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01
08
2011

Erst die Bewerbung um die Spiele 2000 zwang Berlin zu einer intensiven Auseinandersetzung mit denen von 1936.

Olympische Spiele 1936 – Das Erbe – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Berlin ist bereit für Olympische Spiele. Denn Berlin hat alle Voraussetzungen: die Stadien, die Infrastruktur, die Begeisterung der Menschen für den Sport. Mit diesen Worten rief der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, kaum war die Olympiabewerbung von München 2018 gescheitert, der Welt des Sports, zumindest der deutschen, die Hauptstadt in Erinnerung.

Am Montag, am 1. August, ist es 75 Jahre her, dass Adolf Hitler in Berlin in die Mikrofone schnarrte: „Ich verkünde die Spiele von Berlin zur Feier der elften Olympiade neuer Zeitrechnung als eröffnet.“ In der Rundfunkaufzeichnung ist zu hören, wie die Menschenmenge im Olympiastadion daraufhin aus voller Kehle „Heil!“ schreit.

Olympia 1936 hat mehr hinterlassen als die Namen der Sieger, die Stätten ihrer Triumphe: ein Stadion innerhalb eines 150 Hektar großen Olympiageländes mit Anlagen für Schwimm-, Hockey- und Reitwettbewerbe, mit unzähligen Trainingsplätzen, wo der Fußballklub Hertha BSC sein Quartier genommen hat und bald eine Eliteschule des Sports einziehen soll. Mehr als die regelmäßig bespielte Waldbühne, das Maifeld und den Glockenturm.
 
Sieg für Owens: Das Finale im 100-Meter-Lauf

 
Das Stadion ist, zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 für 242 Millionen Euro modernisiert, so etwas wie das Nationalstadion geworden. Seit 1985 findet hier das DFB-Pokalfinale statt, die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2006 endete mit dem Finale in Berlin, die der Frauen begann hier. Den Ungeist des Nationalsozialismus sollte der Betrieb längst vertrieben haben. Wenn man es recht bedenkt, hatte er kaum Gelegenheit, sich einzunisten, denn die Reihe von Auftritten, die die Erinnerung bestimmen, begann lange vor dem Chile-Spiel der DDR bei der Fußball-WM 1974, vor Rolling Stones und Daniel Barenboim, vor der Roten Karte zum Abschied von Zinedine Zidane und vor den drei Weltrekorden von Usain Bolt auf der blauen Bahn der Leichtathletik-WM 2009.

Areal braucht Aufklärung

Der schwarze Sprinter Jesse Owens ist es, der mit seinen vier Olympiasiegen den Spielen von 1936 ein Gesicht gegeben hat und die Erinnerung dominiert. Die Bilder seiner Triumphe in den Wochenschauen weckten den Ehrgeiz und das Selbstbewusstsein junger schwarzer Amerikaner, wie Andrew Young am eigenen Beispiel beschrieb. Er wurde Bürgermeister seiner Heimat- und Olympiastadt Atlanta sowie Botschafter der Vereinigten Staaten bei den Vereinten Nationen.
 
Das Olympiastadion und seine Umgebung brauchen keinen Exorzismus. Das dürfte sich mit den Kirchentagen, die es beherbergte, und dem Einbau einer Stadionkapelle erledigt haben. Am 22. August wird Papst Benedikt XVI. in der Arena, wohl mit mehr als 70.000 Gläubigen, die Messe feiern. Doch das Areal mit seiner Ikonografie von Kampf und Führerkult verlangt nach Aufklärung.

Carl Diem schickt Jugend ins Verderben

Zwar blieb das Olympiagelände im Krieg weitgehend unbeschädigt. Dennoch verschwand das „einzige unzerstört in unsere Gegenwart ragende monumentale Relikt aus Hitlers untergegangenem Reich“, wie es Hilmar Hoffmann, der ehemalige Präsident des Goethe-Instituts, nannte, für Jahrzehnte aus der öffentlichen Wahrnehmung. Die britische Militärregierung nutzte es während der deutschen Teilung als Hauptquartier.

Ohne öffentliche Debatte wurde der Architekt des Stadions, Werner March, 1961 damit beauftragt, den zerstörten Glockenturm neu zu bauen. Dabei stellte er die Langemarck-Halle originalgetreu wieder her, eine Weihestätte, die durch die Verherrlichung des Todes junger Soldaten im Ersten Weltkrieg dazu aufforderte, es ihnen gleichzutun.

Erst mehr als vierzig Jahre später fand Reinhard Appel mit der Erinnerung daran Gehör, dass Carl Diem, der Cheforganisator der Spiele von 1936, kurz vor dem Ende des Krieges im Olympiastadion Hitlerjungen ins Verderben schickte. 17 Jahre alt waren Appel, der spätere Intendant des Deutschlandfunks und Chefredakteur des ZDF, und seine Kameraden, als Diem sie auf den aussichtslosen Kampf mit den Worten einschwor: „Schön ist der Tod, wenn der edle Krieger für das Vaterland fällt.“

Die Spiele Riefenstahls

Wer je die zweieinhalb Meter große Skulptur des Zehnkämpfers sah, welche die Briten in das Foyer ihrer Militärregierung im Deutschen Sportforum hatten rücken lassen, wird nicht überrascht davon gewesen sein, dass die Redaktion der „Times“ aus London bei den Sommerspielen 1972 in München Leni Riefenstahl als Fotografin akkreditieren ließ. Sie hat mit ihren Olympia-Filmen „Fest der Völker“ und „Fest der Schönheit“ das Bild von den Spielen 1936 geprägt. Die Nationalsozialisten, von deren Parteitagen sie filmische Denkmale geschaffen hatte, gaben ihr alle personellen, technischen und finanziellen Mittel.

Nicht nur mit der weltweiten Direktübertragung im Radio und der Verdichtung des Geschehens in Film- und Fernsehbildern trat Olympia 1936 in die Moderne ein. Riefenstahl hat eine Bildsprache geschaffen, die im Sport bis heute gültig ist. Der Staffellauf mit dem olympischen Feuer hatte in Berlin Premiere – zuletzt nutzte ihn Peking, um sein Herrschaftsgebiet zu markieren, auch Tibet.

Maßstab für Stadtentwicklung

Die Entwicklung neuer oder vernachlässigter Stadtteile wie in München 1972, Barcelona 1992 und London 2012; die neue Dimension innerstädtischer Bahnverbindungen auf und unter der Erde wie in Athen 2004; die Einführung der dynamischen, weltweit erfolgreichen Sportart Basketball in den olympischen Kanon; die Masseninszenierung eines Gesamtkunstwerkes für die Weltbühne; die Einladung zu einem rauschenden Fest, um von der mörderischen Verfolgung Andersdenkender und der Vorbereitung es Weltkrieges abzulenken: Das alles war Berlin 1936.

„Das Haupterbe von Berlin 1936 ist“, sagt der Potsdamer Historiker Hans-Joachim Teichler, „dass das IOC sich keinen Deut darum schert, wer die Olympischen Spiele organisiert. Hauptsache ist, dass sie perfekt werden.“ Was Teichler pragmatisch nennt – mit Veranstaltungen allein in demokratischen Ländern wären Olympische Spiele niemals so groß geworden, wie sie sind –, verstehen das IOC und seine Mitglieder als Chance, ihre Olympischen Werte zu verbreiten.

Die Philosophen Gunter Gebauer und Christoph Wulf leiteten unter dem Titel „Spiele der Gewalt“ von Berlin 36 ab: „Fatal ist die Bereitwilligkeit, mit der sich der olympische Sport inszenieren lässt; aber auch begreiflich: Da er über ein offen interpretierbares inszenatorisches Konzept verfügt, ist er letztlich der Ästhetik des Veranstalterstaates ausgeliefert. Er wird sogar zu einer der Stützen der Staatsästhetik; in totalitären Staaten ist dies seine Hauptaufgabe.“

Das IOC schlug die Spiele 1931 dem Deutschland der Weimarer Republik zu. Doch Carl Diem und Theodor Lewald, die Organisatoren der Spiele, dienten sich den Nationalsozialisten bereitwillig an. Hitler und Propagandaminister Goebbels beruhigten und täuschten die Welt, die sie durch ihren Austritt aus dem Völkerbund und offenen Antisemitismus brüskiert hatten, mit Sportbegeisterung. Den Widerspruch von der völkerverbindenden Mission Olympias und den kriegerischen Übermensch-Phantasien der Nazis überwand, wie Teichler fand, ausgerechnet Pierre de Coubertin.

Der Historiker hat Handakten entdeckt, in denen die Bitte Coubertins notiert ist, einige Worte Hitlers für seine Autographen-Sammlung zu erhalten. Die Präsidialkanzlei speiste den Begründer der Olympischen Spiele mit einem Foto ab. Dennoch schwärmte Coubertin von Hitler. Die Boykottbewegung im Ausland nennt er laut Diem 1935 töricht und dumm und lobt „die Beständigkeit des Führers, seine Willensstärke, seinen Gefolgschaftsgeist, seine Fähigkeit, stets zum richtigen Zeitpunkt zu reden oder zu schweigen“. Die Berliner Spiele betrachtete der greise Coubertin als „Krönung seines Lebenswerks“ und fand sie „von hitlerscher Kraft und Disziplin illuminiert“.

Späte Aufarbeitung

Diem behauptete später, es sei ganz anders gewesen. 1958 verlangte er, Gründer und Rektor der Sporthochschule Köln, von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden ein Prädikat für den Riefenstahl-Film. „Der deutsche Sport hat ein Anrecht darauf, dass der Dokumentarfilm über die Olympischen Spiele 1936, die das größte Ereignis in der deutschen Sportgeschichte darstellen und auch die bisher größte Leistung des deutschen Sports gesehen haben, sachlich und ohne Rücksicht auf die vergangenen politischen Umstände gewürdigt wird“, heißt es in seinem Brief. Die Spiele seien „politisch völlig einwandfrei verlaufen“, das beweise die Vergabe der Winterspiele 1940 an Garmisch-Partenkirchen.

Auch die Sommerspiele, für 1940 zunächst nach Tokio vergeben, sollten nach den Vorstellungen Hitlers nur noch in Deutschland stattfinden. In Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitags-Aufmärsche, hatte Albert Speer schon mit dem Bau gigantischer Arenen begonnen. „Die Bundesrepublik übernahm das Personal des Nationalsozialismus“, sagt Teichler. „Die DDR übernahm die Strukturen.“ Betriebssportgemeinschaften, Junge Pioniere und vor allem der Einsatz des Spitzensportes zur Legitimation eines totalitären Staates sei am Sport des NS-Regimes orientiert gewesen.

Erst die Bewerbung um die Spiele 2000 zwang Berlin zu einer intensiven Auseinandersetzung mit denen von 1936. Zur Fußball-WM 2006, ein Jahrzehnt nach dem kläglichen Scheitern der Olympiakampagne, richtete das Deutsche Historische Museum eine Ausstellung im Glockenturm ein. Dort sind Zeitzeugen wie Reinhard Appel, der vor wenigen Wochen starb, weiterhin präsent.

Wer nur das Stadion besucht, kann einem historischen Lehrpfad folgen oder stößt auf interaktive Informationssysteme. So können auch Ahnungslose sensibilisiert werden für die Spuren der nationalsozialistischen Ideologie. Vielleicht ist dies das beste Erbe der Spiele 1936.

 

Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 1. August 2011

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