Das deutsche Doping-Meldesystem steht in der Kritik. Steffi Nerius, Speerwurf-Weltmeisterin 2009, die ihre Karriere danach beendete, kann den Athleten-Unmut verstehen - und bedankt sich dennoch bei der Nationalen Anti Doping Agentur.
Die Versuchung Doping – Für ein Haus am Meer – Michael Reinsch, Bonn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Doping ist eine Frage von Chance und Risiko. „Wenn ich in den vergangenen zehn Jahren in Russland oder Rumänien oder Griechenland gelebt hätte“, behauptet Steffi Nerius, „und ich wüsste genau, dass ich, wenn ich Olympiasiegerin werde, dafür ein Haus am Meer bekomme und lebenslange Rente, so viel Kohle vom Staat und vom Verband, dass meine Familien ausgesorgt hat – ich glaube, ich wäre das Risiko eingegangen.“
Die Speerwerferin Steffi Nerius lebt aber in Leverkusen. Sie ist zwar nicht Olympiasiegerin, aber seit Berlin 2009 Weltmeisterin. Und ihr Häuschen am Meer steht auf der Ostsee-Insel Rügen, wo sie 1972 geboren wurde. Sie vermietete es schon lange, bevor ihr zum Schluss der Karriere der große Wurf gelang.
„Ich glaube, ich wäre das Risiko eingegangen”: Steffi Nerius
Im Übrigen, findet sie, ist hierzulande nicht nur der Anreiz zum bedingungslosen Erfolg kleiner als an manchem anderen Ort der Welt. Auch das Risiko ist ziemlich groß. „Was hat man in Deutschland davon, dass man Olympiasieger wird?“, fragt sie und antwortet: „Nichts im Vergleich zu dem, was man verliert, wenn man erwischt wird. Das ganze Leben ist für den Arsch, der Ruf ist ruiniert.“
Sportliche Erfolge sind in vielen Ländern überbewertet
Ihr gehe es, was den Ruf und das Konto angeht, gut, sagt Steffi Nerius. Aber über die Frage, ob sie mit ihrem Titel ausgesorgt habe, muss sie lachen. Vor bald zwanzig Jahren ist sie für den Spitzensport aus Rostock an den Rhein gewechselt. Nach ihrer aktiven Zeit hat sie bei Bayer einen 48-Stunden-Job angenommen und ist Trainerin für Paralympics-Sportler geworden.
Es ist nur wenig abenteuerlich, sich Steffi Nerius als Griechin vorzustellen, wie sie in Athen gedopt Olympiasiegerin werden will. Denn tatsächlich wurde sie 2004 Zweite hinter der Kubanerin Osleidys Menéndez und vor der Griechin Mirela Maniani, der wohl ein Häuschen am Meer und üppige Rente winkten.
Aber mit ihrer steilen These wollte Steffi Nerius vermutlich weniger sich selbst bezichtigen als vielmehr das Publikum einer Veranstaltung der Nationalen Anti Doping Agentur (Nada) in Bonn aufwecken. In manchen Ländern (und in manchen Sportarten) sind sportliche Erfolge derart überbewertet, machte sie deutlich, dass niemand vor der Versuchung gefeit ist. Deshalb könne man auch niemandem trauen: der Konkurrenz ebenso wenig wie den Mannschaftskameraden.
„Irgendwann muss man irgendwas machen“
Im Alter von 17 Jahren erfuhr Steffi Nerius „unter Sportlern“, wie sie sagt, dass es nicht ausreicht, fleißig zu trainieren, um die Weltspitze zu erreichen: „Irgendwann muss man irgendwas machen.“ Da erwog sie, die Finger vom Hochleistungssport zu lassen. „Mein Ziel war es immer gewesen, einmal ganz oben zu stehen und die Nationalhymne zu hören“, erinnert sie sich. „Vor 21 Jahren habe ich mir gesagt: Das werde ich nie schaffen.“ Nach dem Gewinn von sechs deutschen Meisterschaften, der Europameisterschaft 2006 und der Weltmeisterschaft 2009 bilanziert sie: „Es wird viel geschimpft über das Anti-Doping-Meldesystem und über Eingriffe in die Privatsphäre. Ich kann das gut nachvollziehen und möchte mich trotzdem bei der Nada bedanken für dieses Kontrollsystem.“ Es hat ihr die großen Siege erst ermöglicht.
Das muss es gewesen sein, was ihr Trainer damals erwartet hatte. Er riet ihr abzuwarten. Kaum war die Welt nicht mehr in politische Blöcke aufgeteilt, ließ die Intensität der Stellvertreterkriege in den Stadien nach. 1988 noch hatte Petra Felke zunächst den Weltrekord auf glatte 80 Meter gesteigert und war dann mit 74,68 Meter in Seoul Olympiasiegerin geworden. Vier Jahre später, in Barcelona 1992, siegte Silke Renk mit nur noch 68,34 Meter. „Man hat gesehen: Die Leistungen gingen einen Schritt zurück“, sagt Steffi Nerius. „Da habe ich gedacht: Meine Zeit ist vorbei, definitiv“
Kurz vor der Jahrtausendwende, 1999, führte der Leichtathletik-Weltverband einen neuen Speer ein, dessen Schwerpunkt nach vorn verlagert war. Eine neue Rekordliste begann. Für Steffi Nerius war die Weltspitze erreichbar – bis anderthalb Jahrzehnte später in Peking Barbora Spotakova und Maria Abamukowa siebzig Meter übertrafen. „Da habe ich gedacht: Meine Zeit ist vorbei, definitiv“, erinnert sich Steffi Nerius. „Ich bin zu alt und habe dort vorn nichts mehr zu suchen.“ Ein Jahr später gewann sie in Berlin die Goldmedaille mit 67,30 Meter.
„Ich glaube, dass wir nie einen sauberen Sport haben werden“, sagt sie heute. „Aber man kann die Entwicklung eingrenzen. Für die, die etwas machen, wird es immer schwieriger, Lücken zu finden. Die Athleten, die nichts nehmen wollten und wollen, sind dafür dankbar. Deshalb nimmt man ein paar Sachen in Kauf. Andererseits war ich ganz froh, als 2007 das Meldesystem eingeführt wurde, dass ich wusste: In zwei Jahren bin ich raus.“
„Ich war froh, dass ich raus bin aus dem Meldesystem“
Dabei ist sie gar nicht raus. Das Meldesystem, das derzeit die Gewerkschaften der Basketball- und Handballprofis mit Kritik und Protestaktionen angreifen, erlebt Steffi Nerius nicht nur im Rückblick als Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte. Sie erlebt, wie es junge Athleten, die sie trainiert, an die Grenzen der Zumutung bringt. Einige von ihnen seien so unorganisiert, dass sie nicht mal am Tage wüssten, was sie am Abend wohl tun werden.
Wie sollten sie angeben, wo sie in drei Monaten zu erreichen sind? „Mal ist, weil sie keine Kohle mehr hatten, kurzfristig der Internetvertrag gekündigt worden“, erzählt sie aus der Wirklichkeit. „Sie haben gar keine Chance, ins Internet zu gehen. Sich mit einer SMS abzumelden, überfordert sie völlig.“ Aber die jungen Leute haben ja ihre erfolgreiche und erfahrene Trainerin. „Ich war froh, dass ich raus bin aus dem Meldesystem“, erzählt diese nun. „Jetzt kommen die Fragen der Athleten, und ich habe dasselbe in grün.“
Michael Reinsch, Bonn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 28. Dezember 2010