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07
05
2012

Nutzte die schnelle Berliner Strecke 2011 mit 2:03:38 zum Weltrekord: Patrick Makau. ©Helmut Winter

Die Marathonszene der Männer: „Deutschland UNTER alles!“ Helmut Winter berichtet

By GRR 0

Der 28. September 2003 markiert nicht nur den Beginn offizieller Weltrekorde im Marathonlauf der Männer durch Paul Tergat in Berlin, er markiert auch den Zeitpunkt, seit dem dieser Rekord nur noch an gleicher Stelle verbessert wurde. Nach Haile Gebrselassie ist seit September 2011 der Kenianer Patrick Makau mit grandiosen 2:03:38 der Inhaber dieser Rekordmarke.

Auf einem für Bestzeiten zertifizierten Kurs (dazu gehören nicht die Fabelzeiten vom Boston-Marathon 2011) kam dieser Zeit sein Landsmann Wilson Kipsang allerdings im letzten Oktober in Frankfurt sehr nahe, mit 2:03:42 verpasste er um 4 Sekunden diese Marke denkbar knapp. Über welches Potential Kipsang verfügt, demonstrierte er vor gut einer Woche bei seinem Sieg in London, der ihm neben gehörigen Preisgeldern auch einen Startplatz im kenianischen Team beim Olympischen Marathon in London im August einbrachte.

Die Rekordmarken von Berlin wurden in den letzten Jahren immer wieder angegriffen, aber alle (legalen) Zeiten im Marathon der Männer unter der Marke von 2:04 Stunden wurden bisher ausschließlich auf deutschem Boden erzielt. Und so kam ganz folgerichtig der bekannte britische Journalist Pat Butcher nach dem Frankfurt Marathon 2011 zu dem Schluss: „Incidentally, all three sub-2.04 times have been set in Germany, Makau and Geb in Berlin, and now Kipsang in Frankfurt. And the lesson seems to be, if you want to run a fast marathon, come to Germany; or to put it another way: Deutschland Unter Alles". In der Tat hat sich die Sache mittlerweile herumgesprochen, und das "Feuerwerk" von Spitzenleistungen im Marathon auf Deutschlands Straßen hält unvermindert an. Als letztes Beispiel kann der wieder erstarkte Hamburg-Marathon vom letzten Sonntag angesehen werden, auch hier muss man nun unter 2:06 laufen, um zu gewinnen. Und das ist vermutlich auch dort erst der Beginn weiterer Leistungssteigerungen.

Pat ist ein brillanter Texter und sicher der deutschen Sprache soweit mächtig, dass er die Präposition in seinem Statement mit Bedacht gewählt hat. Vermutlich hatte er schon im letzten Oktober geahnt, dass die Misere im Marathon der deutschen Männer ein weitaus massiveres Problem darstellt, als es aktuell von den Beteiligten eingestanden wird. Denn während insbesondere aus den ostafrikanischen Ländern eine Heerschar von Läufern die einmaligen Bedingungen auf Deutschlands Asphalt zu Topleistungen und Steigerungen ihres Marktwerts nutzen, können die besten deutschen Läufer von diesen Entwicklungen kaum profitieren und laufen weit hinterher, wobei sie oft das Ziel noch nicht einmal erreichen.

Obwohl Höchstleistungen im Marathon eine auf vielen Parametern beruhende Angelegenheit ist, lassen sich einige Facetten dieser Problematik durchaus benennen. Dass die Ostafrikaner im Marathon in einer anderen Liga laufen, ist eine Tatsache, die unbestritten ist. Sie belegen aktuell alle Plätze in den Top30 des Jahres 2012. Und auch die Gründe für diese Dominanz wurden schon an diversen Stellen diskutiert.

Was da schon etwas erstaunlicher stimmt, ist die Tatsache, dass die Spitzenzeiten in Deutschland erzielt wurden, obwohl die prestigeträchtigen Konkurrenten, wie die Marathonläufe in Chicago, London, New York City, Rotterdam, etc. alles daran setzen, den Berlinern den Rekord abzujagen. In deren Rennen mit internationalen Topbesetzungen sieht das im Vorfeld und bis zur halben Distanz oft vielversprechend aus. Wenn die Herren aber den Zielstrich passiert haben, dann war die Berliner Bestmarke aber überschritten. Danach wir dann die Enttäuschung durch die Freude über immer noch großartige Zeiten oder sogar Streckenrekorde verdrängt.

Der Chicago-Marathon ist diesbezüglich ein gutes Beispiel, wo es auch den Besten der Zunft, wie Wanjiru, Kebede und Co. bis heute nicht gelang, wieder als Weltrekordstrecke zu glänzen. Eine erste Analyse der Rennen dort zeigt, dass extreme Leistungen im Marathon kaum noch ohne adäquate „Betreuung" der Athleten auf der Strecke zu vollbringen sind. Im Klartext: extensives Coaching während des Rennens. Und dies ist (vor allem) in den USA verpönt. Man überlässt die Spitzenläufer (und auch Tempomacher) weitgehend sich selbst, eine Anzeige der projizierten Endzeit für die Läufer stellt sich als wenig hilfreich heraus, da diese renntaktisch nicht umgesetzt wird.

Die Auswahl der Tempomacher, die Zusammenstellung der Elitefelder, die Informationen und die taktischen Anweisungen (!) während des Rennens machen letztlich den Erfolg aus. Und da operieren der Berliner Race-Director Mark Milde oder die Frankfurter Crew Schindler/Kopp auf höchstem Niveau.

Auch Rotterdam steht diesbezüglich kaum nach (man übertreibt dort die Betreuung auf der Strecke in einigen Belangen), hat aber das Problem, dass der Wind in der Hafenstadt immer wieder zu einem leistungs-hemmenden Faktor gerät. Und so wurde es auch 2012 mit dem groß angekündigten Weltrekord nichts, bei 30 km verpasste man diesen Weltrekord nur um 3 Sekunden, im Ziel war es aber mehr als eine Minute für die volle Distanz. Berlin bleibt vorne.

Und was machen die deutschen Läufer in Anbetracht dieser einmaligen Voraussetzungen vor der eigenen Haustür? Die laufen hinterher. Und wie! Der verhaltene Optimismus, dass es motiviert durch die Olympia-qualifikation in den Läufen am letzten Wochenende wieder bescheiden aufwärts gehen könnte, zerplatzte schon lange bevor das Ziel in Sicht kam.

Nicht einer der Kandidaten für einen Startplatz bei Olympia war am Sonntag viel länger als 1 ½ Stunden unterwegs, und in dieser „Arbeitszeit" ist ein voller Marathon nicht zu schaffen. Nach Olympia 2000 in Sydney (Eich, Fietz) wird frühestens 2016 wieder ein deutscher Olympionike einen Marathon laufen. Die Bestenlisten der deutschen Männer der letzten Jahre sind ein einziges Desaster. Bester 2011 war Jan Fitschen mit 2:15:40, 12 Minuten hinter Makaus Rekordmarke und sogar auch über dem Frauenrekord von Paula Radcliffe …

Auf der einen Seite ist das sicher die fehlende Qualität der deutschen Elite, die den Anschluss an die Weltspitze immer mehr verliert (obwohl man sich bei der Heim-WM 2009 doch ganz achtbar schlug). Man fragt sich schon, was aufwendige Höhentrainingslager in Kenia und wo immer bringen (von denen dann auch minutiös und aufwendig berichtet wird), wenn man im entscheidenden Moment diese Maßnahmen im Wettkampf  nicht umsetzen kann.

Dabei fällt auf, dass sich die deutschen Spitzenkräfte im Vorfeld kaum in Wettkämpfen auf Unterdistanzen messen. Und wenn es dann doch geschieht, so hat man den Eindruck – wie z.B. bei Martin Beckmann beim Halbmarathon des Paderborner Osterlaufs -, dass die Voraussetzungen für eine gute Leistung über die volle Distanz kaum gegeben ist. Dazu kommen dann noch Pech, Verletzungen und mentale Probleme, die sich zu dem summieren, was wir aktuell in der Marathonszene der deutschen Männer erleben.

Aber es sind mitnichten die Athleten allein, die in einer Freizeitgesellschaft ein Training auf hohem Belastungs-programm auf sich nehmen, für das sich immer weniger junge Menschen motivieren lassen. Der Vergleich mit der prä-kenianischen Zeit der 1980er Jahre zeigt in der Tat in Deutschland einen eklatanten Leistungsrückgang in Spitze und Breite. In den letzten 30 Jahren ist das gesellschaftliche Umfeld nicht stehen geblieben. Ein Vergleich der Ergebnislisten für die engagierten Hobbyläufer zeigt das sehr deutlich. Und angesichts solcher Fakten grenzt es an einen erheblichen Realitätsverlust der verantwortlichen Funktionäre, auf Normen zu bestehen, die illusorisch und kontraproduktiv erscheinen müssen. Natürlich sind Marathonzeiten von 2:12 nicht mehr hochklassig, gut 230mal wurde diese Zeit bisher unterboten. Wohlgemerkt in diesem Jahr 2012!

Daraus aber abzuleiten, dass diese Zeit auch deutschen Läufern zuzumuten wäre, ist ein fataler Irrtum. Die Vorgaben der A- und B-Marathonstandards für Olympia 2012 von 2:15 bzw. 2:18 lassen einen Spielraum zu, den man hätte nutzen können. Denn ob 2:12 oder 2:15 oder sogar nur 2:18, in allen Fällen läuft man der Spitze weit hinterher.

Da aber die Kontingente für jede Nation bei Olympia numerisch limitiert bleiben, eröffnet das Chancen für Achtungserfolge. Mehr ist realistisch sowieso nicht drin. Wenn man aber diesen Aspekt außer Acht lässt und die verbliebenen Aufrechten zwingt, sich im Vorfeld zu Olympia am absoluten Limit zu beweisen, dann muss das einfach danebengehen. Die Realitäten sprechen eine deutliche Sprache, wenn man mit ansehen musste, wie die Hatz am Limit schon vor der Halbmarathonmarke einsetzte und dann erwartungsgemäß scheiterte.

Dass kein deutscher Läufer die Norm schaffte und man nun vor einem Scherbenhaufen steht, das ist auch ein Problem der verantwortlichen Funktionäre, die sind um nichts besser.

Deutschland UNTER alles! Und wie geht es weiter? So „schlecht" – oder besser: so unglücklich – wie sich die deutschen Marathonmänner präsentieren und verkaufen, können die doch eigentlich nicht sein. Ohne jeden Qualifikationsdruck sollten sie im Herbst die Gunst der Stunde nutzen und dann auch mit mehr Glück das zeigen, was sie wirklich können. Und das ist sicher viel mehr, als sie in den letzten beiden Wochen zeigen konnten.

Der deutsche Straßenlauf im Männerbereich könnte das dringend gebrauchen. Und dann sollten Fitschen, Cierpinski, Beckmann und Co. gleich die jungen Hoffnungsträger mitziehen, die mit Sören Kah und Robert Krebs schon erste Marken ihres Könnens gesetzt haben. Vielleicht helfen ihnen dabei auch die Strecken durch Deutschlands Städte, die sind nämlich nach wie vor die schnellsten der Welt!

 

Helmut Winter

 

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author: GRR

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