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19
06
2013

Felix Streng - Und plötzlich Athlet - Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ©Camera 4

Felix Streng – Und plötzlich Athlet – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

18.06.2013 ·  Felix Streng wollte nur eine Schularbeit über Behindertensport schreiben. Zehn Monate später läuft er deutschen Rekord über 100 Meter. Seine Premiere bei den Senioren soll aber bis 2014 warten.

Es waren die olympischen Tage des vergangenen Sommers, als der siebzehnjährige Felix Streng seine Eltern mit dem Abschied überraschte. Eher beiläufig war er auf eine Reise nach Leverkusen gegangen. Als er zurückkehrte nach Coburg, war er Leichtathlet, hatte einen Verein, eine neue Schule und ein großes Ziel: die Paralympics 2016 in Rio de Janeiro. Er hatte praktisch ein neues Leben. Und er war in Eile: Die Schule in Nordrhein-Westfalen begann drei Tage später.

Zwar ist Felix Streng 1995 ohne rechten Unterschenkel auf die Welt gekommen. Doch als er für eine Arbeit in der zehnten Klasse das Thema Behindertensport wählte, konnte er praktisch keine eigene Erfahrung einbringen. Weder hatte er sich, noch hatte seine Familie ihn je als Behinderten betrachtet. Seit er laufen lernte, trägt er eine Prothese. Doch sie war nie Gegenstand längerer Betrachtung; nicht in der Scheune, die sein Vater mit Matten, Seilen und Reckstange zu einer veritablen Turnhalle aufgerüstet hatte; nicht beim Badminton, nicht bei der Akrobatik und nicht beim Parcours.

Auf seinem Mobiltelefon hat der junge Mann ein Foto gespeichert, das ihn im einarmigen Handstand auf der Außenmauer einer Industrieanlage zeigt. Ein Athlet, der es auf Reisen durch Deutschland furchtlos mit Schwerkraft und Höhe aufnimmt. In Coburg radelte er zur Schule, und weil er lange Zeit keine kurzen Hosen trug, wussten viele Klassenkameraden gar nicht, dass er eine Prothese braucht. „Ich fühle mich nicht behindert“, sagt Felix Streng.

 

„Er hat ein Riesenpotential.“

So entdeckte er erst bei seinen Schulrecherchen zum Behindertensport ein neues Universum. Er stieß auf die Leichtathletik-Hochburg Leverkusen. Er schrieb eine Mail, verabredete einen Besuch und überzeugte. „Im Weitsprung kam er auf Anhieb in die Nähe der C-Kader-Norm“, erinnert sich Abteilungsleiter Jörg Frischmann. „Er hat ein Riesenpotential.“ Noch während der Visite organisierten Frischmann und Trainerin Helena Hermens einen Platz an der Schule und ein Zimmer im Internat. Felix wiederum überzeugte innerhalb von vierundzwanzig Stunden seine Eltern davon, dass er sofort umziehen müsse.

Eigentlich ist Felix Streng Turner. Doch wie soll man einen Sprung stehen, wie es die Regeln vorschreiben, wenn man nur einen Fuß hat? Paralympisches Turnen gibt es nicht, Parcours kennt keine Wettkämpfe. Und Para-Badminton entdeckte Streng erst ein halbes Jahr vor seinem Wechsel nach Leverkusen. Die Paralympics entdeckte er kurz danach. Denn just als er kam, brach Frischmann auf, um bei den Paralympics in London dem Fernsehen als Experte zu dienen, und Trainerin Helena Hermens reiste ab ins paralympische Jugendlager.
Premiere im Jahr des Abiturs

Felix Streng trainierte, wie er es gewohnt war, mit den Nichtbehinderten, und vor dem Fernseher ließ er sich von der Magie der Paralympischen Spiele verzaubern. Er sah, er erlebte am Bildschirm mit, wie Alan Oliveira im 100-Meter-Finale den berühmten Oscar Pistorius besiegte. Auch deshalb war er aufgeregt, als er am vergangenen Wochenende auf der Bahn neben dem Brasilianer startete im offenen Finale über 100 Meter bei der internationalen deutschen Meisterschaft in Berlin.

Hinter dem Paralympics-Sieger und dessen Landsmann Edson Pineiro lief Streng in 11,55 Sekunden deutschen Rekord. Auch mit 23,69 Sekunden über 200 Meter zeigte er, dass er die Besten der Welt herausfordern kann. Obwohl er mit diesen Zeiten die Norm für die Weltmeisterschaft in Lyon erreicht hat, bleibt es wohl dabei, dass er an der Junioren-WM in Puerto Rico teilnehmen wird. Seine Premiere bei den Senioren soll er bei der Europameisterschaft 2014 geben, im Jahr seines Abiturs.

Seine Familie, Mutter, Vater und Schwester, besuchten in Berlin zum ersten Mal einen Wettbewerb von Felix. „Sport war immer eine große Sache für ihn“, sagt seine Mutter, Lydia Fuchs. „Vielleicht ist seine Herausforderung sein Körper.“ So ehrgeizig trainierte der junge Mann vom ersten Tag in Leverkusen an, dass die Lehrer bald verlangten, er möge nicht alle Energie für den Sport aufwenden.

Jetzt gilt er im Internat als Vorbild für schulische Leistung. Sein erstes Trainingslager spornte ihn zu solchem Engagement an, dass er sich verletzte und zweieinhalb Monate ausfiel. Erst im Januar konnte er wieder trainieren. Weniger als ein halbes Jahr Vorbereitung blieb für den Rekord. „Seine Entwicklung ist sensationell“, findet Frischmann.

Man kann sich gut vorstellen, wie der Abteilungsleiter und Trainerin Helena Hermens in dem gewinnenden Jungen den Siegertyp von morgen erkannten. Er schien auf eine Chance wie diese gewartet zu haben. „Dies ist eine Welt mit guter Konkurrenz, die mich anspornt“, sagt er über den paralympischen Sport. „Die Leute leisten krasse Sachen.“

Seit er rennt und springt, sagt er, müsse er sich – wie alle paralympischen Champions – viel und intensiv mit seiner Prothese beschäftigen. Daran muss er sich erst gewöhnen; wie überhaupt an seine Zugehörigkeit zum sogenannten Behindertensport. „So ganz den Durchblick habe ich noch nicht“, verrät er.

 

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 18. Juni 2013

author: GRR

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