2011 IAAF World Outdoor Championships Daegu, South Korea August 27-September 5, 2011 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Die Weltelite läuft den Deutschen davon. Sind wir ein „Volk der Werfer und Stoßer“? Nachlese zur Leichtathletik-WM 2011 in Daegu. Helmut Winter zieht Bilanz.
Mit einem kaum noch erwarteten Weltrekord ist am Sonntag die 13. Ausgabe einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft im koreanischen Daegu zu Ende gegangen. Tolle 37:04 sind für die 4x100m-Staffel bei den Herren nun das Maß aller Dinge. Während die beiden deutschen Quartetts – fast schon bezeichnend – das Ziel bereits in den Vorläufen nicht erreichten, dominierte bei den Männern Jamaika mit Superstar Usain Bolt den Wettbewerb.
Nachdem zunächst sein Fehlstart im 100 m Finale für mehr Aufsehen sorgte als ein erwarteter WM-Titel und alle anderen Events, fand der Ausnahmeathlet schnell wieder zur Normalität zurück und demonstrierte über 200 m und in der Staffel seine Dominanz im Männersprint.
Dass dabei der schnellste Sprinter aller Zeiten seine Auftritte nun auch bei der WM in Daegu in einer Form zelebrierte, die nicht unumstritten schient, liegt nicht nur an seinem Naturell und einem Kalkül seines Marktwerts, der mittlerweile alle Dimensionen zu sprengen scheint. Es sind vor allem auch die Medien, die sich derart auf den jungen Mann von der Zuckerrohrinsel fokussieren, dass für Mitkonkurrenten/innen nur noch wenig Raum der Aufmerksamkeit bleibt.
Kaum ein Athlet wird bereits so intensiv beim Warmup und im Vorfeld in Szene gesetzt, auch wenn im Stadion Wettkämpfe laufen. Bei Sportfesten im Vorfeld der WM – falls der Meister überhaupt für einen Start zu gewinnen war – wurde die Zeit bis zur Bolt-Show im Countdown heruntergezählt, der Rest des Meeting-Programms mutiert zur Staffage.
Sicherlich ist eine solche Ikone des Höchstleistungssports ein Trumpf für die Leichtathletik, den es auszuspielen gilt, was die Akzeptanz dieser Sportart in einer breiten Öffentlichkeit anbetrifft. So auch hinsichtlich der TV-Übertragungen von einer eindrucksvollen WM, von der letztlich auch die öffentlichen Anstalten tolle Bilder auf die Bildschirme brachten.
Aber auch den Fehlstart von Bolt beim 100 m Finale wollten gerade einmal 2 Millionen TV-Zuschauer miterleben, in Berlin vor zwei Jahren waren das noch fünfmal mehr. Und die mittleren Quoten von ca. 1 Millionen bei ARD und ZDF waren eher bescheiden und machen im nach hinein das Geschacher um die Übertragungsrechte veständlich.
So einmalig die Leistungen von Usain Bolt auch sind – und nur die rechtfertigen in Grenzen den aktuellen Hype – , die Leichtathletik ist gut beraten, ihre Vielfalt nicht aus dem Auge zu verlieren. Dies zeigten auch die Tage von Daegu. Leichtathletik im Jahr 2011 ist sicherlich mehr als nur „Usain Bolt", wo in fast allen Disziplinen beeindruckende Wettkämpfe über die Bühne gingen, die ihr Spannungsmoment aus dem Kampf mehrerer Athleten um den Sieg bezogen – mit Resultaten auf sehr hohem Leistungsniveau.
Dies gilt auch für die Serie der nach Daegu noch stattfindenden Meetings, wo das Fehlen von Superstar Bolt als Zuschauermagnet noch nicht zwingend eine Einbuße an Qualität im breitbandigen Leistungsniveau bedeuten muss. Sowohl die „Weltklasse Zürich" als auch das ISTAF in Berlin in dieser Woche werden ohne ihn auskommen (müssen), für vermeintliche 300.000 US$ soll der Meister in der nächsten Woche in Zagreb am Start sein.
Hier bahnen sich Entwicklungen an, die für die Leichtathletik nicht unbedingt positiv sein dürften. Stars leben auch von einer verbindlichen Präsenz. Ferner ist der 100 m Lauf ein kleiner – wenn auch sehr attraktiver – Part eines vielseitigen Spektrums weiterer Disziplinen mit Leistungen auf höchstem Niveau.
Und ein hohes Niveau konnten auch bundesdeutsche Athleten bei der WM in erfreulicher Weise demonstrieren, allerdings immer nur dann, wenn die Disziplin jenseits von Tartanbahn und Straße ihren Ablauf nahm. Die Deutschen scheinen hinsichtlich hoher internationaler Standards das Laufen schlichtweg verlernt zu haben, die Erfolge von Daegu legen den Schluss nahe, dass man auf der Bühne der internationalen Leichtathletik zu einem „Volk der Werfer und Stoßer" degneriert ist. Dies allerdings von absoluter Weltklasse, vor allem auch in Wurf- und Stoßdisziplinen, in denen man im Vorfeld nicht unbedingt einen Weltmeistertitel erwarten konnte.
Und wo fest eingeplante Titel nicht Realität wurden, da war dann die Konkurrenz außergewöhnlich gut. Nur diesem Segment der Freiluft-Leichtathletik verdankte die deutsche Mannschaft einen guten fünften Rang in der inoffiziellen Nationenwertung. Im Laufbereich – das größte Segment im Spektrum der aktuellen Leichtathletik – war die Ausbeute aber mehr als enttäuschend.
Bis auf eine viel versprechende Nachwuchsläuferin Gesa Felicitas Krause im Hindernislauf auf Platz 9 gab es keine Finalplatzierung. Die Abwärtsentwicklung bei den Läuferinnen und Läufern hat in Daegu einen weiteren Tiefpunkt verzeichnen müssen. Viel Zeit und Geduld werden von Nöten sein, die Dinge zu wenden und international wieder den Anschluss zu finden. Dazu gehört sicher auch ein besseres Augenmaß bei der Festsetzung von „Normen", das dringend angezeigt scheint, falls man viel versprechende Nachwuchsathleten/innen für den Hochleistungssport auf internationaler Bühne motivieren will.
Dies gilt ganz besonders für die langen Strecken, die in Daegu ohne deutsche Beteiligung stattfanden und wo uns die internationale Konkurrenz sprichwörtlich „davonläuft". Dabei hätte man im Marathon der Männer, wo kein deutscher Läufer in diesem Jahr bisher eine Zeit von 2:20 unterbieten konnte und man im Leistungsbereich der weltbesten Frauen agiert, mit einer Zeit von 2:15 bis 2:18 noch halbwegs das Gesicht wahren können.
Was waren das noch für Zeiten als z.B. in den 90er Jahren etliche deutsche Marathonläufer internationale Qualifikationsstandards erfüllten, ca. 30 Läufer unter 2:20 im Jahr liefen und selbst Läufer jenseits der absoluten Spitze achtbare Plätze bei den WMs im Marathonlauf erzielten. Selbst vor zwei Jahren gab es mit Platz 18 (Pollmächer) und 34 (Beckmann) akzeptable Resultate.
In Daegu war von den 5000 m bis zum Marathon sowie im Gehen kein deutscher Athlet im Ziel, bei Männern und Frauen. An der fehlenden Attraktivität der WM z.B. bei den Marathonläufen kann dann sicher nur bedingt liegen. Denn auch diese Disziplinen waren – trotz der übermächtigen Konkurrenz der Stadtmarathons – durchaus hochklassig.
Und das war vor allem die Leistung des Siegers im Marathon der Männer, wo der Titelverteidiger Abel Kirui aus Kenia eindrucksvoll seine Titelverteidigung betrieb. Dabei war weniger die ausgezeichnete Zeit von 2:07:38 im Ziel als viel mehr die Art, wie Kirui diese Zeit erreichte, eines der zahlreichen Highlights der Tage von Daegu.
Nach verhaltenem Beginn in fast 16 Minuten für die ersten 5 km hatte man sich schon auf einen den klimatischen Bedingungen angepassten Lauf eingestellt, mit einer Endzeit um die 2:15. Dass dies anders wurde, lag vor allem an Kirui, der nach schon passablen 1:05:07 für die Halbdistanz das Tempo gnadenlos weiter forcierte und im Regime eines Weltrekordtempos lief. 14:18 von 25 km nach 30 km war in der Tat phänomenal und ließ den Kreis der Konkurrenten um den Sieg schnell verringern.
Die letzten 10 km war er allein und konnte das Tempo bedingt halten, seine Verfolger fielen bis zum Ziel mit 2:28 Minuten und mehr deutlich ab. Somit gab es auch im Marathon der Männer einen kenianischen (Doppel-)Sieg.
Völlig konträr zum deutschen Team präsentierten sich die Kenianer als das „Volk der Läufer".
Dabei war im Vorfeld nicht nur im Marathon der Männer diese Dominanz unbedingt zu erwarten. Vor allem Weltmeister Abel Kirui hatte in letzter Zeit nicht mit Topresultaten geglänzt. Im November 2010 nur 2:13 beim New York Marathon, Ausstieg im April beim London-Marathon und beim 30 km Bahnweltrekord von seinem Landsmann Mosop in Eugene lief er nur 18 km mit und wurde dann zweimal überrundet. Aber der Wechsel im Frühjahr zum Training unter Renato Canova soll sein Leistungspotential wieder gehoben haben.
Und das war schon vor Jahren sehr viel versprechend, der Detmolder Manager Volker Wagner hatte den überaus sympathischen Athlet seinerzeit entdeckt und ihn durch Erfolge beim Paderborner Osterlauf und Tempomacherdienste beim Berlin Marathon bekannt gemacht. Mittlerweile wird Abel vom Management unter Joes Hermens betreut.
Und der hatte mit Kenenisa Bekele einen weiteren Favoriten vor Ort, der die hohen Erwartungen an sein Comeback nicht erfüllen konnte und abgeschlagen im 10000 m Finale aufgab. Er und seine Landsleute zählten zu den Verlierern dieser WM. Nur einen WM-Sieg und drei Bronzemedaillen schafften die Äthiopier, fast zu wenig für ein „Volk der Läufer". Dabei war der Sieg des jungen Imane Merga über 10000 m noch eine Ausnahme. Er konnte damit den totalen Triumph des Briten Mo Farah verhindern, der nach Silber über 10000 m dann aber die 5000 m gewann.
Während in Daegu beide Langstrecken bei den Männern sehr konservativ angelaufen wurden und die Siegerzeiten somit mit 13:23 und 27:13 sehr moderat waren, hatte es das Finale in beiden Läufen in sich. Es ist schier unglaublich, wie schnell die internationale Spitze auf den Bahnlangstrecken die Schlussrunde absolviert. Über 10000 m lief der Sieger Merga die letzten 400 m in 52,7 und Farah im 5000 m Finale diese sogar in 52,59. Und dies wohl gemerkt nach 9,6 km bzw. 4,6 km „Anlauf".
Wie großartig diese Zeiten sind, zeigt der Vergleich mit dem 800 m Finale, das erwartungsgemäß Weltrekordler David Rudisha (KEN) in 1:43.91 gewann. Der war in 51,33 für die erste Runde angegangen und damit die letzten 400 m in 52,58 gelaufen.
Genau eine 1/100 Sekunde schneller als Mo Farah, aber der Brite hatte schon 11 ½ Runden in den Beinen …
Helmut Winter