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08
2011

2009 World Outdoor Championships Berlin, Germany August 15-23, 2009 Photo: Yohei Kamiya@Photo Run Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET

75 Jahre Olympiastadion – Geschichte und Geschichten von Berlins einzigartiger Arena – Von Jesse Owens bis Sommermärchen – ein Stadion voll Zeit und Geist – Sven Goldmann und Friedhard Teuffel im Tagesspiegel

By GRR 0

Wenn gerade einmal nichts los ist, keine Fußballer von Hertha BSC kicken, kein Grönemeyer singt, dann fängt das Stadion an zu erzählen. Welche Geschichten es sind, das hängt von einem selbst ab, von der eigenen Stimmung und wie weit man zurückreisen möchte in die Historie.

Die Klappsitze des Olympiastadions werden dann zu Kinosesseln für Filme, die vor dem inneren Auge ablaufen.

Und vielleicht gibt es kein Stadion, das leer so erfüllend ist und so schön wie das Berliner Olympiastadion.

Die Fußballfans haben sich lange Zeit schwergetan mit dem Betonoval, weil es eben anders als die klassischen engen Fußballarenen von einer Laufbahn umgeben ist.

Und wenn der Fußballfan eines nicht mag, dann sind es stimmungstötende Ellipsen aus Tartan. Mit zunehmender Zeit aber haben sich auch die Freunde des runden Leders für das Monument am nördlichen Rand des Grunewalds erwärmt. Das hat wahrscheinlich mit der sommermärchenhaften Stimmung bei der WM 2006 begonnen, mit dem Viertelfinalsieg über Argentinien und Jens Lehmanns aus dem Strumpf gezaubertem Elfmeterzettel.

Und wer wird je vergessen, wo Zinedine Zidane in seinem letzten Spiel den Kopf in den Magen von Marco Materazzi rammte? Legenden sind auch immer geknüpft an den Geist der Orte, an denen sie sich ereignen.

Es kann diese neue Zuneigung für das Olympiastadion aber auch verstanden werden als ein Aufbegehren der klassischen, dem Event nicht in inniger Liebe zugetanen Fußballfans.

Im Olympiastadion wird sich nie eine Atmosphäre entwickeln wie in den engen, modernen Arenen von Köln und Hannover oder Hamburg. Aber es hat in Zeiten der stromlinienförmigen Gleichmacherei etwas Unverwechselbares. Jeder, der einmal mit offenen Augen im Olympiastadion gewesen ist, wird es wieder erkennen, wird es mit geschlossenen Augen und blumigen Formulierungen beschreiben können.

Kann man das auch von den Arenen in Köln, Hannover oder Hamburg behaupten?

Auch das Publikum von Hertha BSC hat mit der einst ungeliebten Spielstätte längst seinen Frieden geschlossen. Niemand in blau-weiß gestreifter Kluft mag heute noch verzichten auf die berühmte Ostkurve. Außerdem ist das Olympiastadion für Hertha BSC längst Heimat geworden, gewachsen seit bald 50 Jahren.

Und wer will schon seine Heimat aufgeben gegen einen Parkplatz mit Autobahnanschluss in Tempelhof, Dreilinden oder Oranienburg?

Die einst in den Siebzigerjahren gebauten und so schnell öde und langweilig gewordenen Stadien in Hamburg, Köln und Frankfurt am Main sind allesamt Neubauten gewichen, das Parkstadion in Gelsenkirchen wird gerade abgetragen.

Das Berliner Olympiastadion steht bis in alle Ewigkeiten unter Denkmalschutz.

Und es erinnert die klassischen Fans an Berliner Sternstunden: an einen 4:1-Sieg über den FC Bayern mit Beckenbauers Eigentor, an das Uefa-Cup-Halbfinale gegen Roter Stern Belgrad, an ein 2:0 vor über 70 000 Zuschauern in der Zweiten Liga gegen Kaiserslautern.

Es mag ein Festtag sein, wenn das Stadion bespielt wird von Fußballstars oder überlaufen von Weltklasseläufern, -springern oder -werfern. Doch weil es ganz leer einen Zauber entfaltet, gibt es in diesem Stadion keine gewöhnlichen Tage. Jeder Tag ist eine Einladung. Im Kopfkino kann etwa Jesse Owens über die Bahn laufen und eine seiner vier olympischen Goldmedaillen gewinnen, es können spektakuläre Tore fallen beim DFB-Pokalendspiel oder bei einem Hertha-Heimspiel. Vielleicht macht ja auch Usain Bolt noch Faxen mit Berlino.

Natürlich ist das Stadion im politischen Sinne keine unschuldige Architektur:

Aber man muss sich schon bewusst auf den Weg machen. Das Olympiastadion liegt eben nicht zentral in der Stadtmitte wie manches große Londoner Fußballstadion, sondern ein ganzes Stück weit draußen – hinter dem Westend. Es fällt dann auf, wenn man in die Stadt hinein- oder hinausfährt über Spandau mit dem ICE oder mit dem Flieger in Tegel startet und landet. Man kommt nicht eben mal zufällig dran vorbei.

Vor allem Touristen wollen es sehen, sie kommen aus der ganzen Welt nach Neu-Westend und haben schon ihren eigenen Erwartungsfilm mitgebracht. Die Amerikaner den von Jesse Owens, die Italiener den ihres Fußballweltmeistertitels 2006. Den wollen sie jetzt abspielen, während die Berliner zu Hertha BSC oder zum Istaf hingehen und ihr Stadion sonst allenfalls der auswärtigen Verwandtschaft zeigen, wenn es hochkommt noch mit einem Besuch auf dem Glockenturm, dem drittgrößten Aussichtsturm Berlins.

Die Stadt lebt manchmal ein bisschen neben dem Stadion her. Da mag das Olympiastadion international so prominent sein, es soll jetzt erst einmal wieder näher an die Stadt heranrücken, das haben sich die Stadion GmbH und der Senat ausgedacht für das 75. Jubiläumsjahr und kürzlich dafür ein neues Besucherzentrum eröffnet und allerlei neue Angebote aufgelegt.

Das Olympiastadion liegt dort, wo der Lärm der Stadt in ein entferntes Rauschen übergeht. Diese Ruhe braucht das Stadion jedoch für seine Geschichten, denn manche von ihnen verlangen ein würdevolles Erinnern. Daran etwa, dass der Jubel der Massen bei den Olympischen Spielen 1936 auch die finstere Politik der Nationalsozialisten verdecken sollte, ihre Rassenpolitik und die Vorbereitung eines Weltkriegs.

An wenigen Orten kann man sich so gut vorstellen, wie eng Sport und Politik zusammenliegen. Auf dem Olympischen Platz, wo heute Motorradfahrer vorsichtig ihre Maschinen lenken, um sich auf die Fahrprüfung vorzubereiten, wurde noch 1945 ein Aufgebot des Volkssturms vereidigt.

Natürlich ist das Stadion im politischen Sinne keine unschuldige Architektur. Dafür steht die massive Verwendung von Naturstein, den Hitler persönlich zur Verkleidung der Stahlbetonkonstruktion bestellt hat. Dafür steht auch die monumentale Größe des Stadions, die bei seiner Einweihung 1936 unerreicht war auf der Welt. Die Achse zum Glockenturm mit dem offenen Marathontor symbolisiert bewusst Größe. Auch dies war eine Idee des Bauherren Hitler.

Aber wer das Stadion mit anderen NS-Bauten wie dem Zeppelinfeld in Nürnberg, den KdF-Ferienburgen auf Prora oder Görings Reichsluftfahrtministerium vergleicht, der wird es als bescheiden dimensioniert empfinden. Neben dem politisch unverdächtigen Bundeskanzleramt von Axel Schultes wirkt das Stadion beinahe grazil. Hitler war denn auch nicht zufrieden mit seinem Stadion, es war ihm zu klein, nicht wuchtig, nicht deutsch genug. Noch während der Bauarbeiten beauftragte er seinen Leibarchitekten Albert Speer mit dem Bau eines wahren Deutschen Stadions.

Es sollte in Nürnberg stehen und Platz für 400 000 Zuschauer bieten – für eine Zeit, in der Olympische Spiele nur noch in Deutschland stattfinden sollten. Es hat dann in Nürnberg glücklicherweise nur zu einer Baugrube gereicht.

Das Olympiastadion ist ein Stadion mit schwer belasteter Vergangenheit. Jede steinerne Plastik auf dem Gelände steht daher erst einmal im Verdacht, dem arischen Körperkult gedient zu haben. Selbst wenn das Vorbild doch die Antike war. Andere Stadien mögen zeitlos sein, das Olympiastadion ist genau das Gegenteil: überladen von Zeit.

Aber, und das ist die Leistung, nicht nur von den Jahren zwischen 1936 bis 1945. Der Evangelische Kirchentag fand hier statt, das Deutsche Turnfest und eine Messe mit Papst Johannes Paul II. Sein Nachfolger Benedikt XVI. zelebriert im nächsten Monat eine Messe im Stadion. Man darf daher mit gutem Gewissen sagen, dass das Stadion mit gutem Geist beseelt wurde. Das Olympiastadion ist auch ein Ort der Gegenwart geworden.

Kleine und große Veränderungen haben dazu beigetragen, die Laufbahn etwa, die sich tiefblau um den Rasen schmiegt. Sie macht das Stadion fast doppelt einmalig, in welcher Arena gibt es schließlich noch das Laufoval für die Leichtathletik?

Und die Wucht der vielen Steine wird auch dadurch weicher, dass regelmäßig auch die Freizeitläufer ins Stadion laufen, wie beim 25-Kilometer-Lauf im Mai oder beim Frühstückslauf vor dem Berlin-Marathon. Das sind die Tage, an denen es ein Stadion für alle ist.

Vom architektonischen Ballast hat ihm vor allem der behutsame Umbau für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 etwas genommen. Jetzt liegt auf ihm ein Dach wie eine Hutkrempe. Es schützt auch die täglichen Besucher, die hier einfach schauen wollen und keine Darsteller brauchen. Die innerlich zurückschauen wollen. Oder auch nach vorne.

Denn dieses Stadion trägt nach 75 Jahren immer das nächste Spiel und den nächsten Wettkampf in sich.

Sven Goldmann und Friedhard Teuffel in der 12-seitigen Beilage des Tagesspiegel,  Freitag, dem 26. August 2011

author: GRR

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