Symbolfoto: Rennradfahrer - ©LSB - NRW - Andrea Bowinkelmann
Doping – Jan Ullrich – Ende einer Irrfahrt – Mathias Klappenbach und Friedhard Teuffel im Tagesspiegel
Die letzte Etappe einer großen Rad-Rundfahrt ist meist ein fröhliches Ausrollen. Der Sieger, etwa der Tour de France, trinkt schon auf dem Weg ins Ziel das erste Gläschen Sekt und darf dann auf den Champs-Elysées durchs Spalier der jubelnden Zuschauer fahren. Die letzte Etappe in der Karriere des Radfahrers Jan Ullrich besteht aus ein paar Blättern Papier.
In englischer und französischer Sprache verkündet der Internationale Sport-Schiedsgerichtshof Cas, dass Jan Ullrich des Dopings für schuldig befunden wurde. Drei Juristen haben sich lange beraten, ihr Urteil immer wieder verschoben und am Ende ein klares Urteil gefällt.
Es ist nicht so, dass dieses Urteil überraschend kam. Dass nicht vorher schon viele wussten, wie Ullrich seiner Kondition durch Behandlungen des spanischen Dopingarztes Eufemiano Fuentes nachgeholfen hätte. Im professionellen Radsport gehört das Manipulieren des eigenen Bluts dazu wie das Aufpumpen der Reifen. Aber bedeutend ist das Urteil allemal. Weil es etwas unwiderruflich festhält, was Jan Ullrich selbst bislang nicht zugegeben hatte. Und weil es der Endpunkt einer langen Irrfahrt ist, eines langen Abstiegs, der beinahe genauso quälend erschien wie der sportliche Aufstieg, der Ritt hinauf auf die Berge.
Mit diesem Erklimmen der Berge auf zwei Rädern hatte sich Jan Ullrich einen Platz im Herzen der Nation erkämpft. 1996 zunächst mit einem zweiten Platz beim wichtigsten Radrennen der Welt, der Tour de France. Noch ist sein Teamkapitän, der Däne Bjarne Riis, schneller.
Doch ein Jahr später leuchtet auf einmal Jan Ullrich im Gelben Trikot des Führenden im Peloton auf. Er lässt auch Riis hinter sich, der beim Zeitfahren wütend sein defektes Rad in den Straßengraben schleudert. Als Ullrich auf der 17. Etappe schwächelt, ruft ihm sein Teamkollege Udo Bölts, durch die Mikrofone vernehmbar, zu: „Quäl dich, du Sau!“ Ullrich sagt später, dass er Bölts gar nicht verstanden habe. Der Spruch wird dennoch sofort Folklore. Stolz tragen ihn manche auf T-Shirts, Bölts nennt später so auch seine Autobiografie.
Nach 1997 sah man in ihm den Seriensieger. Doch es kam Armstrong
Ullrich kann sich quälen wie kein Zweiter. Er sieht nicht aus wie ein Übermensch, eher schmächtig. Dafür ist er umso zäher. Er kommt von der Küste, aus Rostock, und bezwingt trotzdem die Berge. Mit einem ganz eigenen Stil. Seine Kette dreht sich um das große Zahnrad, er fährt mit hohen Gängen, und während andere am Berg aus dem Sattel gehen und das Rennrad zwischen ihren Beinen hin- und herschlenkert, bleibt Ullrich einfach sitzen – stoisch, trotzig, als ob die Straße unter seinem Rad dann weniger steil ansteigen würde.
So kommt er ans Ziel, mit seinem eigenen Rhythmus. Eine beinahe märchenhafte Leistung. Als 1997 auf den Champs-Elysées die Sieger gekürt werden, steht der 23 Jahre alte Jan Ullrich ganz oben. Als erster Deutscher hat er dieses Rennen gewonnen. Ein neuer Sportheld ist geboren, einer zum Gernhaben mit Stupsnase, Sommersprossen und apfelroten Wangen.
Die Tour de France ist bei den Deutschen auf einmal ähnlich beliebt wie die Fußball-Bundesliga. Sie verfolgen zu Millionen am Fernseher, wie die Fahrer durch ihr Nachbarland sausen, und hören dabei den Kommentatoren zu, wie sie en passant etwas über die Käsespezialitäten der jeweiligen Region erzählen. Die Fahrer sind die Helden der Landstraße, die jeden Tag aufs neue den inneren Schweinehund und die Schwerkraft zu besiegen haben, wenn sie die Berge emporradeln. Und der größte Held unter den Ausdauerathleten heißt Jan Ullrich.
20 000 Fans empfangen das Siegerteam vom Staatskonzern Telekom in Bonn, die Farbe Magenta ist in Deutschland präsenter als lila Schokolade, und Ullrich einer Umfrage zufolge netter als Steffi Graf und historisch bedeutsamer als Max Schmeling. Ullrich löst einen Boom aus. Die Fahrradhändler verkaufen statt gebrauchter Hollandräder mehr teure Rennräder mit komplizierten Schaltungen. Es ist ein Sommer der Leichtigkeit. Im Dezember 1997 wird Jan Ullrich zum Sportler des Jahres gewählt.
Ein großer Schatten fällt schon im folgenden Jahr auf die Tour de France, der Festina-Skandal. Ein ganzes Team steht unter Dopingverdacht. Zwar hätte der Tod des Briten Tom Simpson, der 1967 am Mont Ventoux starb, nachdem er zuvor auch Aufputschmittel genommen hatte, ein Warnung sein können, dass der auszehrende Sport nach mehr verlangt. Aber noch gibt es keinen Generalverdacht, noch scheint sich das Peloton zu teilen in gute und böse Fahrer. Die Telekom, Namensgeber von Ullrichs Team, bedankt sich in ganzseitigen Anzeigen nach der Tour 1998: „Saubere Leistung.“
Nach seinem ersten Triumph bei der Tour de France erschien Ullrich eigentlich schon als Seriensieger der kommenden Jahre. Doch es fällt ihm schwer, seinen Gipfelsturm zu wiederholen. Er steht nun unter Beobachtung. Die Nation diskutiert nicht nur über seinen starken Antritt, sondern auch über seine Schwächen, etwa die für Süßes. Jedes Frühjahr taucht mit verlässlicher Regelmäßigkeit die Frage auf, wann Ullrich aus seinem Winterschlaf erwache und mit welchem Gewicht. Das Pendel scheint zurückzuschlagen, im Sommer die Qualen, im Winter die Bequemlichkeit. Das lässt Ullrich umso menschlicher erscheinen.
2007 beendete er seine Karriere, Fragen waren nicht erlaubt
Ullrich ist sein eigener Gegner, doch sein härtester Konkurrent taucht aus Amerika auf: Lance Armstrong. Es entwickelt sich zwischen den beiden ein Duell, wie es sich die Organisatoren der Tour de France nicht schöner hätten aussuchen können. Der pausbäckige Deutsche gegen die Menschmaschine aus den USA.
Armstrong hängt Ullrich ein ums andere Mal ab. Er gewinnt Tour um Tour. Ihn umgibt die Aura einer fast unwirklichen Stärke. Ob sie vor allem daher kommt, dass Armstrong den Krebs besiegt hatte? Ullrich kann nicht mehr mithalten. Nach jeder Zielankunft muss er sich die Frage der Journalisten anhören, ob er denn morgen endlich angreife. Das ewige Antreten gegen Armstrongs Stärke scheint Ullrich zu zermürben. Es fällt ihm schwer, die Disziplin zu bewahren. Bei einem Dopingtest werden ihm 2002 Amphetamine nachgewiesen, in der Disco habe er sich von einem Unbekannten eine Ecstasy-Pille andrehen lassen, erklärt er später. Ullrich wird sechs Monate gesperrt. Das Publikum erwartet nach diesem Ausrutscher, dass er sich rehabilitiert – mit einem neuen Angriff auf Armstrong.
Bei der Tour 2003 trennen Ullrich und Armstrong im Gelben Trikot 15 Sekunden. Plötzlich bleibt Armstrong an der Tüte eines Zuschauers hängen und stürzt. Ullrich forciert das Tempo nicht, er wartet auf Armstrong. „Ich habe nicht einen Moment lang überlegt anzugreifen, das tut man einfach nicht“, sagt er nachher. Dem darauf folgenden Antritt von Armstrong kann Ullrich nicht standhalten und verliert fast eine Minute. Dafür bekommt er einen Fair-Play-Preis, als gutes Vorbild für Jugendliche. Die Tour de France dagegen kann Ullrich nicht mehr gewinnen.
Inzwischen beschränken sich die Dopingfälle längst nicht mehr auf einzelne Fahrer. Das ganze Peloton steht unter Verdacht. Zu viel ist schon ans Licht gekommen. Da erschüttert ein neuer, großer Fall den Radsport. Bei einer Razzia verhaftet die spanische Polizei im Mai 2006 den spanischen Gynäkologen Eufemiano Fuentes und beschlagnahmt umfangreiches Beweismaterial, unter anderem Blutbeutel. Das Doping mit eigenem Blut erhöht die Ausdauer, und ist für die Fahnder nicht nachweisbar. Wer auf der Liste der Verdächtigen steht, macht schnell die Runde. Fast 60 Fahrer werden von der Tour de France 2006 ausgeschlossen, unter ihnen auch – Jan Ullrich.
Es ist der Beginn eines Abstiegs. Doch Ullrich schweigt. Und wenn er nicht schweigt, bringt er es auf seine Formel: „Ich habe niemanden betrogen.“ Das ist seine Logik: Wenn doch alle gedopt haben, wie habe ich dann etwas Unrechtes getan? Die Anschuldigungen nehmen zu, auch der Druck auf Ullrich. Im Februar 2007 erklärt er seine Karriere für beendet. Es ist ein öffentlicher Auftritt vor Journalisten, aber Fragen lässt Ullrich nicht zu. Auch in seinem einzigen Fernsehauftritt in jener Zeit bei Reinhold Beckmann versteckt er sich entweder hinter seiner Formel, niemand betrogen zu haben. Oder aber hinter seinen Anwälten, die ihm geraten hätten, zu diesem Thema nichts mehr zu sagen.
Bjarne Riis gibt 2007 wie viele weitere ehemaliger Fahrer des Teams Telekom zu, damals gedopt zu haben. Er ist heute Leiter eines Profiteams und sagt, dass sein Geständnis eine Riesenlast von ihm genommen habe.
Jan Ullrich ist diese Last seit Freitag ebenfalls los. Nur dass sie ihm andere abgenommen haben.
Mathias Klappenbach und Friedhard Teuffel im Tagesspiegel, Freitag, dem 10. Februar 2012