Im Ehrenamt - Der deutsche Sport untersucht die Dopinghistorie des Westens - zugleich arbeitet ein verurteilter Sprint-Trainer als hoher Funktionär - Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung ©UKA Athletics
Im Ehrenamt – Der deutsche Sport untersucht die Dopinghistorie des Westens – zugleich arbeitet ein verurteilter Sprint-Trainer als hoher Funktionär – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung
Berlin – Zu Beginn eine ketzerische Frage, und Claudia Lepping, 43, ist gleich ganz Ohr. Warum sie jetzt wieder mit dieser Beschwerde daherkommt, dass der verurteilte Doping-Trainer S. heute ein hoher Funktionär im Landessportbund (LSB) Thüringen sein darf?
Mehr als 20 Jahre, nachdem sie, Lepping, sich als Athletin selbst der Hammer Sprint-Gruppe von S. angeschlossen hatte? 17 Jahre nach der Verurteilung von S. zu einer Geldstrafe von 12 000 Mark „wegen Inverkehrbringens von Fertigarzneimitteln entgegen § 21 Arzneimittelgesetz"? Claudia Lepping hört sich die Frage ruhig an und antwortet ruhig. „Die einzige Chance, die diese Leute für eine glaubwürdige Reue haben, ist, mit Offenheit dafür zu sorgen, dass so was nicht mehr geschieht. Jeder soll seine Fehler machen. Aber diese Fehler haben eine Wirkung bis heute. Was macht dieser Sport mit einem Menschen? Das ist eine Geschichte, die zu Ende erzählt gehört."
Die Vergangenheit bleibt lebendig in den Lehren, die man aus ihr zieht. Sie aufzuarbeiten, die Landschaft früherer Irrtümer abzuschreiten, ist eine Tätigkeit, die immer in die Zukunft weist, weil sie folgenden Generationen die Chance gibt, es besser zu machen. Es muss deshalb immer wieder den Hinweis darauf geben, dass auf deutschem Boden eines der perfidesten Plansport-Systeme der Geschichte funktionierte: das flächendeckende, staatlich angeordnete Doping in der DDR, gestützt von Trainern und Funktionären, die teilweise bis heute hohe Ämter im Sport bekleiden.
Es wäre deshalb auch gut, wenn der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), der am Freitag eine Präsidiumssitzung zu den jüngsten wissenschaftlichen Studien zum Doping in Westdeutschland abhielt, offen mit den Ergebnissen dieser Studien umgeht. Das heißt: die Namen der Doper freigibt, auch wenn sie immer noch aktiven Trainern, Ärzten oder Funktionären gehören. Und genauso werden die Erlebnisse der Journalistin und früheren Sprinterin Lepping immer aktuell bleiben.
Claudia Lepping war 18, als S., damals Trainer im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV), sie bei der EM in Stuttgart 1986 ansprach. „Wenn du zu uns kommst, zeigen wir dir, warum die DDR-Mädels so schnell sind", sagte er. Sie nahm das Angebot an. Sie war damals eine der begabtesten Nachwuchs-Sprinterinnen und hatte bei ihrem Heimatverein LC Marl eher alternative Trainingsbedingungen. Der Ruf zum SC Eintracht Hamm, in die prominent besetzte Sprinterinnen-Gruppe des Trainers S., verhieß nicht nur die Aussicht auf planvolles Training neben beruflicher Ausbildung oder Studium, wie es das sogenannte „Hammer Modell" offiziell vorsah – es war auch eine Auszeichnung.
Aber bald merkte Claudia Lepping, was der beredte, joviale S. meinte, wenn er sagte, er würde ihr zeigen, warum die DDR-Mädels so schnell sind. In einem Trainingslager teilte sie mit Silke K., 1994 Europameisterin mit der deutschen Sprintstaffel, das Zimmer. Sie sah K.'s Kulturbeutel, der so voll war mit Medikamenten, dass er gar nicht mehr zuging. Sie schrieb sich die Namen der Medikamente auf und zeigte die Liste später einer Ärztin. Die sagte: „Das nimmst du hoffentlich nicht." Es waren Anabolika darunter. „Von dem Moment an wusste ich, was da los ist", sagt Lepping.
Sie blieb ihrer Anti-Doping-Haltung treu, stellte Fragen, vertraute sich vergeblich dem DLV an, war bald isoliert in der Gruppe, aber nicht viel später ohnehin draußen. Rückenverletzung. Sie musste sich wie das junge Opfer eines überharten Trainingsregimes fühlen, das nur Gedopte durchstehen konnten. Und heute ist sie eine der sehr wenigen früheren Athletinnen, die öffentlich vom Doping erzählen. Von S. eben, dessen Fall bestens dokumentiert ist und anschaulich zeigt, wie die Doping-Zellen des Westens funktionierten.
Nach einer Enthüllungsgeschichte des Spiegel , zu der der Hammer Assistent von S., Hans-Jörg K. beitrug, erstattete der Anti-Doping-Experte Werner Franke Anzeige. Es kam zum Prozess, und im Urteil des Amtsgerichts Hamm von 1994 steht, wie S. die vermännlichenden Hormone bei den Athletinnen Silke K., Helga A., Andrea H., Gisela K., Mechthild K. anwandte. Die Nebenwirkungen müssen heftig gewesen sein. Lepping sagt: „Es hieß, eine habe was am Herzen. Die war nicht einmal in der Lage, eine halbe Stunde spazieren zu gehen. Die nächste hatte etwas an der Leber, die war wochenlang nicht zu sehen, weil es ihr dreckig ging. Die Dritte hatte Veränderungen an den primären Geschlechtsteilen."
Für die Beteiligten von damals scheint das Hammer Modell heute ein Tabu zu sein. Helga A., 1989 Hallen-Weltmeisterin über 400 Meter, beantwortet eine Anfrage per E-Mail: „Zu meiner Zeit im Sport – die ohnehin lange zurückliegt – möchte ich mich nicht äußern." S. selbst, in Erfurt ein angesehener Anwalt, lässt über den LSB ausrichten, dass er sich nicht äußern wolle. „Er hat sich nach eigenen Angaben im damaligen gerichtlichen Verfahren umfassend zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen geäußert, und dieses Verfahren ist abgeschlossen", schreibt LSB-Sprecherin Silvia Otto.
Dafür gibt das Thüringische Sozialministerium eine Erklärung heraus: Darin nennt sie die Doping-Vergangenheit von S. „sehr problematisch", aber verweist darauf, dass S. für den LSB nie Trainer oder sonst im Leistungssport tätig war, seit 20 Jahren im Ehrenamt bestätigt werde und „nach dem Gerichtsverfahren Mitte der 1990er Jahre offen mit seiner Verurteilung gegenüber den Mitgliedern des LSB umgegangen ist". Ähnlich die Erklärung des LSB: „S. ging dem LSB Thüringen gegenüber offen mit den Vorwürfen um und nahm eine sehr kritische Distanz zu seinem früheren Handeln ein."
Genau das aber kann keiner überprüfen. Wann hat S. ein Schuldbewusstsein dafür gezeigt, dass er vermännlichende Hormone an junge Frauen verteilt und schwere Nebenwirkungen in Kauf genommen hat? Vor Gericht war er seinerzeit eher schweigsam. Im Hammer Urteil heißt es: „Während der Angeklagte S. keine Angaben zur Sache gemacht hat, hat der Angeklagte K. den objektiven Geschehensverlauf, der der Anklageschrift zugrunde liegt, uneingeschränkt eingeräumt." Als S. wegen der Vorwürfe 1990 als DLV-Trainer zurücktrat, gab er nichts zu. Sollte es irgendwo öffentliche S.-Äußerungen zum Thema geben, liegen sie so gut verborgen, dass auch der Landessportbund Thüringen nichts davon weiß.
Allerdings kann der LSB nicht einmal nachvollziehen, was genau S. damals, 1994, nach seiner Verurteilung und vor seiner Wiederwahl mit überwältigender Mehrheit, zu seinem Fall gesagt hat. Auf Nachfrage schreibt der Landessportbund: „In Erinnerung ist, dass Herr S. vor den Delegierten des Landessporttages eine ausführliche Stellungnahme abgab." Am Ende des Statements heißt es dann: „Wie bereits einleitend dargestellt, finden sich in den jeweiligen Protokollen der Landessporttage keine Aufzeichnungen zu den Aussagen von S. Und auch Interviews mit Medien sind uns nicht bekannt."
Vorerst kann die Öffentlichkeit aus dem Fall S. nur lernen, dass es frühere Täter im deutschen Sport ganz bequem haben. S. ist ein engagierter LSB-Funktionär, das rechtfertigt offenbar sein öffentliches Schweigen. Die Sportfunktionäre winken ihn durch, und zwar so formal korrekt, dass auch der DOSB am Ende nur mit den Schultern zuckt. „Wenn er demokratisch gewählt ist, ist er demokratisch gewählt", sagt DOSB-Sprecher Christian Klaue. „Stell' dir mal dieses Signal vor", sagt Claudia Lepping: „So einer kommt durch. Das System unterscheidet nicht einmal zwischen überführten und nicht überführten Trainern."
Sie kann dagegen nichts tun. Sie kann nur ein bisschen dagegen anreden wie neulich, als sie bei der Anti-Doping-Konferenz in Freiburg ihre Geschichte vortrug. Sie plant eine Website zum Thema. Sie will ihre Botschaft streuen: Systemzwang beim Thema Doping ist Einbildung, Neinsagen geht. Sie hat es doch selbst getan. Die Doper haben damals ein bisschen böse geschaut: „Aber der Kopf ist noch da, wo er hingehört, den hat mir keiner abgerissen."
Und heute fühlt sich Claudia Lepping ziemlich frei durch ihr Nein von damals.
Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Samstag/Sonntag, dem 29./30. Oktober 2011