Moses Mosop (hier bei seinem Sieg in Chicago 2011) verpasste in Rotterdam den Weltrekord, wurde aber zunächst für Olympia nominiert. ©Helmut Winter
„Simply sensational!“ (Teil 2) Ein Rückblick auf die internationale Marathonszene im ersten Halbjahr2012 – Helmut Winter berichtet
Im April erreicht die internationale Marathonszene einen ersten Höhepunkt, der schon allein durch die Läufe in Rotterdam, Boston und vor allem London vorgegeben ist. Das war 2012 nicht anders, es war sogar fast ereignisreicher als in allen Jahren zuvor. Und am Ende standen Athleten auf dem Podium, die man im Vorfeld nicht unbedingt dort erwartet hätte.
In Rotterdam überraschte eine Frau
Den Anfang machte am 15. April der Rotterdam-Marathon, bei dem vor allem der Kenianer Moses Mosop im Mittelpunkt des Interesses stand. Nach seinem Debut mit 2:03:06 in Boston, seinen Weltrekorden auf der Bahn über 25 km und 30 km sowie seinem Sieg beim Chicago-Marathon im letzten Jahr gehört Mosop zu den aktuell stärksten Läufern in der weltweiten Marathonszene.
Die groß angekündigte Jagd auf den Weltrekord im Marathon der Männer (Makau 2:03:38, Berlin 2011) schien durchaus realistisch. Entsprechend konsequent ging man auch das Rennen an und lag über 14:35 (5 km), 29:04 (10km) und 43:43 (15 km) schnell auf Weltrekordkurs mit einer Halbmarathonzeit von 1:01:37. So schnell war zuvor noch niemand einen größeren Marathon angegangen. Einmalig auch der Split von 1:13:00 für die 25 km, nur dass der große Favorit Schwierigkeiten bekam und dort schon 10 Sekunden zurücklag. Das Tempo vorne machten etwas überraschend die beiden Äthiopier Yemane Adhane und Getu Feleke, die zunehmend gegen den starken Wind in der holländischen Hafenstadt ankämpfen mussten.
Bei 30 km in 1:27:42 langen sie über der Zwischenzeit beim Berliner Weltrekord, aber um nur 3 Sekunden verpassten sie die Rekordmarke über 30 km. Das hohe Anfangstempo forderte nun seinen Tribut, so dass Adhane (2:04:48) und Feleke (2:04:49) am Ende den Weltrekord doch sehr deutlich verfehlten. Moses Mosop erholte sich im Schlussteil und wurde kurz dahinter in 2:05:02 Dritter. Aber einen großen Erfolg konnte Rotterdam trotzdem verzeichnen, denn das Zehnermittel verbesserte sich auf 2:04:54; damit löste man um eine Sekunde Berlin von Platz 1 ab.
Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass mit den beiden Erstplatzierten bereits 18 Läufer die Marke von 2:05 unterboten (2003 bei Tergats Weltrekord in Berlin galt dies noch als eine „Traumgrenze“ …) und dass nicht der schnellere Adhane (lief gut 2 Monate zuvor in Dubai schon 2:06) sondern Feleke für das äthiopische Olympiateam nominiert wurde. Das verstehe, wer will.
Verständlicher bleibt das schon die Normierung von Tiki Gelane, die die große Überraschung in Rotterdam schaffte. Man hatte sich derart auf die Tempojagd der Männer fokussiert, dass zunächst gar nicht auffiel, wie schnell die 24jährige Siegerin des Amsterdam-Marathons 2011 unterwegs war. Schon in Amsterdam verbesserte sie mit 2:22:08 den Streckenrekord und ihre Bestzeit erheblich, in Rotterdam war spätestens beim Halbmarathon in 1:09:31 klar, dass es in neue Dimensionen ging.
Am Ende blieben die Uhren bei 2:18:58 stehen, der äthiopische Frauenrekord vom Dubai-Marathon hielt keine drei Monate. Damit unterboten bisher vier Frauen im Marathon die 2:19, eine Woche später waren es dann sogar fünf.
Haile holt Paula ein
Am gleichen Tag drückte der Kenianer Henry Sugut beim Wien-Marathon den Streckenrekord auf gute 2:06:58, so schnell war zuvor noch niemand auf österreichischem Boden einen Marathon gelaufen. Möglich wurde dies vor allem durch eine schnelle zweite Hälfte in 62:39. Im Fokus der Aufmerksamkeit standen in Wien jedoch die beiden Altstars der Szene, Paula Radcliffe und Haile Gebrselassie, die sich ein Verfolgungsrennen über die Halbmarathondistanz lieferten.
Da Paula augenscheinlich nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte war, verlief ihr Vergleich mit Haile chancenlos, der im Sololauf mit 60:52 eine beachtliche Zeit lief. Paulas 72:03 sind kaum erwähnenswert, und da die Marathonweltrekordlerin aktuell weitere Verletzungssorgen plagen, dürfte ihr Traum von einer Medaille im Marathon bei Olympia vor heimischer Kulisse schon vor dem Startschuss am 5. August vorbei ein.
Großartige Leistungen gab es am gleichen Tag in Paris, wo eine Zwischenzeit beim Halbmarathon von 1:01:51 für Aufregung sorgte. Ohne große Ankündigung lief man ein Weltrekordtempo. Aber auch in Paris ist ein Marathon erst nach 42,195 km zu Ende, und bis dahin mussten die Spitzenläufer das Tempo zurücknehmen, Trotzdem gab es auch in diesem Jahr wieder herausragende Resultate in der französischen Hauptstadt.
Der Kenianer Stanley Biwott hatte auf dem Schlusspart die größten Reserven und schaffte mit 2:05:10 einen hochklassigen Streckenrekord, und auch die Leistungsdichte hinter dem Sieger erfüllte hohe internationale Standards: 4 Läufer unter 2:07, 8 unter 2:09 und 16 unter 2:13.
Der Boston-Marathon und das Wetter
Einen Tag später – traditionell ein Montag, der „Patriots Day“ – ging man auch beim Boston-Marathon auf die Strecke. Und als ob der Wettergott für seine unbotmäßigen Eingriffe in das Renngeschehen des letzten Jahres in der Laufszene wieder etwas gut machen wollte, wählte er diesmal Werkzeuge der anderen Extreme. Mit dem Hereinbrechen einer Warmwetterfront wurde der Lauf in diesem Jahr zu einer Quälerei am Limit. Das hoch zu lobende Angebot der Veranstalter an die Teilnehmer, den Start ohne Kosten auf das kommende Jahr verschieben zu können (welches aber nur spärlich angenommen wurde), macht deutlich, was die Athleten nach dem Start in Hopkinton erwartete.
Das Ausscheidungsrennen in der Hitze hatte einen ganz anderen Charakter als die Tempojagd vor einem Jahr, und der Sieger war am Ende fast 10 (!) Minuten langsamer als im Vorjahr. Boston bleibt ein Ort für außergewöhnliche Abläufe.
Schon beim Halbmarathon in 66:08 deutete sich an, dass diesmal keine Topzeiten zu schaffen waren. Und alle die Läufer der Spitzengruppe, die meinten, sie müssten dies mit einem Zwischenspurt von 25 km nach 30 km in 15 Minuten ändern, lagen zwar weit vor dem Feld, mussten dafür aber schon bald büßen. Zu diesem Zeitpunkt war der Vorjahressieger in noch immer kaum fassbaren 2:03:02, Geoffrey Mutai, nach Muskelproblemen aus dem Rennen.
Dass er damit auch aus dem Rennen für das kenianische Olympiateam war, konnte man da noch nicht wissen. An der Spitze brachen seine Landsleute nacheinander ein, am Ende sogar Klasseläufer wie Matebo und Kisorio, und ein Läufer, der den Zwischenspurt nicht mitmachte, überholte bis zum Ziel alle. Wesley Korir, in Chicago im letzten Jahr schon Zweiter, krönte seine Karriere mit dem Gewinn eines Laufs der Marathon Majors. Seine Zeit war angesichts der Bedingungen noch sehr anständig: 2:12:40.
Wesley dürfte die Zeit weitgehend gleich gewesen sein. Er freute sich zu recht über das Preisgeld, das er in wesentlichen Teilen in seine „Kenyan Kids Foundation“ einbringt. Im Oktober ist er schon als einer der Topstars des Chicago-Marathons angekündigt.
Für Geoffrey Mutai gab es nach Boston auch kein Happy End, nachdem Moses Mosop auf seine etwas überraschende Olympianominierung wegen Achillessehnenproblemen verzichtete. Namensvetter Emmanuel Mutai wurde ihm vorgezogen. Auch das verstehe, wer will. Geoffrey konzentriert sich jetzt auch einen schnellen(!) Marathon im Herbst, dessen Ort soeben bekannt gemacht wurde:
BERLIN, am 30. September 2012!
Helmut Winter
Weitere Beiträge von Helmut Winter:
7. Lichtenauer Wasserlauf Berlin 2012: Berliner Spitzenläufer überzeugten – Helmut Winter berichtet
Die Marathonszene der Männer: „Deutschland UNTER alles!" Helmut Winter berichtet
22. April 2012: Kenianer im Marathon überall vorne – Helmut Winter berichtet
Der kleine Bruder des Berlin-Marathons wird langsam erwachsen – Helmut Winter berichtet
Sevilla Marathon: Die Elite blieb zu Hause – Helmut Winter berichtet
Auch Martin Lel hofft auch Olympiastart in London – Helmut Winter berichtet
Die Favoriten fahren nach London – Die US Marathon-Trials in Houston – Helmut Winter berichtet
Die Tempojagden gehen auch 2012 weiter: Streckenrekord in Xiamen – Helmut Winter berichtet