Schon das behutsam ausgewählte Titelfoto zum Band verdeutlicht die hohe politische Symbolik des Sports in Deutschland während des Kalten Krieges:
Zwischen „Ästhetik und Politik“ – Sportfotos im Kalten Krieg – Text-Bild-Band zu einer bemerkenswerten Ausstellung erschienen – Die Rezension von Prof. Dr. Detlef Kuhlmann
Fast unbemerkt von der sportinteressierten Öffentlichkeit war von Dezember letzten Jahres bis zum Januar 2011 im Deutschen Bundestag eine Fotoausstellung des Zentrums deutsche Sportgeschichte Berlin-Brandenburg e.V. zu sehen.
Wegen der erhöhten Sicherheitsvorkehrungen blieb nämlich das Berliner Paul-Löbe-Haus für Gäste leider geschlossen. Umso erfreulicher ist es dann, dass parallel dazu ein insgesamt sehr sorgfältig zusammengestellter Text-Bild-Band vorliegt, der bemerkenswerte Zeugnisse der deutschen Sportfotografie zur Zeit des Kalten Krieges aus den Jahren 1945 bis 1990 enthält und diese in einen künstlerischen und gesellschaftlichen Kontext zwischen „Ästhetik und Politik" (Titel) einordnet.
Auf 130 Seiten werden im Wechselspiel von Bild und Wort vergessene und unvergessene Ereignisse und Epochen deutscher Sportgeschichte präsentiert. Mehr noch:
Neben den vielfach bekannten Gesichtern vor der Kamera widmen sich die Macherin (Jutta Braun) und der Macher (René Wiese) der Ausstellung bzw. des Bandes auch den meist weniger bekannten Köpfen hinter der Kamera: An Heinrich von der Becke (der „Picasso mit der Kamera") und seinen Schüler Max Schirner sowie an Sven Simon (den 1980 verstorbenen Sohn des Verlegers Axel Springer) mögen sich die Älteren vielleicht noch erinnern, aber wer sind noch mal Gerhard Kiesling, Ludwig Bach, Rupert Leser oder Eberhard Thonfeld – ganz abgesehen von Wolfgang Behrendt, dem ersten Olympiasieger der DDR beim Boxturnier 1956 in Melbourne, der später an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee Fotografie studierte und Sportfotografie zu seinem Beruf machte.
Schon das behutsam ausgewählte Titelfoto zum Band verdeutlicht die hohe politische Symbolik des Sports in Deutschland während des Kalten Krieges: Es handelt sich um die Momentaufnahme von drei 200-Meter-Läufern, die auf einer Aschenbahn in Jena im August 1964 einen Ausscheidungswettkampf zur Teilnahme an den Olympischen Spielen in Tokio bestreiten. Dort startete bekanntlich zum letzten Male eine gesamtdeutsche Olympiamannschaft.
Mag sein, dass wegen dieser besonderen Art des Qualifikationsrennens die eigentlich üblichen Embleme auf den Trikots der Läufer entfernt wurden. Gleichwohl lässt sich zweifelsfrei aufgrund der farblich im Kontrast stehenden Sportkleidung auf dem Schwarz-Weiß-Foto erkennen, dass zwei Läufer (Schumann und Obersiebrasse) aus dem Westen stammen und einer hier für den Osten (Wallach) unterwegs ist. Das Foto zeigt aber auch die ganze Dramatik, die dem Sport generell und speziell dem Wettlauf innewohnt liegt.
Das Rennen geht augenblicklich in seine entscheidende Phase und kündigt beim Einbiegen auf die Zielgerade den immer noch völlig offenen Ausgang an: Noch scheinen alle drei Läufer (wegen oder trotz der Kurvenvorgabe) ziemlich gleichauf. Das Rennen ist unentschieden – wer wird am Ende vorn liegen? Niemand wollte sich da jetzt schon festlegen, selbst die staunenden Zuschauer auf dem Foto im Hintergrund nicht.
Der Katalog in Buchform, der auch unter der Mitwirkung der Berliner Sporthistoriker Michael Barsuhn, Ronald Huster und Lorenz Völker entstanden ist, gliedert sich nach Vorwort, Einleitung und Prolog in insgesamt sechs thematische Abschnitte: Im ersten mit der Überschrift „Erbe und neue Tradition" liegen viele fotografische Schauplätze im geteilten Berlin: Beispielsweise in der Nachkriegszeit beim Autorennen auf der (West-) Berliner Avus-Strecke und seinem östlichen Pendant unter dem Namen „Bernauer Schleife", ebenso ab Ende der 1960er Jahre beim Bundesfinale von „Jugend trainiert für Olympia" im Schöneberger Schwimmstadion auf der einen und bei der Eröffnung der Bezirksspartakiade im Jahn-Sportpark in Prenzlauer Berg auf der anderen Seite.
Das Kapitel „Botschafter, Helden und Verräter" zeigt neben vielen anderen Radsport-Ikone Täve Schur genauso wie die Helden von Bern, Roland Matthes neben Kornelia Enders und Michael Groß neben Ulrike Meyfarth, aber auch Jürgen Sparwasser und den fußballspielenden Friedens-Aktivisten Ewald Lienen („Sportler für den Frieden") bei einer Ansprache in Mönchengladbach 1981. Die restlichen vier Teile sind überschrieben mit: „Politik am Ball" (u. a. mit Walter Ulbricht auf Ski und Franz-Josef Strauß bei Krafttraining), „Gemeinsam" (u. a. mit Präsentation der Kleidung der gemeinsamen Olympiamannschaft für Rom 1960 und Willi Daume am Begutachtertisch), „Die unsichtbare Seite" (u. a. mit einer Innenaufnahme vom Trainingszentrum Kienbaum bei Berlin) und „Boykotte, Querelen und Duelle" (u. a. mit dem Titelbild der Ausstellung bzw. des Bandes).
Der Katalog (132 Seiten; 90 Abbildungen; 24,95 €) kann bezogen werden über den Arete Verlag, Saarstr. 83, 31141 Hildesheim, Tel. 05121-9826603; per E-Mail: bestellung@arete-verlag.de.
Zum Schluss: Die Ausstellung, die seinerzeit in Berlin von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammers eröffnet wurde, ist ab dem 16. Februar 2011 in Magdeburg zu sehen: Gedenkstätte Am Moritzplatz, Umfassungstrasse 76.
Weitere Informationen sind auch im Internet abrufbar unter: www.aesthetik-und-politik.de.
René Wiese/Jutta Braun: Ästhetik und Politik. Deutsche Sportfotografie im Kalten Krieg. Begleitbuch zur Ausstellung. Hildesheim 2010: Arete Verlag.
Prof. Detlef Kuhlmann