Die 1:53,28 sind der älteste Weltrekord der Leichtathletik.
Jarmila Kratochvilova – Der letzte Panzer – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Name Jarmila Kratochvilova steht für den ältesten Weltrekord der Leichtathletik, für den Kalten Krieg im Sport, für die Hoch-Zeit des Anabolika-Dopings. Diesen Mittwoch wird sie 60 Jahre alt und will von einer Opferrolle nichts wissen.
Der Raum ist Büro und Schlafzimmer, Küche und Umkleidekabine in einem. Vor dem einzigen Fenster, aus dem sie auf den Sportplatz mit abgetretener Laufbahn blicken kann, sitzt Jarmila Kratochvilova an einem von zwei Schreibtischen. Zwischen Schränken in der einen Ecke und Betten in der anderen steht ein vergessener Plastikweihnachtsbaum. An der Heizung trocknen Laufschuhe, am Schrank hängt eine rote Laufjacke. Es riecht nach Schweiß. Vier rot bezogene Sessel stehen an einem Couchtisch. Willkommen beim Sportclub Cáslav Vodratny, gut siebzig Kilometer östlich von Prag.
Glanz verbreitet hier nur die Erinnerung. Jarmila Kratochvilova ist die berühmteste Sportlerin des Vereins. Ihr graues Haar ist gefärbt, und sie macht, obwohl sie leicht humpelt, einen sportlichen Eindruck. Die schwarze Kleidung lässt sie schmal erscheinen. Man glaubt kaum, dass ihr Trainer Miroslav Kvac, als er sie vor mehr als vier Jahrzehnten dort draußen auf dem Sportplatz zum ersten Mal rennen sah, sagte, er habe einen Panzer entdeckt.
Ein Rekord wie in Stein gemeißelt – Jarmila Kratochvilova heute: „Das beste Doping ist Training”
Und doch: Sie stampfte die Konkurrenz und deren Bestzeiten ein. Muskulöser Körper, breite Schultern, kraftvoller Laufstil: Jarmila Kratochvilova stürmte Anfang der achtziger Jahre wie ein Mann durch die Rennen der Frauen und nahm ihre Medaillen. Nur ein paar Bilder erinnern hier und heute an den Muskelprotz von damals. Auf einem Schlüsselkasten steht eine Tafel, etwas größer als ein Nummernschild. „1:53,28“ steht darauf. Und, auf Tschechisch: „Jarmila, hast du nicht übertrieben?“ Die Mädchen ihrer Trainingsgruppe haben es ihr geschenkt, als diese 800-Meter-Bestzeit 25 Jahre alt wurde. Bald ist das drei Jahre her. Die 1:53,28 sind der älteste Weltrekord der Leichtathletik.
Zahlen sprechen in dieser Sportart. Wäre Jarmila Kratochvilova in der vergangenen Saison ihre Bestzeit von 11,09 Sekunden über 100 Meter gelaufen, wäre sie damit die Nummer 13 der Welt geworden, eine Hundertstelsekunde schneller als Europameisterin Verena Sailer. Ihre 21,97 Sekunden über 200 Meter haben in diesem Jahrtausend erst drei Sprinterinnen unterboten; eine von ihnen ist die des Dopings überführte Marion Jones.
47,99 Sekunden über 400 Meter: Damit war Jarmila Kratochvilova, bei der ersten Weltmeisterschaft 1983 in Helsinki, die erste von nur zwei Frauen, die je 48 Sekunden unterboten. Selbst weniger als 49 Sekunden haben seit dem Jahr 2000 lediglich zwei, Sanya Richards und Ana Guevara, geschafft. Und diese 1:53,28 Minuten.
Sie stehen seit dem 26. Juli 1983 wie in Stein gemeißelt. So lange wie dieser Weltrekord über 800 Meter stand noch kein Fabelrekord ihrer Sportart, so lange blieb noch keine zur Schallmauer erklärte Bestzeit unberührt. Selbst die erstaunliche Kenianerin Pamela Jelimo blieb beim bisher schnellsten Lauf ihres Lebens, den 1:54,01 Minuten von Zürich, elf Tage nach ihrem Olympiasieg von Peking 2008, 73 Hundertstelsekunden von diesem Rekord entfernt.
Der Rekord lastet auf der Sportart
32 Jahre alt war Jarmila Kratochvilova, als Kvac sie im Olympiastadion von München auf die 800 Meter schickte. Weil sie leicht angeschlagen war, wollte er ihr die 400 Meter ersparen. Es ging ja um nichts. So stürmte sie unbeschwert drauflos. Fünfzehn Jahre Training und Kasteiung kulminierten in diesem Lauf. Die letzten 200 Meter rannte sie wie einen Sprint.
Vierzehn Tage später gewann sie bei der WM von Helsinki innerhalb von 35 Minuten das Halbfinale über 400 Meter und den Endlauf über 800. Tags drauf lief sie die Bestzeit, die sie am meisten wollte: die über 400 Meter. Sie war auf dem Höhepunkt ihrer sportlichen Laufbahn.
Sportpolitischer Größenwahn
Eine Zahl spricht nicht zu ihr: die Sechzig. Ihr Geburtstag. „Das Alter ist das einzige, das für alle gerecht ist“, sagt sie. Ob sie ihren kaputten Rücken meint, der sie ihr rechtes Bein nachziehen lässt? An diesem Mittwoch, 26. Januar, wird sie sechzig Jahre alt.
„Jarmila, hast du nicht übertrieben?“ Der Sport, die Leichtathletik waren Teil des Kalten Krieges. Schlachtfeld waren die Stadien, aufgerüstet wurde mit Hormonen. Eine Reihe von heute unerreichbar erscheinenden Rekorden dokumentiert die unheilvolle Verquickung von sportpolitischem Größenwahn und medizinisch-pharmazeutischen Übergriffen. Wenn man überzeugt ist, dass der Kalte Krieg Sport und Athleten verletzte, sind die Rekorde von damals die Male, die daran erinnern.
Jarmila Kratochvilova will das Wort von der anabolen Ära nicht akzeptieren. „Wie will man das beurteilen?“, fragt sie. Dokumente des Dopings liegen für den DDR-Sport vor. Sie wurde nie positiv getestet. Doch man darf sich nicht täuschen: Anabolika-Doping wirkt nicht allein durch die Einnahme, sondern verlängert auch die Fähigkeit, sich zu schinden, sich schinden zu lassen.
„Ich wurde zu nichts gezwungen“
Ihre überaus maskuline Erscheinung von damals sei nichts Außergewöhnliches, findet Jarmila Kratochvilova. „Das beste Doping ist Training. Und der beste Beweis sind die Stapel von Trainingsbüchern. Sie zeigen, wie wir die Leistung aufgebaut haben: nicht drei, sondern sechzehn Jahre lang.“ Einmal wöchentlich habe sie Spritzen bekommen. „Sie enthielten Vitamin B12. Wenn jemand gesagt hat, dass es hilft, hat man das geglaubt“, sagt sie.
Erstaunlich ist ihre Reaktion auf die Frage nach Manuel Pascua Piquera. Das ist der gerade verhaftete spanische Doping-Trainer und Komplize von Blutpanscher Eufemiano Fuentes. Er soll schon in den achtziger Jahren versucht haben, durch ein Austauschprogramm von Athleten Doping-Fachwissen aus dem Ostblock zu erwerben. Jarmila Kratochvilova erinnert sich an einen Trainingsaufenthalt in Madrid, gemeinsam mit Kugelstoßerin Helena Fibingerova. Sie habe sich wohl auf die Hallen-Europameisterschaft 1985 dort vorbereitet, sagt sie.
Auf die Frage, ob sie Pascua kenne, bekommt sie einen hochroten Kopf, zum einzigen Mal während des langen Gesprächs. Der Name komme ihr bekannt vor, sagt sie, vielleicht von damals, vielleicht von den jüngsten Meldungen. Mag sein, dass in den Erfolgen spanischer Langläufer ein bisschen von dem Erfolgsrezept der Jarmila Kratochvilova steckt.
Als Opfer versteht sie sich nicht; nicht als eines des Dopings, nicht als eines der Politik. „Ich wurde zu nichts gezwungen“, sagt sie. „Ich habe immer gemacht, was ich wollte.“ Dabei hat die Politik sie mit dem Boykott des Ostblocks um das triumphale Finale ihrer Laufbahn betrogen: die Chance auf den Olympiasieg von 1984 in Los Angeles, die Gelegenheit zum großen Duell mit ihrer deutschen Konkurrentin Marita Koch über 400 Meter. „Der Weltrekord ist kein Ersatz“, sagt sie. „Aber er gibt zumindest ein angenehmes Gefühl.“
Training mit Bleiweste und Gasmaske
Marita Koch war ihr Vorbild und ihre größte Konkurrentin. „Als sie 1985 den Weltrekord unterbot, wusste ich, dass er in den richtigen Händen ist“, sagt Jarmila Kratochvilova. Die 47,60 Sekunden der Läuferin aus Rostock sind der zweitälteste Weltrekord der Leichtathletik, ebenfalls unerreichbar. „Es ist richtig, dass sie ihn hat“, fährt sie fort. „Sie hat mir geholfen, das zu erreichen, was ich erreicht habe.“ Im Zimmer von Jarmila Kratochvilova hing damals ein Foto von Marita Koch. Das sah sie als Erstes, wenn sie morgens die Augen aufschlug, und als Letztes, wenn sie ins Bett fiel. Dazwischen trainierte sie wie wild und fragte sich immerfort, ob sie genug tat, um so erfolgreich zu sein wie die Deutsche.
Eine besondere Sympathie verbindet Jarmila Kratochvilova mit Marita Koch. Sie mag spüren, dass auch der Deutschen ihr Talent nicht als Geschenk, sondern auch als Kreuz gegeben war, an dem sie schwer zu tragen hatte. Beide verfügten zusätzlich zu der Gabe, schnell zu laufen, über die Fähigkeit, unsägliche Fron zu ertragen – und die erlegten ihre Trainer ihnen auf. Gewichte, Läufe mit Autoreifen im Schlepp, Sprints bis zum Erbrechen – das erlitten beide für ihre Trainer.
Marita Koch schützte Wolfgang Meier, ihren Partner und Ehemann, vor Neid und Missgunst im Sport-Establishment der DDR mit ihren Erfolgen. Jarmila Kratochvilova kämpfte in Cáslav für den in Ungnade gefallenen Obersten Miroslav Kvac. Mit vierzehn war er zum Militär gegangen, hatte eine Eliteausbildung in Moskau absolviert und kommandierte schließlich eine Panzerbrigade, als der Prager Frühling anbrach. Als die Sowjetarmee antrat, entschied er sich für die Seite der Unterlegenen.
Statt General wurde er Trainer. Da hatte er nur noch einen Panzer: Jarmila Kratochvilova. Sie bestätigt die Überlieferung, dass er sie mit Bleiweste und Gasmaske barfuß in knöcheltiefem Wasser trainieren ließ. „Das hat er nur einmal getan“, sagt sie milde. „Wir mussten beide noch lernen.“
„Talent ist keine Verpflichtung“
Kvac war verheiratet, Jarmila ist ledig geblieben. Zwischen beiden herrscht Funkstille. „Ich werde ihn zum Geburtstag einladen“, sagt sie. „Aber er ist achtzig und wird wohl nicht kommen, wenn er in seiner Datsche in den Bergen ist.“
Ihr Leben hat sich nie aus der Umlaufbahn des Stadions entfernt. Auf der Bahn vor ihrem Fenster trainiert sie Teenager. Sie müsste eigentlich die Hälfte von ihnen rauswerfen, sagt sie, wenn sie nicht so weich wäre. Eine Dreizehnjährige allerdings läuft schneller, als Lida Formanova es in dem Alter konnte, und die wurde – auch sie dieser Bahn in Cáslav entsprungen – immerhin 1999 in Sevilla Weltmeisterin über 800 Meter. „Talent ist keine Verpflichtung“, sagt Jarmila Kratochvilova. „Manchmal schade.“ Die Ordnung im Sozialismus habe dafür gesorgt, sagt sie, dass ihre Generation disziplinierter war als die Jugend heute.
Am Abend wird sie von dem sanierungsbedürftigen Sportplatz in ihr Haus in Golcuv Jeníkov fahren, wo sie mit ihren Eltern lebt, in Nachbarschaft ihrer beiden Schwestern mit ihren großen Familien.
„Ich habe das Gefühl“, sagt sie, „dass ich zurückbekommen habe, was ich gegeben habe.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 26. Januar 2011