Seit 1872 erinnert in der Hasenheide ein Denkmal an Jahn. Es bestehe die Notwendigkeit, es zu sanieren, sagte kürzlich der für den Sport zuständige Innensenator Erhard Körting. „Ich habe die Mittel nicht bekommen."
Friedrich Ludwig Jahn – Vater der Bewegung – Vor 200 Jahren ließ Friedrich Ludwig Jahn in der Märkischen Heide bei Rixdorf den ersten Turnplatz der Welt errichten. Nun erinnert eine Ausstellung an den Gründer der Turnbewegung. Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Wenn Kleinkinder gemeinsam mit ihren Müttern Purzelbäume schlagen, ist das so etwas wie der, nun ja, kleinste gemeinsame Nenner des deutschen Sports. Kaum ein Spitzenathlet, der nicht als Kind auf der Turnmatte tobte, kaum junge Eltern, die nicht ihre Sprösslinge mit turnerischem Körpergefühl und Schwung ins Leben schicken.
Würden die Kinder in deutschen Turnvereinen einen eigenen Sportverband gründen, wäre dieser mit 1,7 Millionen der drittgrößte hinter Fußballspielern und erwachsenen Turnern, vor Tennisspielern, Schützen und Leichtathleten.
Für das andere Ende des Spektrums stehen die Spitzenturnerinnen und Turner, die in der nächsten Woche in Berlin zur Europameisterschaft zusammenkommen: hochspezialisierte Athleten, deren Leistungen an Reck und Ringen, an Boden und Balken bis drei Stellen hinter dem Komma benotet werden.
Kinder und Kraftbolzen, diejenigen, die krabbeln, und jene, die sich mutig in die Luft katapultieren, verbindet mehr noch als ihr Tun die Tradition. Wie eine schnurgerade, siebeneinhalb Kilometer lange Linie führt sie aus der Hasenheide, einem Volkspark im Bezirk Neukölln, nordwärts zur Max-Schmeling-Halle am Mauerpark in Berlin-Mitte. Die Ausstellung „200 Jahre Turnbewegung – 200 Jahre soziale Verantwortung" wird bei ihrer Tournee durch Deutschland daran erinnern, dass Friedrich Ludwig Jahn im Juni 1811 vor der Stadt, in der Märkischen Heide bei Rixdorf, den ersten Turnplatz der Welt einrichtete. Wie karg die sandigen Hügel waren, in die der Hilfslehrer Jahn mit seinen jugendlichen Anhängern zu Räuber- und Ritterspielen zog, bezeugte Alexander von Humboldt, als er bei seiner Russland-Expedition befand: „Ganz Sibirien ist eine Fortsetzung unserer Hasenheide."
Das war 1829, und da war schon seit zehn Jahren wieder Schluss mit der Turnerei. Jahn wurde 1819 für fünf Jahre inhaftiert, obwohl der zuständige Richter ihn für einen Wirrkopf hielt und freilassen wollte, das Turnen wurde verboten. Der Richter war der Dichter E.T.A. Hoffmann, und ihn führt Günter de Bruyn in seinen Preußen-Porträts „Die Zeit der schweren Not" als Kronzeugen für „die Lächerlichkeit dieses geltungssüchtigen Mannes" an. Demnach drückte sich Jahn mit selbstgemachten Wörtern aus und schlug vor, zur Sicherung der Grenzen Wildnis und Wüsten mit gefährlichen wilden Tieren anzulegen.
Eines der von Jahn geschaffenen Wörter war Turnen, und es bedeutete Spiel ebenso wie Ertüchtigung, Rennen und Reiten, Klettern und Ringen. Mit dem, was wir heute Geselligkeit und Fitness nennen, war es Jahn nicht getan. Er schwärmte wortreich von der nationalen Einheit der mehr als dreihundert deutschen Klein- und Kleinststaaten, und er wütete gegen die napoleonische Besatzung Preußens. Ihm gelang es, zugleich die Ideale der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – zu vertreten wie glühenden Hass auf die Franzosen zu pflegen.
Fechten, Schießen, Lanzenwerfen ließ Jahn seine Turner für den Krieg gegen Napoleon üben, für die Völkerschlacht, die schließlich 1813 in Leipzig stattfand und mehr als hunderttausend Männer das Leben kostete. Beim Wartburgfest 1817 war er es, der bestimmte, welche Bücher auf den Scheiterhaufen verbrannt wurden.
„Volksthümlichkeit" heißt heute soziale Verantwortung
Auf dem Turnplatz dagegen, den er mit Holzpferd und Kletterseilen ausstattete, sprachen sich die Männer mit Du an und überspielten Standesunterschiede durch einheitliche schlichte Turnkleidung. Wer konnte, zahlte einige Groschen zur Einrichtung des Turnplatzes, wer nicht, der turnte so mit. Die „Volksthümlichkeit" von damals nennen die Turner von heute soziale Verantwortung. „Gehen, Laufen, Springen, Werfen, Tragen sind kostenfreie Übungen", schrieb Jahn, „überall anwendbar, umsonst wie die Luft." Auch pädagogisch begründete er die Turnerei. Selbsttätigkeit bei den Übungen sollte zu Selbständigkeit im Leben führen, die Bewegung an frischer Luft sollte „der bloß einseitigen Vergeistigung die wahre Leiblichkeit zuordnen".
So trennt Rainer Brechtken, Präsident des mehr als fünf Millionen Mitglieder starken Deutschen Turnerbundes, den politischen Jahn vom Sportler Jahn sorgfältig ab. „Total banal" nennt er dessen Buch „Deutsches Volksthum", ein Sammelsurium von ausländerfeindlichen und nationalistischen Gemeinplätzen. Andererseits: „Von Jahns Ideen auf dem Turnplatz lebt das Sportsystem im deutschsprachigen Raum bis heute." Brechtken schwärmt geradezu von dem „phänomenalen Bewegungsangebot" und der Selbstorganisation der ersten Turner. „Heute würde man das bürgerschaftliches Engagement nennen", sagt er.
Fundament der Turnbewegung
Seit 1872 erinnert in der Hasenheide ein Denkmal an Jahn. Es bestehe die Notwendigkeit, es zu sanieren, sagte kürzlich der für den Sport zuständige Innensenator Erhard Körting. „Ich habe die Mittel nicht bekommen."
Obwohl das Grünflächenamt von Neukölln eine Grundreinigung versprochen hat, erwartet Gerd Steins vom Berliner Sportmuseum, einer der größten Jahn-Experten der Hauptstadt, dass das Denkmal am 18. Juni, dem Jahrestag der Gründung des Turnplatzes, wieder besprüht und beschmiert sei. Die vom Berliner Turnerbund zur Gymnaestrada 1995 nachgebauten historischen Turngeräte wie Zweibaum und Schwingel sind längst weggeräumt, das Versprechen, ein Freilichtmuseum einzurichten, ist längst gebrochen. Nun entsteht dort der Sri Ganesha Hindu Tempel.
Weniger die vier Meter große heroische Bronzestatue von Jahn als vielmehr das Fundament scheint dem Bild von Jahn in Deutschland gerecht zu werden. Dutzende von Steinen, die Turner aus ganz Deutschland und aus dem Exil in Nord- und Südamerika mit eingemeißelten Widmungen schickten, lassen sich als Steinbruch lesen. Als solcher, sagt Brechtken, diene die Hinterlassenschaft Jahns, aus der sich seit zweihundert Jahren jeder herausbreche, was er zur Unterfütterung seiner Ideologie brauche.
Ob die kaisertreuen Nationalisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die ihren Besten Schimpf und Schande nachschickten, als diese sich für die ersten Olympischen Spiele 1896 in Athen gewinnen ließen (und dort 13 Medaillen, davon sechs goldene, gewannen); ob die Nationalsozialisten Hitlers, die sich auf die militärische Ertüchtigung beriefen; ob Sozialisten der DDR oder verschiedene politische Bewegungen der Bundesrepublik: Alle fanden, was sie wollten, in den überlieferten Worten und Schriften Jahns, der zeit seines Lebens weder Schule noch Hochschule je abschloss.
Auch deshalb widersteht Brechtken der Versuchung, aus Jahns Turnerei ohne Wertung und Konkurrenz den Freizeitsport von heute herauszulesen. Was mit fünfzig, später hundert jungen Männern in der Hasenheide begann, ist längst zu einer Organisation von mehr als 20.000 Vereinen geworden, die zu mehr als zwei Dritteln von Frauen getragen wird. Die beste Erinnerung an Jahn ist das, was aus seiner Bewegung, besser: aus seiner Anleitung zur Bewegung, geworden ist.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 2. April 2011