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28
02
2011

„Dreißig plus“ nannte Günther Lohre, der Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), als erwünschte Mannschaftsgröße für die Titelkämpfe in einer Woche an der Seine

Verena Sailer nutzt den Winter – Sebastian Ernst läuft in Leipzig einen deutschen Rekord über 200 Meter – bei der Europameisterschaft in Paris ist dieses Talent aber nicht gefragt. Die deutsche Hallenmeisterschaft der Leichathleten war ein Spiegelbild der Sportart. Michael Reinsch, Leipzig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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So viel war bei der deutschen Hallenmeisterschaft der Leichtathleten in Leipzig die Rede von Pause, Startverzicht, von Auszeit und von Abwesenden, dass Verena Sailer sich zur Widerrede aufgerufen fühlte: „Es ist nicht Gesetz, dass eine Pause im Winter Erfolg im Sommer bringt.“

Die Sprint-Europameisterin, die sich für den größten Erfolg ihrer Karriere im vergangenen Jahr in Barcelona selbst mit einer Wettkampf-Auszeit im Winter in Form gebracht hatte, lief diesmal also. Sie siegte trotz eines schlechten Starts am Samstag auf den 60 Metern in 7,28 Sekunden deutlich. Bei der Hallen-Europameisterschaft in Paris, kündigte sie an, werde sie schneller laufen müssen, um eine Medaille zu gewinnen.

Deutschen Rekord von 20,42 Sekunden rannte am Sonntag Sebastian Ernst (Wattenscheid) über 200 Meter – eine Distanz, die es bei internationalen Hallenmeisterschaften nicht mehr gibt. „Wenn die da oben meinen, 200 Meter und die Halle passten nicht zusammen“, schimpfte der Wattenscheider nach der schnellen Runde, „sollen sie mal nach Leipzig kommen.“ Nach Paris allerdings kommt er nicht. Für den Schluss- und Höhepunkt in Leipzig sorgte Raúl Spank. Allein hielt er die mehr als 3000 Zuschauer in der Halle, als er sich in nur drei Sprüngen auf 2,30 Meter steigerte und zwei Mal an 2,34 Meter versuchte.

„Dreißig plus“ nannte Günther Lohre, der Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), als erwünschte Mannschaftsgröße für die Titelkämpfe in einer Woche an der Seine. Er war es, der den Athleten in der Jagd nach Form und Leistungen noch im vergangenen Sommer Zurückhaltung, gar den zeitweiligen Rückzug vom Wettkampf empfahl. Regeneration statt Stress und Druck. Wie zur Bestätigung kam nun in Leipzig der 19 Jahre alte Kugelstoßer David Storl aus einer viermonatigen Pause wegen Pfeifferschen Drüsenfiebers zurück und besiegte den Neubrandenburger Ralf Bartels, der kürzlich 20,91 Meter vorgelegt hatte, mit 20,70 zu 20,68 Metern. In Paris gilt Storl jetzt als Medaillenkandidat.

Spannender Stabhochsprung

Chef-Bundestrainer Herbert Czingon, konstatierte: „Die Hallen-Europameisterschaft hat nicht so einen Stellenwert, dass sie den Erfolg bei einer Weltmeisterschaft oder bei Olympischen Spielen gefährden darf.“ Sein Kollege für die Laufwettbewerbe, Sheik Idriss Gonschinska, empfiehlt, die Wintersaison nur en passant mitzunehmen: „Wer sich dezidiert auf Hallenwettbewerbe vorbereiten würde, würde eine andere Disziplin trainieren und hätte im Sommer Defizite.“

Der Stabhochsprung bot einen Blick auf beide Varianten der Saisonplanung, auf ein ausgedünntes Feld bei den Männern und auf lebhafte Konkurrenz bei den Frauen. Wie erwartet siegte Malte Mohr, der mit 5,83 Meter beste deutsche Stabhochspringer dieses Winters. Doch für den Titelgewinn stehen nicht mehr als 5,65 Meter zu Buche. Ihm habe der Druck gefehlt, höher zu springen, sagte er, nachdem er dreimal an 5,80 Meter gescheitert war. „Nicht befriedigend“, nannte Czingon das Leistungsbild.

Lobinger will nach London

Verena Sailers Lebensgefährte Tobias Scherbart sowie Raphael Holzdeppe, Danny Ecker und Alexander Straub schonten sich allesamt. Auch deshalb wurde der mit 39 Jahren vermutlich älteste Teilnehmer der Meisterschaft, Mohrs Münchner Mannschaftskamerad Tim Lobinger, Zweiter (5,60). Er wolle zur EM, ließ der frühere Sechs-Meter-Springer durchblicken, obwohl er die Norm von 5,70 Meter nicht erreicht hat. Nach Paris fahre er ohnehin; Eurosport habe ihn als Kommentator verpflichtet. Statt vom Aufhören spricht Lobinger von weiteren Ambitionen – und von einer Pause. Um sich für seine fünften Olympischen Spiele zu qualifizieren, 2012 in London, will er die nächste Wintersaison auslassen.

Die Stabhochspringerinnen trieben sich gegenseitig an. Kristina Gadschiew (Zweibrücken) versuchte sich, erfolglos, an 4,70 Meter, um Lisa Ryzih (Ludwigshafen) zu übertreffen, die vor ihr 4,65 Meter überwunden hatte und damit Meisterin wurde. Silke Spiegelburg, die Zweite der Europameisterschaft, fehlte – und gibt gerade deshalb Anlass zu den schönsten Hoffnungen: In Paris und im Sommer soll sie topfit sein.

Druck aufs Fernsehen

Neben der richtigen Saisonplanung war das drohende Verschwinden der Leichtathletik aus dem Fernsehen großes Thema der Titelkämpfe. „Wir brauchen Präsenz, um unseren Sport ausüben zu können“, sagte in Leipzig die Marathonläuferin Susanne Hahn, die den offenen Brief initiiert hat, mit dem die deutschen Leichtathleten die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF zur Übertragung der WM im Sommer in Südkorea aufgefordert haben.

Zurückhaltend reagierte sie allerdings darauf, dass der Sprecher des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF, Nick Davies, gemeinsam mit dem für den Verkauf der Fernsehrechte zuständigen Helmut Digel in Leipzig eine Website namens „Kein-WM-Blackout.org“ präsentierte und T-Shirts mit dieser Devise verteilte. Davies und Digel wollen öffentlichen Druck auf das Fernsehen aufbauen. „Wir wollen unsere Sportart im Fernsehen sehen“, sagte dazu DLV-Präsident Clemens Prokop. „Uns ist an flächendeckender Verbreitung gelegen, nicht an Gewinnmaximierung.“

Michael Reinsch, Leipzig in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 27. Februar 2011

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