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13
08
2011

Während Renate Bauer von ihrer Flucht aus der DDR spricht, hält sie das Bild ihrer Silbermedaille von den Olympischen Spielen 1972 in München in der Hand. Es erzählt eine eigene Geschichte. Das Schwarzweißfoto entstand, nachdem die Schwimmerin 1979 über Ungarn geflohen war, und überdauerte mehr als zwanzig Jahre in einem Aktendeckel. ©Laura Soria

DDR-Sportflüchtlinge – Medaille im Pappkarton – Ausstellung „ZOV Sportverräter“ im Willy-Brandt-Haus in Berlin – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

 
Zwei Welten und ein „Eiserner Vorhang“: Eine Ausstellung im Willy-Brandt-Haus in Berlin zeigt die erschütternden Geschichten von DDR-Leistungssportlern, die zu sogenannten „Sportverrätern“ wurden – und die Umstände, die sie zur Flucht trieben.

 

Während Renate Bauer von ihrer Flucht aus der DDR spricht, hält sie das Bild ihrer Silbermedaille von den Olympischen Spielen 1972 in München in der Hand. Es erzählt eine eigene Geschichte. Das Schwarzweißfoto entstand, nachdem die Schwimmerin 1979 über Ungarn geflohen war, und überdauerte mehr als zwanzig Jahre in einem Aktendeckel. Renate Bauer fand den Papierabzug, als sie lange nach dem Fall der Mauer die Spitzelberichte einsah, die über sie verfasst worden waren. Der Staatssicherheitsdienst hatte die Trophäen fotografiert, die Renate Bauer zurücklassen musste, und weggegeben.

Als sie in ihrer Heimatstadt Chemnitz an einer Podiumsdiskussion teilnahm, drohte die ehemalige Sportlerin, sie werde denjenigen anzeigen, der ihre Medaille von den Olympischen Spielen 1972 in München gestohlen habe. Wenig später klingelte es an der Tür des Elternhauses, und ein Mann lieferte einen Pappkarton ab. Darin fand sich unter anderem die Silbermedaille.

Es ist berührend, wenn in der Ausstellung „ZOV Sportverräter“ im Willy-Brandt-Haus in Berlin – ZOV steht für Zentralen Operativen Vorgang der Staatssicherheit – Renate Bauer mit dem Bild in der Hand ihre Geschichte erzählt. Fünfzehn Schicksale hat Laura Soria in Installationen verwandelt, in Denkmale, wie die Mexikanerin sagt. Auf große Fotos projiziert sie wenige Minuten lange Filme, in denen ehemalige Sportlerinnen und Sportler von ihrer Flucht aus der DDR sprechen, von den Umständen, die sie dazu trieben, und von den Dämonen, denen sie danach begegneten.
 
Die Silbermedaille von Renate Bauer zeigt, wie sogar fünfzig Jahre nach dem Bau der Mauer die Handlanger der vergangenen Macht immer noch Augen und Ohren offen halten. Als Renate Bauer in den achtziger Jahren dem österreichischen Fernsehen ein Interview über das System der Kinder- und Jugendsportschulen zugesagt hatte, drohte die DDR damit, Verträge mit österreichischen Unternehmen platzen zu lassen. Unter Polizeischutz wurde die ehemalige Schwimmerin ins Studio gebracht. „Ich konnte mir nicht erlauben“, sagt sie über die Wirkung der Bedrohung, „die Wahrheit zu sagen.“

 

Die Mauer sorgte dafür, dass Athleten härter trainierten

Auch Karin Balzer hat den langen Arm der Macht erfahren. Sie sei entsetzt gewesen, wie viele Spitzel auf sie angesetzt gewesen waren, erzählt die ehemalige Hürdensprinterin: „Und noch viel schlimmer ist, dass herausgekommen ist, dass ein IM seit 1964 ganz bewusst meinen Ruf bis heute geschädigt hat.“ Dabei haben Karin Balzer, 1964 Olympiasiegerin, und ihr Mann und Trainer vor 53 Jahren dem Druck nachgegeben, mit dem die Staatssicherheit systematisch viele von der Flucht abhielt und denjenigen, die sie wagten, das Leben zur Hölle machte: Sippenhaft. Es war 1958, als die Balzers mit der S-Bahn über die Berliner Sektorengrenze in den Westen fuhren und von dort nach Süddeutschland flogen.

Nach einigen Wochen brachten zwei Unbekannte ihren Vater. Stammelnd illustrierte er, was die beiden Agenten Karin Balzer und ihrem Mann für ihre Angehörigen in der DDR ausmalten. „Wir konnten nicht zulassen, dass sowohl seine Eltern als auch meine Eltern und Geschwister darunter zu leiden hatten, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland blieben“, entschied das Paar und kehrte zurück. Mit Sperre und Versetzung in die Produktion war es nicht getan. Beim Blick in ihre umfangreichen Stasiakten wurde ihr bewusst, sagt die 72 Jahre alte Karin Balzer, dass der Staat ihr nie verziehen habe.
 
Drei Jahre nach Flucht und Rückkehr zementierte Walter Ulbricht, am 13. August 1961, in Berlin die Teilung: Er ließ die Mauer bauen, die Berlin von Berlin, Deutschland von Deutschland und Europa von Europa trennte. Die Abgrenzung wirkte zumindest im Sport, den die DDR zum Vergleichskampf der Systeme stilisierte, wie der Deckel auf einem Topf und erhöhte Druck und Temperatur. Sportliche Spitzenleistung war eine der ganz wenigen Möglichkeiten, sich für den Sprung über die Mauer zu qualifizieren.

Die Mauer sorgte dafür, dass Athleten härter trainierten, hielt sie dazu an, die Struktur von Befehl und Gehorsam sowie staatlich verordnetes Doping zu ertragen. Nicht zuletzt wurden die Trainer mit Reisen belohnt, wenn sie ihre Athleten zu außergewöhnlichen Leistungen brachten.

 

Er brauchte Tage für die Lektüre

Gerade der Blick auf die Welt jenseits des „Eisernen Vorhangs“ allerdings ließ viele Athleten erkennen, dass zwar ihre sportliche Leistung, nicht aber die Lebensverhältnisse in der DDR Weltniveau hatten. Die Reisen, und führten sie nur in Stadien und Trainingslager, eröffneten ihnen Perspektiven, die sich mit dem Verbleib in der DDR nicht vereinbaren ließen. Einheitspartei und Staatssicherheitsdienst wussten das. Deshalb drangen sie auf Ergebenheitsadressen. „Ich hatte eigentlich nicht in den Westen gehen wollen“, sagt der einstige Sprinter Manfred Steinbach. „Aber sie wollten partout einen politischen Artikel von mir.“

Als der Medizinstudent, der mit drei Sprintern aus dem Westen in der gesamtdeutschen Staffel lief, sich weigerte, Abwerbeversuche des Westens anzuprangern, wurden Funktionäre in seinem Verein vorstellig, und die Heimatzeitung griff ihn persönlich an. Diese Eskalation trieb ihn in den Westen. Das war 1958. Mehr als dreißig Jahre später betrieb Steinbach als Leistungssportwart des Deutschen Leichtathletikverbandes sowie als Abteilungsleiter des Familienministeriums die Vereinigung.

Falko Götz, der Fußballspieler, erzählt von seinem Entsetzen, als er erfuhr, dass der Staatssicherheitsdienst seine Eltern nach der Flucht ihres Sohnes 1983 ungeniert beschattet und seine Mutter sechzehn Stunden lang verhört hatte. „Ich saß im Westen und konnte nichts tun“, sagt er. „Doch, ich konnte was tun: Karriere machen, um meinen Eltern zu zeigen, dass ich nicht wegen des Konsums und des schönen Lebens in den Westen gegangen war.“ Damit war es nicht getan. Als er neun Jahre nach der Flucht seine Stasiakten einsah, überwältigte Götz zunächst die schiere Menge. Er brauchte Tage für die Lektüre.

Dann fand er Fotos von dem Haus, das er sich im Westen gebaut hatte, die Aufzeichnung von Fluchtwegen zur nächsten Autobahn und in den Osten. „Im Hintergrund stand immer der Tod von Lutz Eigendorf“, sagt Götz. Eigendorf, ebenfalls aus der DDR geflohen, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, dessen Umstände wie ein Anschlag und deshalb als ständige Drohung auf die Flüchtlinge wirkten.

Frank Hoffmeister beschreibt, wie tief das Gefühl der ständigen Überwachung saß, indem er erzählt, wie schwer es ihm fiel und wie viele Anläufe er brauchte, 1984 in Rom vom Mannschaftshotel in die bundesdeutsche Botschaft zu fahren. „Letztendlich war es ein Spaziergang“, sagt der frühere Schwimmer, „aber für mich war es mächtig.“ Günther Zöller, einst Eiskunstläufer, berichtet unter Tränen, dass er nach seiner Flucht 1972 elf Jahre lang seine Mutter nicht sehen durfte und weitere fünf Jahre seine Schwester.

 

Durch die Ostsee in die Freiheit

Gerade ihr Status als Spitzensportler setzte Spitzensportler besonderen Versuchungen, Einsichten und Belastungen aus. Im Osten waren sie „Versuchskaninchen“, wie Renate Bauer aus dem Einsatz von Pillen und Spritzen bei gleichzeitiger Steigerung des Trainingspensums schloss. Und sie waren Staatsfeinde, ehe sie sich überhaupt ihrer selbst klar waren. Als Ines Geipel sich im Trainingslager in Mexiko verliebte, wusste die Staatssicherheit vermutlich vor der Athletin, dass diese keine Zukunft mehr in der DDR sah; daraufhin zerstörte sie ihre Gesundheit, ihre Karriere, ihren Ruf. Für sie zeigt die Ausstellung, „dass Athleten nicht immer stromlinienförmig mitgegangen sind“.

Axel Mittbauer konnte gar nicht mitgehen. Ihn drangsalierte die Staatssicherheit wegen seiner Verwandtschaft im Westen so lange, bis er realisierte, dass er nicht einmal außerhalb des Sports mehr Fuß fassen würde. „Da war mein Leben in der DDR zu Ende“ – er schwamm, austrainiert wie er war, durch die Ostsee in die Freiheit.

Viele der mehr als sechshundert Athleten, die aus der DDR flohen, vertrieben Misstrauen, Anmaßung und Boshaftigkeit. Selbst heute bringt längst nicht jeder, der an der Haustür klingelt, eine Medaille. „Manche Zeitzeugen haben sich uns aus Angst vor alten Seilschaften nicht zur Verfügung gestellt“, berichtet Michael Barsuhn, Geschäftsführer des Vereins Zentrum deutsche Sportgeschichte. „Manche, die kamen, haben tagelang geweint.“

Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 13. August 2011

 

ZOV – Sportverräter

author: GRR

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