2011 Shanghai Diamond League Shangai, China May 15, 2011 Photo: Jiro Mochizuki@PhotoRun victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Asafa Powell – Schnell oder weg – Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Erst erzählte Asafa Powell, Pfarrerssohn aus Spanish Town auf Jamaika, dass er alle Wehwehchen auskuriert habe und fit sei wie seit Jahren nicht mehr. „Ich freue mich so auf die Weltmeisterschaft, dass ich manchmal denke, sie sollte schon morgen anfangen“, behauptete er.
Dann spürte er plötzlich eine Verspannung in der Leiste. „Ich habe sie seit meinem Rennen in Budapest“, ließ er am Freitag seinen Agenten Paul Doyle übermitteln. „Ich hatte gehofft, dass sie verschwinden würde.“ Stattdessen verschwand er.
Muss man denn davor Angst haben? Vor einer fröhlichen Menschenmenge mit Flaggen und großen Hüten und T-Shirts in Grün, Gelb und Schwarz, den Farben Jamaikas? Vor freundlichem Beifall, witzigen Rufen und einer Gemeinschaft, die buchstäblich hinter ihren Athleten steht? Die Osttribüne hinter den Startblöcken der Sprinter – das ist beim Leichtathletik-Sportfest von Crystal Palace in London der Kristallisationspunkt der jamaikanischen Gemeinschaft.
Als Usain Bolt noch nicht von den Forderungen des britischen Finanzamts verschreckt war, mischte er sich hier unters Volk, traf Fans, deren Vorfahren vor drei oder vier Generationen aus der Karibik an die Themse kamen.
Eine Karriere der verpassten Gelegenheiten: Jetzt richtet Asafa Powell seinen Blick auf die WM und auf Olympia
Seit seinem Sieg von Lausanne in 9,78 Sekunden vor fünf Wochen führt Asafa Powell die Jahresbestenliste an; der Amerikaner Tyson Gay, der vorher nur eine Hundertstelsekunde langsamer gewesen war, hat die Saison verletzt beendet. Bolt, der schnellste Mann der Welt, hat es in seinem bisher besten Hundertmeterlauf des Jahres lediglich auf 9,88 Sekunden gebracht – drei Zehntelsekunden über seinem Weltrekord, fünf Plätze hinter Powell.
„Usain hat meinen Weltrekord gestohlen“
„Ich will definitiv den Titel“, sagte dieser. „Usain hat meinen Weltrekord gestohlen. Dafür will ich etwas zurückhaben.“ Am allerbesten wäre es, fand er, wenn die jamaikanischen Sprinter bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in drei Wochen im südkoreanischen Daegu Gold, Silber und Bronze holten. „Die Chancen stehen bei 90 Prozent“, sagte er, „nein, bei 95 Prozent.“ Für Gold gebe es vor allem einen Kandidaten: „Ich bin technisch der Beste von allen.“
Leichtathletik: Gay schlägt Bolt in 9,84 Sekunden
Ein Mann für die Favoritenrolle ist er allerdings nicht. Seine Absage enttäuschte besonders das Drittel der 15 000 Zuschauer, die am Freitag und am Samstag zu diesem größten Meeting der Diamond League kamen, die jamaikanische Wurzeln haben. Für sie sind große Sprints Nationalfeiertage. Zu ihrer Freude machten die Jamaikaner Yohan Blake (9,95) und Nesta Carter (10,01) den Sprint unter sich aus. „Ihr Leute hier unterstützt uns und helft uns“, rief Blake dem Publikum mit schwerem jamaikanischen Akzent zu. „Ich liebe euch!“
Powell dagegen schien dem Jubel und Trubel davonzulaufen. Schließlich hat der 1,90 Meter große Muskelprotz so schwache Nerven, wie er schnelle Beine hat. Geht’s um nichts, rennt er schneller als jeder andere. Seinen ersten Weltrekord (9,77 Sekunden) lief Powell in Athen – ein Jahr nach den Olympischen Spielen. Den zweiten (9,74 Sekunden, die Bolt bei seinem Olympiasieg 2008 in Peking unterbot) stellte Powell im Vorlauf eines Sportfestes in Rieti auf. Bei seinem bis heute schnellsten Lauf von 9,72 Sekunden näherte er sich dem damaligen Weltrekord von Bolt bis auf drei Hundertstelsekunden an – vierzehn Tage, nachdem ihm diese Zeit eine Silbermedaille eingebracht hätte. Doch fürs Finale von Peking hatte er 9,95 Sekunden gebraucht; er wurde Fünfter.
„Ich bin ein 9,7-Sprinter“
Wenn es allerdings drauf ankommt, ist Asafa Powell blockiert. Seine Karriere ist die Geschichte der verpassten Gelegenheiten. Vor der Weltmeisterschaft 2005 in Helsinki verletzte er sich „aus Dummheit“, wie er sich erinnerte. Bei der WM 2007 in Osaka war er überfordert, als der Amerikaner Tyson Gay sich neben ihn schob. Statt gegenzuhalten, trudelte er auf Platz drei in 9,96 Sekunden. „Ich bin ein 9,7-Sprinter“, sagte er nun. „Wenn ich nicht so viele Fehler gemacht hätte und einfach 9,80 gelaufen wäre, hätte ich beide Titel gewonnen.“ Im Finale von Berlin 2009, in dem Bolt den Weltrekord auf 9,58 verbesserte und Gay 9,71 lief, wurde Powell in 9,86 Sekunden Dritter. Und freute sich, dass er die Nerven behalten hatte.
London sei ein Mini-Jamaika, sagte Powell nun, und es klang nicht fröhlich. Warum er sich nicht mal auf das „große Jamaika“ freut, zu dem die Olympiastadt im nächsten Jahr werden wird, verriet er so: „Die britischen Athleten werden sich wünschen, dass sie im Boden versinken können“, sagte er. „Heimvorteil? Gibt es nicht. Der Druck, der auf ihnen lastet, wird kaum auszuhalten sein.“ Da sprach er von seiner eigenen Erfahrung. „Ich habe immer die Erwartungen meiner Landsleute im Nacken gespürt“, sagte er. „Ich bin nicht so stark.“
9,50 Sekunden? „Ist in Arbeit“
Aber schnell ist er; nach einer Analyse des amerikanischen Leichtathletik-Verbandes schneller als jeder andere. Als die jamaikanische Staffel bei ihrem Olympiasieg von Peking 2008 den Weltrekord auf 37,10 Sekunden verbesserte, lief Powell den schnellsten Hundertmeterlauf der Geschichte. 8,70 Sekunden, nachdem er den Stab von Bolt übernommen hatte, war er im Ziel.
Er wisse nicht warum, kokettierte er, aber dauernd werde er darauf angesprochen, dass er nicht nur den Weltrekord Bolts von 9,58, sondern sogar 9,50 Sekunden unterbieten könne. Und? „Ist in Arbeit“, behauptete er.
London 2012 ist seine letzte Chance
Der beständigste Sprinter der Welt ist Powell allemal. Achtzigmal ist er die hundert Meter in weniger als zehn Sekunden gerannt. Hundertmal dürften es mindestens noch werden, schließlich ist er erst 28 Jahre alt. Die Ironie ist das Timing: Je unwichtiger das Rennen, desto schneller läuft Powell.
Oder eben gar nicht. Er dürfe nicht die kleinste Verletzung riskieren, sagte er, die WM in Daegu und die Olympischen Spiele in London 2012 seien seine letzten Chancen. Gut möglich, dass es weniger die Leiste als die Begeisterung war, die ihn am Laufen hinderte. In Birmingham feierte die jamaikanische Gemeinschaft, dass die jamaikanischen Leichtathleten zu den Olympischen Spielen ihr Trainingslager in ihrer Stadt aufschlagen wollen. 32.000 Menschen kamen.
Es scheint, als nähmen ausgerechnet Feste wie dieses Powell seine Unbeschwertheit.
Michael Reinsch, London in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 7. August 2011