Fordert schnelle Aufklärung: Helmut Digel, Mitglied des IAAF-Councils. ©Universität Tübingen
Doping-Enthüllungen: „Das gibt es nicht nur in Russland“ . Michael Reinsch im Interview mit Helmut Digel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Ein ARD-Film hat das systematische Doping russischer Sportler aufgedeckt. Im F.A.Z.-Interview spricht Sportsoziologe Helmut Digel über die Enthüllungen in der Leichtathletik – und erschreckende Parallelen in anderen Nationen.
Der Sportsoziologe Helmut Digel ist Mitglied des IAAF-Council, des Weltrats des Internationalen Leichtathletik-Verbandes. Der ARD-Film über das systematische Doping russischer Sportler ist ein „Mahnmal“, sagt der frühere Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes.
Sie sind seit bald zwanzig Jahren Mitglied im Council des Welt-Leichtathletikverbandes IAAF. Hat Sie der Bericht im deutschen Fernsehen über das Doping-System in Russland überrascht?
Der Film hat mich überrascht. Die Einblicke in die Grauzone des Doping-Betruges, insbesondere durch die heimlichen Videoaufnahmen, ist in gewisser Weise einmalig. Dadurch hat der Film eine aufklärerische Qualität erhalten. Er ist ein Mahnmal für den gesamten Hochleistungssport.
Wie ist nun die Lage in der IAAF, da sie sich des Vorwurfs der Komplizenschaft und der Korruption ausgesetzt sieht?
Die IAAF muss an einer Aufklärung aller Vorwürfe interessiert sein. Nun erweist es sich als wichtig und als Glücksfall, dass wir im vergangenen Jahr beschlossen haben, eine unabhängige Ethik-Kommission zu berufen. Sie besteht aus Juristen, und der Verband kann keinen Einfluss auf ihre Ermittlungen nehmen. Man kann nur hoffen, dass die Ermittlungen konstruktiv unterstützt werden. Wenn die Betroffenen sich der Befragung entziehen, indem sie aus dem Verband austreten, sind ordentliche Gerichte gefragt. Aber natürlich ist auch die Welt-Anti-Doping-Agentur gefordert, die in ihrem neuen Kodex solche Recherchen als sinnvoll erachtet. Darüber hinaus sind vor allem russische Gerichte gefordert.
Die Ethik-Kommissionen von IAAF und Internationalem Olympischen Komitee sollen mit dem Fall befasst sein. Welche Sanktionen erwarten Sie?
Was die IAAF betrifft, kann das Council weitreichende Entscheidungen treffen. Das kann, wenn die Ethik-Kommission das empfiehlt, bis zur Suspendierung von Mitgliedern des Präsidiums und zum Ausschluss von Verbänden gehen.
Wer sitzt in der Ethik-Kommission Ihres Verbandes?
Das sind sieben unabhängige Juristen. Am bekanntesten dürften Kevan Gospar aus Australien sein, er war Vizepräsident des Internationalen Olympischen Komitees. Und Carlos Nuzman; er hat die Olympischen Spiele 2016 nach Rio geholt und organisiert sie. Den Vorsitz hat Michael Beloff aus Großbritannien, ein anerkannter Anwalt und Richter am Cas.
Nach dem Bericht der ARD hat die Marathonläuferin Lilija Schobukowa sehr viel Geld an Führungsfiguren des russischen Verbandes dafür gezahlt, dass eine Doping-Sperre verhindert wird. Muss das nicht auch für die IAAF Konsequenzen haben?
Die Ethik-Kommission hat nicht nur die Aussagen der Zeugen zu überprüfen, sondern auch deren Glaubwürdigkeit. Das Problematische ist ja wohl, dass alle zunächst aktiv betrogen haben und es eine Reihe von Verwandlungen von Saulus zu Paulus gegeben hat…
Sie meinen die gesperrten Doper, die nun ihren Verband anklagen?
Es ist auffällig, dass dies alles nicht gegen den Willen der Athleten geschehen ist, sondern dass diese den Betrug ihrer Gegner wollten. Moralisch ist das nicht hinnehmbar. Aber am Ende müssen unabhängige Juristen bewerten, in wiefern die Aussagen mit den Fakten übereinstimmen, die man durch weitere Ermittlungen offenlegen kann und muss.
Ein Anti-Doping-Gesetz gibt es offenbar in Russland. Erwarten Sie Aufklärung von der russischen Justiz?
Russland wird sich einen internationalen Reputationsverlust nicht leisten, indem es nicht tätig wird. Vom Sportminister bis zur Regierung unter Putin sind jetzt alle gefordert. So wie sie sich den Sport mit seinen positiven Merkmalen zunutze machen in ihrer Politik, so müssen sie nun Verantwortung übernehmen, wenn es gravierende Probleme gibt im Sport. Russland muss sich mit diesen Vorwürfen auseinandersetzen. Das gilt auch für dessen olympisches Komitee und die russischen IOC-Mitglieder.
Das System der flächendeckenden Systematik kommt Deutschen bekannt vor. Auch die Gier einzelner Trainer und Funktionäre ist nicht wirklich überraschend. Ist dies ein russisches Problem oder ist es größer?
Mediziner und Pharmakologen betätigen sich als Kriminelle und organisieren, begleiten und unterstützen diesen Betrug im internationalen Spitzensport. Die Athleten sind Mitwisser und letztlich Täter. Diese Konstellation gibt es nicht nur in Russland. Sie gibt es in nahezu allen Hochleistungssportnationen der Welt. Das zeigen alles positiven Befunde und alle Statistiken und alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen über die Reichweite des Dopings.
Auch in Deutschland?
Ja, schließlich haben wir den Skandal an der Freiburger Universität vorzuweisen. Die Beteiligung verantwortungsloser Ärzte am Doping-Betrug in Deutschland ist hinlänglich dokumentiert.
Sprechen Sie von der Geschichte oder der Gegenwart?
Die Situation hat sich verbessert. Doping-Missbrauch im deutschen Hochleistungssport von heute kann jedoch nicht ausgeschlossen werden.
Wie ist die Stimmung unter Ihren Kollegen im Council, wie reagiert Sebastian Coe, der im Sommer die Nachfolge des IAAF-Präsidenten Lamine Diack antreten will?
Sebastian Coe hat sich als engagierter Kämpfer gegen Doping erwiesen und diesen Kampf auch zum zentralen Thema der Agenda gemacht, die er verfolgen will, wenn er gewählt wird. Er ist sich der Herausforderung bewusst. Innerhalb der IAAF ist es ein Problem, dass wir unsere nächste Council-Sitzung erst im April in Peking haben werden. Die Kommunikation untereinander ist nicht so, wie sie angesichts dieser Vorwürfe sein müsste. Ich halte Kontakt mit meinen Kollegen und hoffe vor allem, dass sich die Vorsitzende unserer Anti-Doping-Kommission, Abbie Hoffman, der Sache in aller Entschiedenheit annehmen wird. Ich glaube, dass es zu einer offenen Aufklärung kommen wird.
Die Fragen stellte Michael Reinsch – Frankfurter Allgemeine Zeitung – Freitag, dem 5 Dezember 2014
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