportler, dem Teilnehmer an Lauftreffs, dem gelegentlich bei Laufwettbewerben Aktiven und dem Wettkampfsportler bis zum Ultralangläufer…
Am 21. April 1990 kam es dann zur Gründungsversammlung des "Läuferbundes DVfL der DDR" in Berlin-Grünau.
Von diesem Tage im Jahr 1990 an ging Selbstbewußtein, gepaart mit Sachverstand und Initiative aus, spürte jeder der Teilnehmenden die endlich erreichte Aufwertung und offizielle Anerkennung.
Und so erklärt sich der "LB" in seiner Geschäftsordnung: "Der Läuferbund versteht sich als Interessenvertreter aller Volkssportläufer, Freizeitläufer, Hobbyläufer, Gesundheitsläufer und leistungsorientierten Ausdauerläufer und baut auf die bestehenden Strukturen der Laufbewegung im DVfL auf."
Mitglieder können Ausdauerläufer in bestehenden Sektionen Leichtathletik, in zu gründenden Sektionen Läuferbund, in Laufgruppen, Lauftreffs sein.
Zum Präsidenten des Läuferbundes wurde ein Mann gewählt, der wie kein anderer als Repräsentant der Läufer gelten kann, Waldemar Cierpinski, unser zweifacher Marathon-Olympiasieger. Seine Stellvertreter wurden mit Gerd Engel und Stefan Senkel zwei Sprecher und Organisatoren aus der Laufbewegung.
s wurden Arbeits- und Interessengruppen konstituiert für alle Bereiche und Angelegenheiten der Laufbewegung: Volkslauf, Wettkampforganisation, Lauftreff, Ökonomie, Materialfragen, Medienarbeit, Statistik/Klassifizierung, Wissenschaft, Trainingsmethodik, Aus- und Weiterbildung, Sportmedizin, Kampfgerichte, Großlaufveranstaltungen, Umweltfragen, Wettkampfsprecher, Marathonlauf, Ultralanglauf/Berglauf, IGÄL, Frauenlauf, Behindertensport.
Bereitschalt zur Mitarbeit kam von überall her.
Inzwischen wurde in 5 Ländern der Läuferbund in Landesverbänden gegründet. Eine Geschäftsstelle wurde beim DVfL in Berlin eingerichtet, die eigene, langersehnte Laufzeitung "Laufzeit" mit Unterstützung der BERLIN-MARATHON Organisation herausgegeben.
Ab dem 1. Oktober 1990 wird es einen Leichtathletikverband im künftig geeinten Deutschland geben. Die Leichtathleten aus Ost und West in einem Verband und damit auch alle Läufer! Es erscheint nicht vermessen, zu hoffen, daß der Läuferbund der DDR zur Wurzel des Läuferbundes in Deutschland wird. Das Interesse ist groß – auch der vielen und bundesdeutschen Läufer.
Vielleicht auch ein Weg hin zu einer europäischen Vereinigung der Läufer?
Gerd Engel und Klaus Hennig
Das BERLIN-MARATHON Programmheft vom 30. September 1990: