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05
2014

2011 IAAF World Outdoor Championships Daegu, South Korea August 27-September 5, 2011 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET

Laufen, wo andere Urlaub machen – Michael Reinsch, Nassau in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

23.05.2014 – Das Glück ist wechselhaft, der Wechsel aber ist beständig. So jedenfalls stellen sich das die deutschen Sprinterinnen und Sprinter vor, die an diesem Wochenende in Nassau auf den Bahamas ihre karibischen Wochen mit einem Wettkampf beenden und krönen wollen, von dem sie gar nicht so genau wissen, wie sie ihn einordnen sollen. „Das ist schon eine Weltmeisterschaft“, sagt etwa Yasmin Kwadwo über die World Relays, „das hat einen hohen Stellenwert.“

Mit dem deutschen Team, den Europameisterinnen auf der Sprintstrecke von Helsinki 2012, ist sie zu den erstmals ausgetragenen Staffelwettbewerben über jeweils vier Mal 100, 200, 400, 800 und 1500 Meter aus Florida eingeflogen. Ihre Mannschaftskameradin Verena Sailer gibt sich jedoch distanziert: „Ich kann das nicht einordnen. Das gab‘s noch nie, und es findet sehr früh im Jahr statt“, sagt die Europameisterin von Barcelona 2010 über den neuen Wettkampf: „Unser Saisonhöhepunkt ist die Europameisterschaft in Zürich im August.“

Nicht in Urlaubsfeeling verfallen

Die Unterbringung der gut sechshundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem der famosen Strände im Westen von Nassau tut ein Übriges: „Man muss aufpassen, dass man nicht in Urlaubsfeeling verfällt“, warnt Verena Sailer.

Selbstverständlich wird sie, erst einmal auf der Bahn, beweisen wollen, dass sie nicht nur zu den besten Sprinterinnen der Welt gehört. Sie und ihr Team werden mit perfektionierter Stabübergabe nicht nur Sekundenbruchteile, sondern Sekunden auf die Allerbesten gut zu machen versuchen. Wenn dann dem ein oder anderen Star der Stab entgleiten sollte, wollen die Deutschen zu Stelle sein.
 
„Staffelwechsel“, hat Bundestrainer Thomas Kremer einmal gesagt, „sind eine eigene Disziplin.“ In Sekundenbruchteilen so loszulaufen, dass die heranstürzende Läuferin den Stab sicher in die Hand der nächsten drücken kann, bedarf jahrelangen Trainings. Für den Vorsprung durch Technik oder zumindest die Vermeidung von Rückstand müssen die einzelnen Talente noch dazu den unterschiedlichen Anforderungen des Wettbewerbs zugeordnet werden: Start in die Kurve, der lange Lauf von mehr als 120 Meter auf der Gegengeraden, die schnelle zweite Biege und dann die Zielgerade, auf der sich, wenn die Kurven-Vorgaben ausgeglichen sind, die Schlussläuferinnen und -läufer Schulter an Schulter miteinander messen.

Obwohl Staffeln stets den stimmungsvollen Höhepunkt und Abschluss von Meisterschaften bilden, sind diese leichtathletischen Mannschaftssportarten rar in Europa. Bei zwei, drei Sportfesten in Deutschland, bei der Team-Europameisterschaft, neuerdings bei einigen Sportfesten der Diamond-League hat die Sprint-Maschinerie Nationalstaffel Gelegenheit, in Fahrt zu kommen. Dabei gelingt ihr das immer besser. Die Frauen werden in Zürich zur Titelverteidigung antreten, die Männer mit ihrer Silbermedaille als erste Herausforderer der vor zwei Jahren siegreichen Niederländer.

„Unsere Egos zurückgestellt“

So ausgeklügelt ist das System der Deutschen inzwischen, dass die Trainer anderer Länder sie im Trainingslager ausgiebig filmen. Über die männlichen Sprinter sagt Thomas Kurschilgen, der Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes: „Die deutsche Staffel ist aus dem Dornröschenschlaf erwacht.“

Bei der WM des vergangenen Jahres in Moskau kam sie auf 38,04 Sekunden. Bei den Olympischen Spielen von London wäre diese Zeit mit der Bronzemedaille belohnt worden. In Moskau reichte sie nur für Platz vier.

Sechs Wochen dauerte das Trainingslager der deutschen Sprinter in Florida, und neben der Zuversicht, sich weiter gesteigert zu haben, ist auch der Zusammenhalt gewachsen. „Wir haben uns geholfen, haben unsere Egos zurückgestellt und Freundschaften entwickelt“, sagt Julian Reus, der deutsche Meister. „Wenn im Sommer die Wettkämpfe kommen, brauche ich das nicht.“

Die Relays von Nassau sind ein guter Abschluss der Zeit des Miteinanders. „Wir schließen die sechs Wochen mit einem Höhepunkt ab“, sagt Lukas Jakubczyk,
der bei einem Wettkampf während des Trainingslagers in 10,07 Sekunden dem deutschen Rekord eine Hundertstelsekunde nahe kam. „Wir können zeigen, was wir erarbeitet haben.“ Zudem gibt es großzügig Geldprämien vom Verband. „Ich frage mich“, sagt Julian Reus, „ist man Weltmeister, wenn man hier gewinnt?“

Ist man leider nicht. Doch wer das Finale erreicht, und das ist das Mindestziel der Deutschen, der darf bei der Weltmeisterschaft in Peking 2015 starten.

 

 Michael Reinsch, Nassau in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 23. Mai 2014

author: GRR

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