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16
07
2011

Doch fragt man sie nach einem Traum, so hört man diesen: eine Wasserstelle in ihrer Nähe.

Drängelei um „Marathon“ – Ein Schulobjekt in Äthiopien, das seit 2006 nur durch Spenden deutscher Läufer möglich wurde. In einer Gegend, die weder Straßen, Licht noch Wasser kennt. Im April 2011 wurden nun Klassen „Stendal“ und „Frankenthal“ eröffnet. Klaus Weidt* berichtet

By GRR 0

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Kinder von Shafamu kennen noch keinen Marathon. Sie können sich nicht einmal die Strecke von 42,195 km vorstellen. Sie wissen nur, dass sie jetzt nicht mehr pro Tag zwei Stunden Fußweg benötigen, um am Schulunterricht teilnehmen zu können. Denn als die neue Schule namens „Marathon" eröffnet wurde, halbierten sich die Wege von ihren Hütten, und manche Eltern entschieden sich da überhaupt erst, ihre Kleinen in eine erste Klasse zu schicken.

Doch wen sie kennen, das ist Haile Gebrselassie. Auch ohne Fernsehen, Zeitungen und Radio. Sie wissen alle in ihrer Region der Gurage-Stämme, dass er zweimal Olympiasieger wurde und heute der beste Marathonläufer der Welt ist. Und befragt man die Älteren des 4000 Seelen umfassenden Shafamu-Dorfes, so ist er für sie ein „Heros", den sie noch mehr als ihren Präsidenten verehren. Nennt man den Namen „Haile", so glänzen ihre Augen.

Haile hat einen Anteil an dieser neuen Schule, und das kam so: Vor fünf Jahren gelang es erstmals einer deutschen Reisegruppe, an einer äthiopischen Laufveranstaltung teilzunehmen. Der Abebe-Bikila-Marathon erwies sich zwar als ungeeignet für die angereisten Hobbyläufer aus Mitteleuropa, bei dem die Trainer bereits nach 2:45 Stunden die Stoppuhren in die Tasche steckten, da sie in dieser Zeit gut und gern 100 Läufer gesichtet hatten.

Doch sorgten die fünfzehn Deutschen allein durch ihr Erscheinen für Aufsehen, was nicht nur die Athletik- Föderation Äthiopiens mit Trainingsanzügen ihrer Nationalmannschaft  würdigte, sondern auch Wunderläufer Haile Gebrselassie mit einer persönlichen Einladung in sein Wohnhaus. Diese bis dato einmalige Geste deutschen Lauffreunden gegenüber rief natürlich Begeisterung hervor und konnte trotz straffen Reiseplans nach Ende des fest gefügten Programms angenommen werden.

Da hatten die Reisenden bereits einen kleinen Einblick in das zentralafrikanische Höhenland erhalten. Sie bewunderten Felsenkirchen, Seenketten, uralte Stelen und die Tänze der Dorse-Stämme im Süden. Sie waren beeindruckt von der vielfältigen Landschaft und der steten Freundlichkeit der Menschen, zugleich aber auch berührt von der Armut der meisten Bewohner.

Haile Gebrselassie nach seiner Meinung befragt, wie da auch deutsche Marathonläufer helfen könnten, formulierte sie etwa so: „Gebt keinen Fisch, sondern zeigt, wie man ihn fängt." Und so entstand bei schmackhaften Fladen, scharfen Soßen, pikanten Fleischstückchen und starken Kaffee im Haile-Haus am Rande der Entoto-Hügel die Idee, eine Schule zu bauen. Irgendwo im tiefen Äthiopien, dort, wo sonst nie eine entstehen würde. Mit Spenden von Läufern.

Monate später flog der Autor dieses Berichtes abermals zu Haile. Mit dem Entwurf eines Aufrufs an deutsche Running-Freunde, eine Schule für Äthiopien zu unterstützen, die den Namen „Marathon" erhalten sollte. Der Olympiasieger über 10.000 m, der gerade im Begriff war, auf die 42,195-km-Distanz umzusteigen, bedankte sich und setzte schwungvoll seinen Namen unter den Brief.

Freund Amanuel Hawariat, Reisemanager in Addis Abeba, fand schließlich jene Gegend, ca. 220 Kilometer südlich der Hauptstadt, wo man wie einst zu Hailes Kindheit stundenlang zur nächsten Schule laufen musste – oder es sein ließ. Wo es keine Elektrizität, Wasserbrunnen nur in weiter Entfernung und kaum befestigte Straßen gab. Der Grundstein war ein einziger windiger Raum, mit einem Stück Tafel, aber keinen Sitzplätzen. Die Schüler folgten dem Lehrer auf dem Boden hockend.

Mit den ersten Spendengeldern wurden erste Klassenräume gebaut. Ein guter Anfang. Danach fertigten engagierte junge Bautischler in der Bezirksstadt Welkite nach Fotos, die aus Deutschland mitgebracht wurden, Sitzmöbel an. Als die Lastwagen mit 120 dieser montierten Sitze und Tische vorfuhren, standen alle Schulkinder mit offenen Mündern und leuchtenden Augen vor ihrem Schulflachbau. Doch – sie mussten noch warten. Die Ersten, die sich das Recht des Probesitzens herausnahmen, waren die des Ältestenrates.

Die wenigsten dieser alten Männer hatten weder schreiben noch lesen gelernt. Bei einigen sah man, wie sie ihre Rührung verdrängten. Wenig später machte ein für Shafamu sensationeller Bericht die Runde: Die Schule, inzwischen erweitert, hatte Glasfenster und abschließbare Türen bekommen. Für ein Dorf mit etwa 400 strohbedeckten Rundhütten aus Lehm, die keine Fenster kennen, unfassbar. Bewohner pilgerten zur neuen Schule, tanzten und sangen Lieder nach Gurage-Art.

Am 9. Juni 2007 wurde das erste Gebäude komplett fertig gestellt. Ein Schild mit amharischen Buchstaben wies nun darauf hin, dass hier ein Objekt  „Marathon" entsteht. Wieder flog eine Reisegruppe, diesmal mit 26 Lauftouristen, nach Äthiopien und ließ sich die Eröffnungsfeier nicht nehmen. Dorfbewohner und Schulkinder drängten sich um die Besucher. Sie hatten sich festlich gekleidet, mit selbst genähten Kleidern und Tüchern in den buntesten Farben. Nach einer feierlichen Zeremonie konnte Teil 1 des Spendenobjekts dem Dorf übergeben werden.

Noch fand rund um die Schule „Marathon" kein Marathon statt, aber ein Run von Hunderten gemeinsam mit ihren Gästen. 310 Schulrucksäcke, in einer aufwendigen Aktion in die entfernte äthiopische Region gebracht, waren die umjubelten Preise für alle „Finisher". Fast genau soviel T-Shirts, vom Veranstalter eines havelländischen Dreiseen-Laufs gestiftet, wurden sofort übergestreift. Mit einem Fußballmatch, das die Shafamu-Elf gegen die deutschen Touristen gewann, ging dieses unvergessliche Juni-Fest fast zu Ende. Fast – denn die Gäste wurden noch in eine Rundhütte eingewiesen, wo nach einheimischem Brauch ein gekochtes Lamm mit scharfen Soßen verzehrt wurde. Natürlich ohne Messer und Gabel.

Haile, der nach Rückkehr in Addis Abeba aufgesucht wurde, war begeistert: „Ihr schreibt Geschichte." Wir mussten versprechen, ihn auf dem Laufenden zu halten.

Was natürlich geschah. Auch wenn sich manches als schwierig erwies. Das  Schulgelände erstreckt sich weiträumig, ist aber nur auf unbefestigten Pisten erreichbar. Es liegt zwar in einer durchaus landschaftlich reizvollen Gegend, die jedoch manchem deutschen Besucher wie das Ende der Welt vorkommen kann. Gerade das aber motiviert immer wieder, hier zu helfen. Eine ganz konkrete und überschaubare Solidaritätsaufgabe, die für Jahre bleiben wird.

Inzwischen entstanden fünf Gebäude. Vier davon für 510 Kinder der 1. bis 4. Klassen, für die der Staat die Lehrer und einen Direktor bezahlt. Zwei Vorschullehrer wurden zum Teil mit Spendengeldern eingestellt. Ein Holzbau mit drei Räumen konnte als Unterkunft für Lehrkräfte fertig gestellt werden. Was das bedeutet, ist nur zu verstehen, wenn man selbst erlebt hat, wie die Lehrer in der Regenzeit Tag für Tag kilometerweit durch den Schlamm waten.

Im April 2011 sind Klassenräume mit den Städtenamen „Stendal"  und „Frankenthal" dazugekommen, nicht zuletzt erreicht durch die gesammelten Euros der engagierten Frankenthaler Lauffamilie Meyer und des Stendaler Ehepaars Gerd und Liesel Engel. Jetzt haben künftig auch Fünf- und Sechsklässler eine Chance. Für einige Waisenkinder übernahmen inzwischen deutsche Lauffreunde Patenschaften, 60 Euro im Jahr sind sogar ausreichend. Das Dorf ist glücklich über diese für sie unerwartete Hilfe aus einem Land, das selbst für die Erwachsenen nicht recht fassbar ist. Sie würden selbst kaum einen Wunsch äußern. Doch fragt man sie nach einem Traum, so hört man diesen: eine Wasserstelle in ihrer Nähe.

Derzeit gibt es noch manche Drängeleien um „Marathon". Die meisten aus dieser Region wollen in diese Schule. Der Direktor musste eine Warteliste anlegen. Mehr als 510 Jungen und Mädchen sind auch im Ganztagsunterricht nicht zu betreuen. Bei der letzten Shafamu-Visite einer Reisegruppe nach ihrer Beteiligung an Haile Gebrselassies Hawassa-Halbmarathons joggte diese muntere Riesenschar den deutschen Läufern entgegen, um sie gemeinsam auf drei Kilometern bis zur Schule zu  begleiten.

„Ich sag es ja", lachte Haile Gebrselassie," wir werden noch mal einen Marathonläufer aus Shafamu sehen." Um dann ernster zu werden: „Auf jeden Fall aber Kinder, die mehr lernen als ihre Eltern."

 

*)Klaus Weidt schrieb diesen Report für Runner's World und ergänzte ihn mit den neuesten Informationen

 

Wasser für Shafamu

 

Die Initiative „Schule Marathon" freut sich über jede Spende. Neben dem Weiterbau möchte sie mit Hilfe deutscher Läufer und Experten erreichen, dass in Nähe des Dorfes Shafamu in der Region Welkite nach Wasser gebohrt und ein Brunnen  gebaut werden kann.

Spenden nimmt für das Projekt entgegen: der Kulturring in Berlin e.V., Konto der Berliner Bank 525 621 901, BLZ 100 708 48. Vermerk: „Schule Marathon".

 

Reisen zu Haile Gebrselassie, äthiopischen Läufen und zur „Schule Marathon"

 

…organisiert die Laufreise-Agentur „Reisezeit" anlässlich des Great Ethiopian Run (20.11.2011) und des Haile-Hawassa-Halbmarathons (6.5.2012).  

Interessenten wenden sich die REISEZEIT Tourismus GmbH, Lohmühlenstr. 65, 12435 Berlin, Tel.: 030-4225730, info@reisezeit-tourismus.de

 

„Haile Gebrselassie. Auf den Spuren einer Lauflegende"

 

heißt das Buch von Klaus Weidt, in dem auch von der Schule „Marathon" erzählt wird.

Es ist im Verlag Meyer & Meyer erschienen und im Buchhandel für 16.95 € erhältlich.

 

Meyer & Meyer Sportverlag

author: GRR

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