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19
05
2014

„Dieser Unfall der Natur war Allgemeinwissen“.

Er und sie in einer Person – Die Olympiasiegerin Stella Walsh war ein Mysterium ihrer Zeit – ein Dokumentarfilm befasst sich mit ihrem Doppelleben – Michael Gernandt in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Vier Tage bevor John Lennon in New York ermordet wurde, am 8. Dezember 1980, geschah in Cleveland (US-Bundesstaat Ohio) ein anderes entsetzliches Verbrechen. Zwei Männer überfielen vor Uncle Bill`s Discount Department Store eine Bürgerin der Stadt. Die Gangster hatten es auf die Geldbörse ihres 69 Jahre alten Opfers abgesehen, aber nicht mit dem Widerstand der trotz ihres Alters athletischen Seniorin gerechnet.

Zeit ihres Lebens gewohnt, sich zur Wehr zu setzen, packte die kräftige Frau zu, die Angreifer gerieten in Panik, einer zog eine Waffe und drückte ab. Ohne Beute rannten beide davon. Drei Stunden später erlag die Überfallene ihren Verletzungen. 

Die Beerdigung der Frau fand am Todestag von Lennon statt. Die Berichte von der Trauerfeier in Clevelands Medien verdrängten die Nachricht vom Tod des Beatle-Genius aus den vordersten Schlagzeilen – die Ermordete war die prominenteste Bewohnerin der Stadt: Stanislawa Walasiewicz alias Stella Walsh, Olympiasiegerin 1932 im 100-m-Lauf und 1936 noch Mal mit Silber dekoriert, Inhaberin von 14 offiziellen und 23 nicht ratifizierten Weltrekorden. Walsh galt neben dem Multitalent Babe Didrikson als die bekannteste Frau im US-Sport der 1930er-Jahre.

 

Kurios: Sie war gar keine Amerikanerin. 

 

Im Jahr ihrer Geburt 1911 in Polen mit den Eltern nach Cleveland ausgewandert, wurde ihre Einbürgerin in die USA Jahrzehnte hinausgeschoben, bei internationalen Rennen vor allem in Europa siegte sie als Stanislawa Walasiewicz unter polnischer Flagge, unter anderem 1938 zweimal bei der Europameisterschaft in Paris.

Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele 1932 in Los Angeles hatte sie ihren Antrag auf den Erhalt der US-Staatsbürgerschaft zurückgezogen und sich für den Pass ihres Geburtslands entschieden, das ihr eine berufliche Perspektive in Aussicht stellte; der Bundesstaat Ohio sah sich während der Großen Depression dazu nicht in der Lage. Matt Tullis, Journalistik-Professor an der Universität in Ashland (Ohio) und vertraut mit der Walsh-Biografie, schrieb 2013: „Ihre Entscheidung zugunsten Polens hatte erheblichen Einfluss auf ihren Ruf als US-Sportlerin: Liebling von Cleveland, ausländische Läuferin außerhalb dieser Gemeinde“.

 

Stella Walsh führte ein transatlantisches Doppelleben. 

 

Von einem zweiten Doppelleben, das ihre vielseitige Sportlaufbahn im Sprint, im Weitsprung (Weltrekord, erste 6-m-Springerin), sogar im Diskuswurf (Olympiasechste) und ihrer Wurfkraft wegen im Baseball in ein diffuses Licht tauchte, erfuhr die Öffentlichkeit erst am Tag vor der Beerdigung: Stella war nicht nur Frau, sie war auch Mann, ein medizinisches Zwitterwesen, ein Hermaphrodit. Durch die Indiskretion des Pathologen war Walshs Autopsieergebnis zu zwei lokalen TV-Stationen gelangt und das Echo folglich gewaltig. 

Zufällig ist nun der junge Verlagslektor und nebenberufliche Dokumentarfilmer Rob Lucas, 35, aus Cleveland bei seiner Arbeit auf die unter Sporthistorikern natürlich bekannte Geschichte der Stella Walsh gestoßen. Von dem Thema fasziniert, stellte Lucas eine Kurz-Dokumentation zusammen, mit der er in dieser Woche beim Filmfestival in Cannes auftauchen wird. Die Erlaubnis, sein Werk dort zu promoten, besitzt der Amerikaner. 

34 Jahre nach dem Mord an Walsh ist deren Schicksal den Menschen in Ohio durch ein Interview mit Lucas im Plain Dealer, der größten Tageszeitung von Cleveland, somit wieder bewusst geworden:
auch das Gewisper damals um die Sportlerin mit den vielen Muskeln und der männlichen Physiognomie; die despektierlichen Spitznamen „Stella the Fella (Kerl)“ und „Stier von Montana“, angelehnt an den Künstlernamen des Ringers Lewis Montagna; die meist erfolgreich für sie endenden Bar-Duelle im Armdrücken mit Männern; die 100-m-Rennen in Europa gegen Männer.

Jenes im August 1934 in Warschau endete mit Weltrekord (11,7 sek.) für Walsh, bis heute anerkannt vom Weltverband IAAF. Kommentar dazu in einem Statistikkompendium der IAAF: „Böse Zungen könnten sagen, dies seien genau die Rennen, in die 'sie` gehört“. Erst 2011, ausgelöst durch den Fall der 800-m-Weltmeisterin von 2009, Caster Semenya, fand die IAAF überzeugende Regeln für Sportler wie Walsh. 

Die polnische Gemeinde in Cleveland führte 1980 einen verzweifelten Kampf gegen die Rufschädigung von Walsh, sogar einen Untersuchungsausschuss im Ohio-Kongress über die Rolle der TV-Sender wollte sie erzwingen. Als zwei Monate nach dem Tod die physikalische Deformation von Stella offiziell bestätigt wurde, schwand indes der Widerstand der Walsh-Freunde.

Ihr Sprecher gab zu: „Dieser Unfall der Natur war Allgemeinwissen“. An ihre Seite stellte sich auch Chefpathologe Samuel Gerber: „Sozial, kulturell und juristisch war Stella Walsh 69 Jahre als Frau akzeptiert“.

In einem misstrauischen Umfeld ein „Leben als sie selbst“ (Matt Tullis) gelebt zu haben, war am Ende der größte Sieg der Stella Walsh alias Stanislawa Walasiewicz.               

 

MICHAEL GERNANDT in der Süddeutschen Zeitung, Freitag, dem 16. Mai 2014 

author: GRR

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