Kathrine Switzer und die Geschichte der Frauenlaufbewegung – Die Buchbesprechung von Prof. Dr. Detlef Kuhlmann
Eine umfassende „Weltgeschichte des modernen Frauenlaufes" hat noch niemand geschrieben. Aber das Buch mit dem Titel „Marathon-Woman. Die Frau, die den Laufsport revolutionierte" kommt dem schon sehr beachtlich nahe. Anders ausgedrückt: Wer jemals diese Weltgeschichte zu schreiben für sich in Anspruch nimmt, der kommt an dem vorliegenden Werk der US-Amerikanerin Kathrine Switzer (im Folgenden: K. S.) nicht vorbei.
Man kann dem Werk reichlich Daten und Fakten entnehmen, um damit wesentliche Entwicklungslinien des Frauenlaufsports nachzuzeichnen – jedenfalls was das ausdauernde Laufen von Frauen ab Mitte der 1960er Jahre angeht. Vordergründig ist das erstmals 2007 in den USA erschienene Buch „nur" eine unterhaltsam erzählte Autobiografie jener „Marathon-Frau", die sich anschickt, den Laufsport für Frauen revolutioniert zu haben: Das allein ist wahrlich eine Lebensleistung, mit der K. S. selbst Frauenlaufgeschichte geschrieben bzw. diese entscheidend mitgeprägt hat.
Die deutsche Ausgabe von „Marathon Woman" wurde extra um einige in Deutschland spielende Schauplätze erweitert. Die hervorragende Übersetzung hat die Berliner Journalistin (und Läuferin!) Gesine Strempel angefertigt. Sie hat den Band übrigens im September 2011 in Berlin beim 23. Literatur-Marathon im Vorfeld zum Berlin-Marathon erstmals in der Öffentlichkeit vorgestellt. Wenige Tage später ist K. S. aus diesem Anlass in Berlin ihren 39. Marathon gelaufen.
Warum hat K. S. den Laufsport revolutioniert hat? Eine erste knappe Antwort geht so:
K. S. hat dem Frauenlauf – zuerst in den USA, später in der ganzen (westlichen) Welt und in Deutschland speziell in Berlin – zahlreiche zündende Impulse gegeben und dadurch für eine weitere Verbreitung, für eine dynamisch wachsende Attraktivität bei den Frauen selbst und nicht zuletzt, sondern wohl zuallererst für noch mehr Akzeptanz gerade bei denjenigen „Bedenkenträgern" gesorgt, die anfangs gegen das lange Laufen von Frauen eingestellt waren: Ist K. S. inzwischen selbst zur Ikone des Frauenlaufs geworden? Wer die gut 400 Seiten aufmerksam und bis zu Ende liest, wird diese Frage – Einschmeichelfloskeln oder Höflichkeitsrhetorik hin oder her – klipp und klar mit „ja" beantworten müssen. Die folgende Besprechung soll diese eindeutige Prädikatszuweisung ein wenig unterfüttern helfen:
K. S. hat im Laufe ihres langen Läuferinnenlebens etliche wegweisende Initiativen zur Förderung des Frauenlaufs angestoßen, die aus heutiger Sicht wie eine Selbstverständlichkeit klingen, weil man gar nicht mehr auf den Gedanken kommen würde, danach zu fragen, dass und wie es früher anders war mit den Laufaktivitäten von Frauen: Gab es irgendwann einmal gar keine? K. S. kommt in dieser Hinsicht das zeithistorische Verdienst zu, das ausdauernde Laufen für Frauen enttabuisiert zu haben.
Sie hat das ausdauernde Laufen als Männerdomäne entzaubert. Sie hat – nicht nur sprichwörtlich – den Frauen weltweit auf die Beine geholfen, indem sie sie alle, die wollten, aber damals noch nicht konnten, auf die Laufpiste gebracht hat – mehr noch, und dies war wohl ihrer größter Coup: K. S. ist selbst „revolutionär" vorgeprescht. Sie ist einfach bei einem Männer-Marathon-Rennen mitgelaufen. Und das gehörte sich doch gar nicht! Das war damals keiner Frau erlaubt. Das geschah entgegen den bestehenden Wettkampfbestimmungen.
Die Teilnahme von Frauen an einem Marathon war offiziell gar nicht vorgesehen. Die „Marathon-Woman" war also im Grunde alles andere als herzlich willkommen. Sie hat es riskiert und alles auf die 42,195 km gesetzt: Die gerade 20-jährige Publizistik-Studentin K. S. hat durchgehalten und ist tatsächlich angekommen.
Danach gab es (Gott sei Dank!) kein Zurück mehr in der Geschichte des Frauenlaufes – alles wegen der Wahnsinnsidee von K. S.! Doch schnell zum historischen Schauplatz selbst:
Manche mögen sich noch an die Fotostrecke erinnern, auf der eine junge Frau (nämlich jene K. S.) im weiten langbeinigen und langärmeligen hellen Baumwolldress mit der Startnummer „261" zu sehen ist und plötzlich von einem älteren Herrn mit lichtem Haar und Brille in Zivilkleidung und Straßenschuhen von der Strecke abgedrängt wird. Dieser Kerl will sie vom Weiterlaufen abhalten, wird aber selbst von zwei anderen mitlaufenden Männern an der Seite von K. S. an der Ausführung dieser offenbar spontanen (und geradezu geschlechtsfeindlichen) Suspendierungsmaßnahme erfolgreich gehindert.
Das alles ist geschehen am 19. April 1967 beim American Marathon Race im Bundesstaat Massachusetts, heute besser bekannt als der traditionsreiche Boston Marathon, wo zu dieser Zeit – wie überall auf der Welt – Frauen bei einem solchen Rennen nicht zugelassen waren angesichts der großen Strapazen, die man ihnen allein aus medizinischen Gründen („ihnen könnte ja schließlich die Gebärmutter herausfallen!", S. 76) nicht zumuten wollte … bis K. S. den gleichsam irren wie klugen Entschluss fasste, es trotzdem zu versuchen. Sie hatte sich intensiv (zusammen mit und unter Anleitung von Männern!) gut vorbereitet und sich nur als „K. Switzer" unter den 733 marathonbereiten männlichen Startern angemeldet. Das war listig und lustig zugleich. Drei Dollar hatte das Ganze gekostet.
Dieser historische Lauf der „Marathon Woman" K. S. wird im Buch ausführlich in Kap. 7 beschrieben, davor geht es um die Vorbereitung und um die bisherige Sport- und Laufkarriere von K. S. auf kürzeren Distanzen, alles wird schön umrahmt von der Familiengeschichte. Phasenweise kommt einem bei der Lektüre der Eindruck, als sei sich K. S. selbst dabei als eine laufende Versuchsperson vorgekommen, zumal bekanntermaßen nie zuvor eine Frau nachweislich jene 42,195 km gerannt war.
Selbstzweifel, ob das Experiment glücken würde, waren da schon bei ihr angesagt: „Ich konnte mir trotzdem nie vorstellen, einen Marathon schnell zu laufen. Oder auch nur mit dem Vorsatz, ihn als WETTKAMPF (sic! D.K.) anzugehen. Ich glaubte nicht, dass für mich mehr drin war, als einen Marathon einfach nur durchzustehen. Das war mein Ziel geworden. Außer der vagen Vorstellung, dass ich mein ganzes Leben lang stark und gesund sein und laufen wollte, hatte ich keine sportlichen Ziele, die ich mit diesen 26 Meilen und 385 Yards verband" (S. 60f.).
Dieses Statement unterstreicht den mutigen Selbstversuch mit weitreichenden Konsequenzen, denn schließlich sah auch das olympische Wettkampfprogramm bis dato keine Langstreckenläufe für Frauen, geschweige denn einen Marathon vor. Das alles sollte sich nach dem Boston-Marathon von K. S. 1967 ändern. Die Revolution des Laufsports nahm ihren Lauf.
Noch einmal zurück zu dem alten Mann, der in Wirklichkeit John (genannt: Jock) Semple war und als Offizieller dem sechsköpfigen „Marathon Committee" beim Boston-Marathon angehörte: „Raus aus meinem Rennen! Zur Hölle mit Dir! Und her mit den Startnummern!" (S. 97) soll er K. S. angeschrieen haben. Das alles ist in unmittelbarer Nähe des mitfahrenden Pressebusses passiert. Die Fotosequenz (zu sehen auf S. 98) von Harry Trask und Boston Traveler ging um die Welt, die Startnummer 261 von K. S. „ist jetzt Symbol für Furchtlosigkeit angesichts widriger Umstände – für mich selbst wie für viele andere Frauen" (S. 99).
Mit der gescheiterten Disqualifikation von K. S. durch Jock S. erhöhte sich im Rennen selbst zunächst die Aufmerksamkeit der Presseleute, die einfach nur glaubten, es handele sich „um einen Studentenstreich, und wollten den Punkt, an dem ich aufgab, nicht verpassen" (S. 102). Der Punkt kam nicht, dafür die Ziellinie, die K. S. nach 4:20 Std. überquerte: „Meine Füße waren eine einzige Blutblase, was aber damals normal war … und als ich erst mal meine nassen Sachen abgelegt hatte, war ich eine sehr glückliche Marathonläuferin. Wir hatten es geschafft!" (S. 119).
Und was weiter? Die Entwicklung des Frauenlaufs ging mit dem allgemeinen Laufboom einher, der in den USA längst eingesetzt hatte und mit zeitlicher Verzögerung ab etwa Mitte der 1970er Jahre auch die Bundesrepublik erreichte. Dazu erfährt man bei K. S. im Buch beispielsweise, dass sich allein die Anzahl der Marathonläufe von 1969 auf 1970 in den USA fast verdoppelte.
Wichtig daran war: Frauen durften fortan offiziell bei einem Marathon starten. Fred Lebow, der kreative Renndirektor des New York City Marathon, veranstaltete am 3. Juni 1972 im Central Park sogar einen Mini-Marathon über sechs Meilen nur für Frauen: Das „war der erste Straßenlauf nur für Frauen in der Geschichte des Frauenlaufsports" (S. 185, siehe auch das Startfoto auf S. 189).
Im Jahre 1974 gab es die ersten amerikanischen Marathon-Meisterschaften für Frauen in San Mateo (Kalifornien). Schon im Oktober 1973 organisierte der legendäre Allgemeinmediziner Dr. Ernst van Aaken in Waldniel (Nordrhein-Westfalen) auf Anregung von K. S. die erste deutsche Meisterschaft im Frauen-marathon.
Nun musste nur noch das Internationale Olympische Comitee (IOC) überzeugt werden, den Marathon für Frauen endlich in das Olympia-Programm aufzunehmen. Auch hieran ist K. S. als engagierte Netzwerkerin hinter den Kulissen entscheidend beteiligt, bevor das Präsidium des IOC am 23. Februar 1981 beschließt, bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles erstmals Frauen über die Marathon-Distanz starten zu lassen.
Kleiner Exkurs: K. S. bleibt dem Marathon selbst natürlich als Aktive weiterhin verbunden. Ihre beruflichen Tätigkeiten, die jedoch ebenso mit der Mission Frauenlaufbewegung einhergehen, führt sie beizeiten auf Reisen 1972 auch nach Europa mit einem Stopp und journalistischen Auftrag bei den Olympischen Spielen in München: Was für ein schöner und fröhlicher Ort, schreibt sie sinngemäß an einer Stelle im Buch und bescheinigt damit, dass es den Organisatoren offensichtlich bestens gelungen war, die Nazi-Spiele von 1936 in Berlin auszulöschen.
Doch schon wenige Seiten weiter (vgl. 201 – 204) müssen wir dann von jenem schrecklichen terroristischen Überfall mit der Geiselnahme israelischer Sportler Kenntnis nehmen: „Mir war elend zumute. O Gott, wie mutig musste man sowieso schon als jüdischer Mensch in Deutschland sein und jetzt das! Und mir taten die Deutschen auch leid, sie hatten sich gewaltig angestrengt, um mit diesen Spielen ihren Ruf als Antisemiten loszuwerden" (S. 203).
Zurück zur Frauenlaufbewegung: Der Durchbruch in der Spitze mit der Aufnahme des Marathons bei Olympia geht einher mit dem Durchbruch des (weltweiten) Frauenlaufes in der Breite, den K. S. ebenso ankurbelt: Schließlich erhält sie von einem Kosmetik-Konzern den Auftrag, eine Art Exposé für eine Frauenlaufserie in den Metropolen verschiedener Erdteile zu entwickeln. Diese Läufe hatten in den 1980er Jahren ihre Premieren und sind längst vor Ort etabliert in Rio de Janeiro, Paris, Moskau etc.
Eine Schlüsselposition kommt dabei Berlin und Horst Milde, dem langjährigen Renndirektor des Berlin-Marathons zu. K. S. besucht ihn persönlich (u.a. auch beim New York City Marathon) und überzeugt ihn, 1983 einen 10 km Lauf nur für Frauen zu organisieren. Zur Streckenerkundung laufen beide zuvor gemeinsam im Tiergarten (dokumentiert mit dem Foto auf S. 381) und halten auf der Straße des 17. Juni vor dem Brandenburger Tor an. Hier sollte auf Vorschlag von Milde später der Start sein: „Ich konnte es nicht glauben: Ein zweihundert Jahres altes Bauwerk mit Symbolcharakter würde der Hintergrund zum Start unseres Rennens sein. Hier, auf unserer Seite, würden wir dem Geist der Freiheit und der Freude huldigen, wogegen nur wenige Meter weiter Zensur und Angst herrschten" (S. 382).
Abgesehen vom Sponsoring durch den Kosmetik-Konzern wurde mit diesen Frauenläufen ein völlig neuer Typus von Laufveranstaltungen kreiert: Frauen, aber „nur" Frauen aller Altersklassen und Leistungsstufen waren aufgerufen, hier teilzunehmen. Die Frauenläufe sollten Spitzenläuferinnen und Läuferinnen wie du und ich in einem Rennen vereinen: Die Siegerin eines solchen Wettkampfes musste demnach immer ein Frau sein … und eben nicht die erste Frau in einem Rennen, wo die Männer sowieso immer vorn lagen.
Die Frauenläufe sollten einen „femininen Touch" (S. 333) erhalten mit viel Blumen als Dekoration, mit modischen T-Shirts für alle Teilnehmerinnen, einer festlichen Atmosphäre, einen guten Büffet mit viel Obst und mit Schmuck zur bleibenden Erinnerung anstatt hässlicher Pokale etc. etc.
Die neuen Frauenläufe sollten für die Eliteläuferinnen noch dadurch attraktiver werden, dass sie seriell gewertet wurden. Für alle anderen wurden sie im weitesten Sinne sogar pädagogisch imprägniert, indem sie vom Veranstalter durch ein mindestens zehnwöchiges Trainings- und Begleitprogramm (z.B. Vorträge) an das Rennen herangeführt werden sollten. Und dann sollte es dem Sponsor wenigstens erlaubt sein, ein paar Pröbchen seiner Produkte an die teilnehmenden Frauen zu verteilen. So etwa sah im Kern das innovative Konzept von K. S. aus, das gleich beim Start Zigtausende von Frauen anzog. Heute sind daraus Zehntausende geworden – Tendenz steigend! Selbst wenn der Sponsor sich eines Tages vollend zurück-ziehen würde, die Läufe hätten auch ohne ihn weiter Bestand.
Zum Schluss: In den USA gibt es nach aktuellen Zählungen aus dem Jahre 2011 – auch das ist ein bemerkenswertes Faktum der Frauenlaufgeschichte – inzwischen mehr Läuferinnen als Läufer. Europa dürfte bald nachziehen. Die Marathon Woman ist daran nicht ganz schuldlos. Aber K. S. bleibt trotzdem bescheiden und weiterhin enthusiastisch: „Die Frauenlaufgeschichte ist noch in ihren Anfängen, denn es geht nicht nur um das Laufen an sich, es geht darum, wie es das Leben der Frauen verändert. Auch das der Männer übrigens" (S. 420).
So jedenfalls beginnt der letzte Absatz im Buch. Es wird mit Sicherheit nicht der letzte Beitrag von K. S. zur modernen Frauenlaufgeschichte gewesen sein. Wir dürfen also gespannt sein auf all die Ideen und Aktivitäten, die von ihr sonst noch kommen werden.
Wir sollten aber ebenso „Danke!" sagen für das, was diese am 5. Januar 1947 in Amberg (Bayern) geborene Tochter eines US-Majors für die weltweite Frauenlaufbewegung bisher schon geleistet hat: „Sie läuft weiterhin Marathon" steht im hinteren Klappentext.
Sie schreibt weiterhin Frauenlaufgeschichte – möge man (nota bene!) bitte ergänzen.
Prof. Dr. Detlef Kuhlmann
Der Beitrag ist erschienen im aktuellen Heft (2/2012) der Zeitschrift "SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft" (zu beziehen über den Verlag Die Werkstatt, Lotzestraße 22a, 37083 Göttingen).
Kathrine Switzer: Marathon Woman. Die Frau, die den Laufsport revolutionierte. Hamburg 2011: spomedis. 432 S.; 22,95 €