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05
10
2014

Die beiden Erstplatzierten des Berlin-Marathons 2014 zusammen mit Racedirector Mark Milde (Mitte). Kimetto (links) lief neuen Weltrekord im Marathon, Mutai (rechts) über 30 km. ©Helmut Winter

41. BERLIN-MARATHON 2014: Nach 7377 Sekunden im Ziel – Der Kenianer Dennis Kimetto läuft als erster Mensch einen Marathon unter 2:03 Stunden – Helmut Winter berichtet

By GRR 0

Für jeden, der ermessenen will, mit welchem Tempo der Kenianer Dennis Kimetto durch die Straßen der Hauptstadt zum neuen Weltrekord im Marathon sauste, der sollte sich die Laufschuhe schnüren und eine Laufbahn in seiner Nähe aufsuchen. Um mit dem Kenianer mithalten zu wollen, müsste man eine Runde (400 m) in knapp unter 70 Sekunden zurücklegen, auch für engagierte Freizeitsportler kein einfaches Unterfangen.

Nur das der Kenianer dieses Tempo noch auf weiteren gut 104 (!) Runden durchhalten würde. Nach 1000 Metern (2 ½ Runden) würde die Uhr 2:54,8 zeigen, das schaffen selbst völlig ausgeruht nur noch die besten Jungen eines Gymnasiums.

Berlin – Plaster für Weltrekorde

Dieser Vergleich deutet an, auf welchem Niveau die Männerspitze beim 41. Berlin-Marathon agierte, als man die Jagd auf den Weltrekord erfolgreich absolvierte. Mit seiner offiziellen Siegerzeit von 2:02:57 durchbrach Kimetto in guter Berliner Tradition eine weitere Schallmauer im Marathonlauf.

1998 schaffte überraschend der Brasilianer Ronaldo da Costa in 2:06:05 als erster Mensch, schneller als mit einem Schnitt von 3 Minuten/km zu laufen. Der große Paul Tergat lief bei der Taufe der bis heute genutzten Strecke mit 2:04:55 erstmals unter 2:05, und sein großer Widersacher Haile Gebrselassie blieb dann 5 Jahre später sogar unter 2:04, wenn auch mit 2:03:59 denkbar knapp. Im Jahr 2014, also sechs Jahre später, wurde nun auch die 2:03er-Barriere unterboten.

Der „2 Stunden-Marathon“

Dass eine derartige Fabelzeit Diskussion und Analysen in vielfältiger Form motiviert, versteht sich von selbst, vieles allerdings, was man zu hören oder zu lesen bekommt, ist inhaltlich kaum zu halten oder sogar schlichtweg falsch. Schon bei der Pressekonferenz nach Kimettos Lauf gab es die immer wieder aufkommende Diskussion um den „2 Stunden Marathon“.

Renndirektor Mark Milde gab diesbezüglich die einzig sinnvolle Antwort, dass mehr als ungesicherte Spekulationen zu dieser Thematik nicht zu machen sind und Vorhersagen kaum sinnvoll erscheinen. Da liegt er völlig richtig. Viel mehr ist übrigens kürzlich auf einer kleinen Konferenz zu diesem Thema auch nicht herausgekommen.

Wenn man sieht, wie schwer es schon ist, die 2 Stunden in einem Marathon-Ekiden zu unterbieten, wo sich 5 Läufer die Gesamtdistanz teilen, dann kann man ermessen, wenn dies ein Einzelkämpfer erreichen will. Einige interessante Aspekte zu diesem Thema folgen unten.

Der Weg zum Weltrekord

Zunächst schauen wir aber noch einmal auf den Lauf der Männer beim Berlin-Marathon zurück, der in der Tat in Leistungsregionen führte, die im Vorfeld in dieser Dimension nicht unbedingt zu erwarten waren. Bis gut 15 km war man im Zeitplan recht deutlich hinter einem WR-Tempo zurück, erst danach begann eine beispiellose Aufholjagd, an der bis 30 km die beiden Tempomacher Kirwa und Ronoh (beide aus Kimettos Trainingsgruppe) maßgeblichen Anteil hatten.

Danach war es vor allem Emmanuel Mutai, der noch einmal das Tempo erhöhte; mit nahezu unfassbaren km-Abschnitten von 2:49, 2:49, 2:51, 2:46 und 2:49 lag die Männerspitze bei 34 km auf Kurs von 2:02:39. Diese 5 km legte man in grandiosen 14:04 zurück (siehe auch die Grafik der projizierten Endzeiten als Funktion der Distanz).

Chicago lässt grüßen

Dabei schien sich der Rennverlauf vom letztjährigen Chicago-Marathon zu wiederholen, wo Mutai und Kimetto an dieser Stelle gleichfalls auf Rekordkurs lagen, dann aber auf der langen Geraden der South Michigan Avenue zum Ziel entscheidende Zeit verloren. In Berlin 2014 war das anders.

Spätestens nach 1:33:47 für die 20 Meilen am Fehrbelliner Platz war klar, dass auf den restlichen 10 km alles drin war. Und so kam es dann auch; wie in Chicago konnte sich Kimetto auf den letzten 3 km von Mutai absetzen, bei 40 km nach 1:56:28 deutete sich sogar eine Zeit unter 2:03 Stunden an. Und mit tüchtigen 6:29 für den Schlusspart lautet die neue globale Bestmarke 2:02:57.

Dies wurde auch deshalb erreicht, weil Kimetto die letzten 10 km in flotten 29:11 lief und einen eindrucksvollen „negativen Split“ realisierte: erste Hälfte in 1:01:45, zweite Hälfte in 1:01:12. Nebenbei unterbot er auch die zuvor schnellste Zeit seines Trainingspartners Geoffrey Mutai, der auf dem Bestzeiten untauglichen Kurs in Boston 2011 2:03:02 lief. Vor zwei Jahren war dieser Mutai in Berlin am Start und gewann in einem eigenartigen Finale ganz knapp gegen den Debütanten … Dennis Kimetto.

Der Jackpot der World Marathon Majors

Nun könnte Mutai diesbezüglich Wiedergutmachung betreiben, denn neben den 120.000 Euro an Preisgeld in Berlin führt Kimetto mit 75 Punkten das Ranking der World Marathon Majors an. Und nachdem der kleine Äthiopier Tsegaye Kebede in Berlin einbrach und in enttäuschenden 2:10:27 nur Neunter wurde, kann nur noch der Ex-Weltrekordler Wilson Kipsang (aktuell 51 Punkte) bei einem Sieg in New York City mit 25 Punkten an Kimetto beim Kampf um die 500.000 US$ vorbeiziehen.

Da er dort auf Geoffrey Mutai trifft, kann dieser – wie Herbert Steffny auf seiner Homepage ausführt – mit seinem dritten Sieg in Folge Kimetto einen weiteren Geldsegen bescheren, den dieser in seiner kenianischen Heimat in Immobilien investieren möchte. Das wäre dann eine salomonische Wiedergutmachung für das Entgegenkommen Kimettos im Kampf um den WMM-Jackpot vor zwei Jahren …

Der Namensvetter Emmanuel Mutai blieb mit 2:03:13 ebenfalls noch deutlich unter der Bestmarke, Platz 3 ging an den Äthiopier Abera Kuma in 2:05:56. Einen der Mitfavoriten, Geoffrey Kamworor, der lange mit Kimetto und Mutai das Führungstrio bildete, belegte in guten 2:06:39 Platz 4, brach aber am Ende stark ein.

Seine 8:06 Minuten von der 40 km-Marke ins Ziel waren deutlich langsamer als das Finish der besten Frauen. Selbst die deutsche Topläuferin Anna Hahner war dort mit 7:36 deutlich schneller, lag aber am Ende trotzdem fast exakt 20 Minuten hinter dem Kenianer.

Das Finale Kimetto vs. Mutai war in der Tat ein offener Schlagabtausch, der an Dramatik kaum zu überbieten war, und das im Regime eines Weltrekordtempos. Und diese Sternstunden des Laufsport wurden eindrucksvoll in einer gelungenen Fernsehübertragung an die Zuschauer transportiert. Schade, dass insbesondere die TV-Medien den Marathonlauf immer noch wie einen Aussätzigen behandeln.

Kompliment auch an den sportlichen Leiter in Berlin, Mark Milde, der mit der Verpflichtung der beiden Stars vom letztjährigen Chicago-Marathon wieder einmal das richtige Händchen hatte. Dass dann das Wetter mit nahezu idealen Bedingungen (im Gegensatz zum letzten Jahr kaum Wind) auch noch mitspielte, war dann das Glück des/der Tüchtigen.

Mit Weltrekord Nr.6 in Serie verwaltet mittlerweile die schnelle Berliner Strecke den Weltrekord der Männer im Monopol. Durch die beiden schnellen Zeiten der beiden Erstplatzierten unter dem alten Weltrekord rutschte das Zehnermittel der Berliner mit 2:03:54,7 auf unter 2:04 Stunden. Solche Zeiten können auch Experten nur noch mit Staunen registrieren.

Großartige Leistungen auch bei den Frauen

Bei den Frauen sind solche Entwicklungen aktuell eine Illusion, dazu ist der Fabelrekord der Paula Radcliffe einfach zu gut. Realistischer Weise steckte man sich „bescheidenere“ Ziele wie den US-Rekord von 2:19:36 und den Kursrekord von 2:19:12. Am Ende wurden beide Bestmarken verfehlt, hervorragenden Sport gab es aber trotzdem.

Shalane Flanagan (USA) war geführt von den großartigen Tempomachern Vail und Watson bis hinter 30 km auf Kurs zu beiden Bestmarken, dann ließen die Kräfte etwas nach und die verhaltener begonnenen Äthiopierinnen stürmten von hinten an ihr vorbei. Aber auch die wurden am Ende schwächer und verpassten die Schallmauer bei den Frauen von 2:20 Stunden. Tirfi Tsegaye verbesserte sich als Siegerin nach Platz 2 vor zwei Jahren um eine Minute und gewann in 2:20:18, Shalane Flanagan wurde

Dritte nach 2:21:14, auch dies eine Steigerung ihrer Bestleistung. Beachtlich war auch das Resultat der besten deutschen Läuferin, mit strahlendem Gesicht steigerte sich Anna Hahner auf 2:26:44. Damit führt sie die deutsche Jahresbestenliste um Längen an, und auch in der ewigen Bestenliste kletterte sie mit Platz 7 weiter nach oben.

Im Nachgang gab vor allem der neue Rekord bei den Männern ausgiebig Anlass zu Spekulationen, insbesondere zum 2 „Stunden-Marathon“. Angemerkt wurde auch, dass es nun wieder an den Frauen wäre, sich weiter zu verbessern. Da wurde mehr Unsinn gesagt und geschrieben als simple Fakten analysiert.

Wie man die Dinge auch dreht, der Marathon-Weltrekord bei den Frauen durch Paula Radcliffe von 2:15:25 ist nach wie vor eine Fabelzeit. Dass sich aktuell die Weltspitze der Frauen schwer tut, auch nur in die Nähe dieser Marke zu kommen, hat einen schlichten Grund: Die Zeit ist einfach unfassbar gut.

Warten auf eine „männliche Paula“

Und wie außergewöhnlich diese Zeit ist, veranschaulichen simple Extrapolationen von den Weltrekorden auf den Unterdistanzen zum Marathon, die auf Leistungsfaktoren aus dem Quotienten der jeweiligen Zeiten basieren (je näher sich dieser an den geometrischen Faktor annähert, je besser ist die Leistung).

Wegen der einmaligen Leistung von Paula sind diese Faktoren bei den Frauen alle kleiner (besser). Und wie! Würde man bei den Männern das relative Leistungsvermögen der Frauen (d.h. von Paula) übernehmen, läge der Weltrekord (s. Tabelle) im Bereich von 2 Stunden! Das bedeutet in anderen Worten, eine „männliche Paula“ wäre schon heute in der Lage, an diese Traummarke des Marathonlaufs heranzulaufen.

Wenn Kimetto und Co. auch noch Steigerungspotential erwarten lassen, in Sicht scheint so ein Ausnahmeathlet aktuell noch nicht. Dabei ist durchaus interessant, dass Kimetto auf dem nicht einfachen Kurs der BIG25 Berlin bei seinem 25 km Weltrekord in 1:11:18 schon recht nahe mit dem Tempo eines 2 Stunden-Marathons absolvierte. Er dürfte somit mit den Anforderungen an so ein Unterfangen durchaus vertraut sein.

Interessant ist diese Analyse auch in umgekehrter Richtung, d.h. eine Einordnung der Frauenzeiten basierend auf dem Leistungsniveau der Männer. Da bringt auch die tolle Zeit von Kimetto die Dinge nur unwesentlich voran. Danach müsste die Weltspitze im Bereich von knapp unter 2:20 Stunden agieren, was ja aktuell auch die Realität ist.

Leider hat bei den Frauen Paula bis auf nicht absehbare Zeiten „die Preise vollständig verdorben“. Und deshalb sei hier noch einmal angemerkt, dass auch die Zeiten der Frauen in Berlin von absoluter Weltklasse waren.

Projektion der Marathonzeit auf der Basis der Weltrekorde auf den Unterdistanzen bei Frauen/Männern unter Vertauschung der geschlechtsspezifischen Leistungsfaktoren

Distanz (WR)

Frauen

Männer

Projektion Frauen (Faktor Männer)

Projektion Männer (Faktor Frauen)

5 km

14:46

13:00

2:19:40  (9,4577)

1:59:13  (9,1704)

10 km

30:21

26:44

2:19:35  (4,5991)

1:59:17  (4,4618)

15 km

46:28

41:13

2:18:37  (2,9830)

2:00:07  (2,9143)

Halbmarathon

1:05:12

58:23

2:17:18  (2,1059)

2:01:16  (2,0769)

25 km

1:19:53

1:11:18

2:17:45  (1,7244)

2:00:52  (1,6952)

Marathon

2:15:25

2:02:57

 

 

Gutes Leistungsniveau, weniger Finisher

Ansonsten hielt sich im breiteren Leistungsniveau der Berlin-Marathon Ausgabe 2014 durchaus im Rahmen, 7 Läufer unter 2:10 Stunden, 32 unter 2:20, 61 unter 2:30, 181 unter 2:40, 460 unter 2:50 oder 1221 unter 3:00 sind Werte, wie sie auch in den Vorjahren zu verzeichnen waren.

Sehr überraschend erscheint aber die Gesamtzahl der Finisher von 28999 (!) (Quelle: Herbert Steffny). Das waren 7545 Läufer/innen weniger als im Vorjahr,  und es dürfte schon lohnend sein, einmal zu ergründen, wo der Rest der gut 40.000 angemeldeten Sportler verblieben war. Sorgt auch hier das frühe Anmeldeverfahren und die Lotterie der Startplätze zu unerwarteten Ausfällen? Aber unabhängig davon, voll war es auf der Strecke immer noch.

Gleiches konnte man vom Streckenrand nur bedingt behaupten. Insbesondere in den Außenbezirken und weniger ausgezeichneten Punkten verirrten sich nur wenige Zuschauer. Die immer wieder nachgeäfften Zahlen im Bereich von einer Million Zuschauer gehören in die Welt der Märchen und Sagen.

Falls an der Strecke insgesamt wenige 100.000 Zuschauer standen, dann war das nicht übertrieben. Aber für ausreichende Stimmung reichen auch solche Zahlen.

Man kann es drehen und wenden, wie man will. In der Marathon-Welt ist und bleibt Berlin eine erste Adresse, gerade auch nach dem 28. September 2014. Man könnte das auch in historischer Anlehnung so ausdrücken: „(Marathon-) Läufer in aller Welt, schaut auf diese Stadt“.

Berlin ist in der Tat  WELTKLASSE!

Helmut Winter

author: GRR

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