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24
09
2011

Laufen mit Löwen. Kathrine Switzer und Horst Milde besprechen 1983 im Tiergarten die Gründung des Frauenlaufs. Er fand ein Jahr später im Tiergarten (Stra0e des 17. Juni) statt. ©Bildarchiv Heinrich von der Becke im Sportmuseum Berlin /Forum für Sportgeschichte

In Freiheit laufen – Am Sonntag startet auch Kathrine Switzer in Berlin. Sie kämpfte für das Recht der Frauen aufs lange Laufen – Die Laufbotschafterin – Ursula Thomas-Stein im Tagesspiegel

By GRR 0

Erst klingt es nach großer Politik, wenn Kathrine Switzer von ihrem Start beim Berlin-Marathon spricht. „Es wird wunderbar sein, am Sonntag 40 000 Menschen in den Straßen von Berlin zu sehen – und es sind keine Soldaten!“, sagt sie, „für uns Amerikaner ist es etwas Symbolisches, hier zu starten. Wir erinnern uns an das nukleare Wettrüsten, die Mauer und John F. Kennedys berühmte Worte.“ Doch es geht nicht nur um die große politische Freiheit. Es geht ihr auch einfach um die Freiheit zu laufen. Und dafür hat die heute 64 Jahre alte Kathrine Switzer gekämpft wie keine andere.

Der 19. April 1967 war kalt und verregnet. Beim Boston-Marathon nicht ungewöhnlich.

Die Läufer, ausschließlich Männer, trainierten hart, um sich auf diesen prestigeträchtigen Wettkampf vorzubereiten, auch das war normal. Aber dieses Mal war doch etwas anders. Kathrine Switzer, eine junge Studentin aus Syracuse, hatte auch trainiert und sich mit ihren Initialen „K. V. Switzer“ ordentlich angemeldet. Als nach einigen gelaufenen Meilen die Kapuzenhemden an den Straßenrand flogen, wurde sie entdeckt. „Da ist eine Frrrrau in Deinem Rrrrrennen, Jock!“, rief ein Journalist als der Pressebus die Nummer 261 passierte.

Renndirektor Jock Semple, ein bärbeißiger Schotte, war außer sich. Er sprang aus dem Bus und stürzte sich auf die Läuferin, um ihr die Startnummer abzureißen. Harry Trask, ein Fotograf, eilte dazu, machte drei schnelle Bilder. Und traf ins Schwarze. Ebenso wie Switzers Freund und Mitläufer Tom Miller, ein Hammerwerfer. Mit einem gezielten Haken brachte er den Renndirektor zum Nachdenken über das Thema Frauenlauf. Auch andere kamen ins Grübeln, denn die Bilder gingen um die Welt.

Was vorher undenkbar schien, wurde plötzlich international wieder Thema: dass Frauen Langstrecken – also mehr als die damals olympisch zugelassenen 800 Meter – laufen können. Aber dürfen sie es auch? In der Folge lief der „Fall Switzer“ durch alle Medien, aber es sollte noch fünf Jahre dauern, bis Frauen beim Marathon in Boston zugelassen waren. Und bis zur Startberechtigung bei den Olympischen Spielen dauerte es sogar noch einige Jahre länger.

„Ich bin nicht die erste Marathonläuferin“, erklärt Switzer heute, „ich war nur die erste Frau, die sich offiziell zum Marathon angemeldet hat.“ In der Tat – Frauen waren schon vorher, auch in Boston mitgelaufen: Sie fädelten sich unterwegs ein und wurden dann nicht immer über die Ziellinie gelassen. Entsprechend gab es auch keine offiziellen Zeiten und Beweise für ihre Teilnahme. Das hatte sich nun geändert. Parallel setzte der Laufboom ein, und auch die Wirtschaft zeigte Interesse.

Kathrine Switzer, die als Journalistin gerade Fuß fasste, trat mit einem professionellen Frauenlaufkonzept an die Firma Avon heran. Die Grundidee: Viele Frauen würden anfangen zu laufen, wenn sie ein angenehmes Laufangebot – ohne Leistungsdruck oder Stress – hätten. Aber auch Spitzenathletinnen sollten die Chance bekommen, sich über Strecken von fünf Kilometern bis hin zum Marathon zu qualifizieren. Der erste Testlauf in Atlanta 1978 wurde ein Riesenerfolg, und Switzer bekam den Job.

Als Direktorin des Programms entwickelte und betreute sie in der Folge etwa 400 Läufe in 27 Ländern – von Argentinien bis Japan. Alles Pionierarbeit für die angestrebte Zulassung des Frauen-Marathons als olympische Disziplin. Und die Premiere kam: 1984 bei den Olympischen Spielen in Los Angeles. Kathrine Switzer sollte dabei sein, diesmal am Mikro; live berichtete sie für einen Fernsehsender.

„Warum bringen Sie den Frauenlauf nicht nach Berlin?“

Es war die Frage eines deutschen Starters beim New-York-City-Marathon 1981. Frauenläufe in Deutschland? „Ende der siebziger Jahre hielten deutsche Läufer diese Idee für komisch“, erinnert sich Switzer. Oder – je nachdem, wie man „hilarious“ übersetzt – sogar für „extrem witzig“. Aber Horst Milde, der Berliner Konditormeister und Leichtathlet vom SCC, hatte bereits den Berlin-Marathon gegründet. Er erkannte die Idee bei den Frauenläufen und hatte mit Switzer eine kongeniale Mitstreiterin gefunden.

1983 trafen sich die beiden in seiner Berliner Altbauwohnung zu frischen Brötchen und dampfendem Kaffee. Wie der Frauenlauf konkret aussehen sollte, wurde bei einem gemeinsamen Lauf durch den Tiergarten besprochen. „Ich war zunächst etwas besorgt, da unser Avon-Hauptsitz in der Nähe von München war“, sagt Switzer. „Aber dort hatte ich kein Organisationsteam. Also entschied ich mich für Berlin, da ich diesen klasse Typ dort kannte.“

Ergebnis: 1984 fand der erste Frauenlauf in Berlin statt. Ausgerechnet am Vatertag liefen die 645 Teilnehmerinnen die Fünf-Kilometer-Strecke zum Brandenburger Tor. Bei der jüngsten Auflage im Mai 2011 starten mehr als 17 000 Läuferinnen. Von den weltweit etwa 150 Frauenläufen finden heute über 40 in Deutschland statt.

„Das Beste an der Entwicklung“, findet Switzer, „Frauen fühlen sich heute nicht mehr eingeschränkt. Sie sind selbstbewusst und stark. Millionen Frauen laufen heute.“ In Nordamerika sind sie sogar in der Überzahl. „Wir haben durchschnittlich 53 Prozent Frauenanteil bei gemischten Läufen, es ist fantastisch“, schwärmt Switzer, die über ihre Geschichte und die der Frauenlaufbewegung auch ein Buch geschrieben hat: „Marathon Woman“. Es ist nun auch auf Deutsch erschienen.

Ihre Teilnahme am Berlin-Marathon am Sonntag nimmt Switzer auch persönlich – sie widmet ihn ihrer Nanny, Anni Hemmo, die heute 91-jährig in Senftenberg lebt. 1947 sollte Kathrine Switzer im bayerischen Amberg ihre ersten Schritte tun. Aber warum laufen, wenn Anni sie überall herumtrug? Der Vater baute als US-Major Lager für Heimatvertriebene mit auf, während sich die Mutter als „One-Woman-Marshallplan“ für die Menschen engagierte.

Als die Familie drei Jahre später in die USA zurückkehrte, fiel der Abschied schwer, der Kontakt brach ab. Erst 1998, nach dem Mauerfall und einigen Recherchen kam es zu einem Wiedersehen. Die Verbindung ist seither wieder lebendig. Und den Marathon hat Switzer mit einem Besuch bei „meine Anni“ verbunden.

Ursula Thomas-Stein im Tagesspiegel, Sonnabend, dem 24. September 2011

author: GRR

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