Volker Schlöndorff beim Havellauf - Foto: Bernd Hübner
BERLIN-MARATHON laufen mit Volker Schlöndorff – Das Vorwort dem Buch „Lit. Berlin-Marathon“ von Detlef Kuhlmann (Hg.)
Dauerlauf hieß es damals noch, Marathon kam nur im Griechischunterricht vor. Doch das Laufen fing damals schon an, in der Nachkriegszeit, jeden Morgen aus unserer Hütte im Wald zwei Kilometer zur Bushaltestelle, immer im Sprint, um es noch rechtzeitig zu schaffen.
Nachmittags dann wieder Laufen, auch durch den Wald, beim Indianerspielen, stundenlang, Kilometer wurden noch nicht gezählt. Jedenfalls muss aus dieser Zeit meine Lust an der Bewegung stammen sowie die Grundkondition des Körpers. Denn erst Jahrzehnte später überredete mich Marius Müller-Westernhagen zum täglichen Jogging: „20 Minuten am Tag reichen."
So entdeckte ich immerhin an der Isar in München den Wechsel der Jahreszeiten, das Brüten der Enten im Frühjahr, das erste Probeschwimmen der Kleinen, den Abflug im Herbst. Dazu den Wechsel des Laubes und vieles mehr, was jeden Tag zu einem Besonderen werden ließ, denn nun wusste ich immer, auch ohne Blick auf den Kalender, wo im Jahr wir gerade angekommen waren.
Das waren kleine Läufe, die mir heute nur noch ein schwaches Lächeln abverlangen. Zum Marathon kam ich spät, mit 60. Heute hab ich 15 ganze und unzählige Halbe hinter mir und bin besonders stolz auf die Goldene Nadel – zehn Jahre hintereinander mindestens einen pro Jahr -, denn ein Jojo-Effekt-Läufer (keine Namen!) wollte ich nie sein. Filme und Kunst und vieles im Leben macht man ja, um anderen etwas zu beweisen. Laufen ist nur für einen selbst. Und Marathon hat mich gerettet.
Auch Erfolgreiche fallen mal in ein Loch, manchmal sogar in ein besonders tiefes. Plötzlich passierte mir das. Kein Projekt, kein Film vier Jahre lang, mit 60 kann das der Anfang vom Ende sein. Eines Samstags kaufte ich auf dem Webermarkt in Babelsberg ein, meine kleine Tochter auf der Schulter; ein Verkäufer aus dem Spreewald bot ihr eine Gurke an und fragte, ob er dem „Opa" auch eine geben solle.
Als ich begriff, wen er meinte, beschloss ich, etwas zu tun. Ich begann zu laufen. Nach einer ersten Runde um den Griebnitzsee, keine zehn Kilometer, sah ich noch älter aus als zuvor. Bei der Einweihung des SONY-Centers am Potsdamer Platz, im Mai 2000, saß ich neben einer aparten Blondine und es stellte sich heraus, dass sie Marathonläuferin war. Ich erzählte ihr von meiner New Yorker Zeit und wie ich die erbärmlichen, in knisternde Folien eingewickelten Gestalten, die nach dem Marathon mit der U-Bahn nach Haus fuhren, bewundert hatte. Helden für einen Tag, jeder Einzelne von ihnen.
„Kommen Sie doch mal zum Training", sagte Evelin Schlieffer, meine Nachbarin, mit der ich inzwischen ein Dutzend Marathons gelaufen bin. Der erste, im September des gleichen Jahres, führte am Kino International vorbei, wo ein Riesenplakat meinen Film „Die Stille nach dem Schuss" ankündigte.
Am gleichen Abend massierte Bibiana Beglau, die Hauptdarstellerin, mir die Waden, auf der Fahrt zur Premiere nach Halle. Natürlich hatte ich zu wenig trainiert, nur mental war ich fit. Aus lauter Angst, mich auf der Strecke zu langweilen, hatte ich mir vorgenommen, mir unterwegs jeweils die Geschichte der Berliner Straße, durch die wir gerade kamen, zu erzählen.
Die des 17. Juni war nicht schwer, der Kampf im Zeitungsviertel beim Kapp-Putsch schon unerwarteter, aber auch die wilden Zwanziger am Nollendorfplatz, Metropolis Premiere am Ku'damm; es gab eine ganze Menge Stichworte, die ich mir vorbereitet hatte. Das Verblüffendste war am nächsten Tag im Auto durch Berlin zu fahren, Straßenecken wieder zu erkennen, an denen ich gestern noch gelitten hatte, die mir jetzt aber wie alte Bekannte vorkamen.
Nach 15 Jahren hat sich das Stadtbild für mich vollkommen verändert. Ich sehe es nur noch aus der Wahrnehmung des Läufers, auch am Steuer, und wundere mich, wie groß oder klein mir dieser oder jener Kiez vorkommt, erinnere mich, wo die besten Bands waren, wo die beste Stimmung, wo die Langweiler standen oder gar keine und wo Richard von Weizsäcker sich beim sonntäglichen Spaziergang wunderte: „Was machen Sie denn hier?", als ich an ihm vorbeilief.
Ich bin kein Guru der Laufbewegung, aber heute würde ich Montaignes Satz: „Ich kenne kein Leid, das eine Stunde Lektüre nicht überwinden könnte" abwandeln in: „ … das eine Stunde Laufen nicht heilen könnte". Wut und Depression haben keine Chance gegen einen Waldlauf. Ich schaue in die Wipfel der Bäume, Licht und Schatten fällt durch das Geäst, und alle Unzufriedenheit fällt von mir ab.
Vier Jahre ohne Arbeit auszuhalten, ist mir nur dank dieser Therapie gelungen. Ich laufe und laufe, zu Hause oder auf Reisen, immer die Schuhe im Gepäck, am Hafen von Mar del Plata an stinkenden Seelöwen vorbei, gefolgt von streunenden Hunden in Alma Ata, um den Kaiserpalast in Tokyo, auf einem endlosen Damm in Holland, über florentinische Hügel, durch verpestete Straßen in Sofia, an der Binnenalster in Hamburg, am Strand von Santa Monica, bei Trondheim in Norwegen, auf gepflegtem Rasen in Oxford, an der irischen Küste, in den Dünen bei Montauk … bei der Aufzählung schwindelt mir selbst, aber Meter für Meter kann ich mich an diese und andere Strecken erinnern, bin sie gelaufen, um bei der Rückkehr nach Berlin fit zu sein für den Marathon.
Auch diese fernen Strecken gehören mir, jede mit ihrem Licht und Wetter, mit dem Schweiß und der Lust, die mich oft beide Arme hochreißen und einen Freudenschrei ausstoßen lässt. Das Trainieren in Erwartung des großen Tages ist eigentlich das Schönste.
Aber wenn der Startschuss fällt und man untergeht in der Menge, kommt noch ein anderes wunderbares Gefühl dazu, nämlich dass man jetzt, an diesem Sonntagmorgen, nirgendwo anders sein möchte und Nichts anderes tun möchte, als eben hier jetzt los zu laufen.
Volker Schlöndorff, Oscar-Preisträger und Marathonläufer
Entnommen: Detlef Kuhlmann (Hg.), Lit. Berlin-Marathon. Texte von der Strecke. Copyright: Arete Verlag, Hildesheim 2013.
arete Verlag
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