Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - Doping-Kronzeugin Stepanowa: „Doper lassen sich besser vermarkten“ ©privat
Doping-Kronzeugin Stepanowa: „Doper lassen sich besser vermarkten“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Namen zu nennen und Doper im Bild zu zeigen scheint gefährlich. Die 28 Jahre alte 800-Meter-Läuferin hat mit ihrem Mann Witali und dem gemeinsamen Sohn die Heimat Russland verlassen.
Denn in der ARD-Dokumentation „Geheimsache Doping: Wie Russland seine Sieger macht“ wurden neben ihrer Schilderung des Doping-Systems Ton- und Filmaufnahmen gesendet, die den Nationaltrainer, den Mannschaftsarzt und die Olympiasiegerin Savinowa des Dopings überführen. Unter ihrem Mädchennamen Julia Rusanowa hatte sie Rang zwei bei der Hallen-EM 2011 in Paris belegt; ihre Bestzeit von 1:56,99 Minuten lief sie im Sommer desselben Jahres bei der russischen Meisterschaft.
Als sie 2013 wegen Dopings gesperrt wurde, annullierte der Internationale Leichtathletik-Verband IAAF alle ihre Ergebnisse seit 2011.
Sie sind Mittelstreckenläuferin und bis Ende Januar wegen Dopings gesperrt. Wie kam es dazu?
Ich bin für abnorme Blutwerte gesperrt worden. Ich hatte Epo (Das Blutdopingmittel Erythropoetin/d. Red.) genommen. Das habe ich vor fast zwei Jahren in einem Brief an die Wada (Welt-Anti-Doping-Agentur) zugegeben. Darin erzähle ich, wie der russische Nationaltrainer mich mit Epo versorgt hat, wie Dr. Portugalow, der Chef der medizinischen Kommission des russischen Verbandes, mich zum Doping angeleitet hat.
Warum packen Sie in der ARD-Dokumentation und hier aus?
Mein Mann Witali und ich wollen die Wahrheit ans Licht bringen. Niemand hat je gesagt, ich müsste das nehmen. Aber ich wollte Leichtathletin werden, und jeder sagte, wenn ich Spitzenathlet sein wollte, müsste ich mitmachen. So würde es überall in der Welt gemacht. In Russland sagt man: Gesetze sind dazu da, gebrochen zu werden. Danach leben viele. Es gibt Regeln, und es gibt das richtige Leben.
Im Film sieht man, wie Sie verschiedene Doping-Substanzen von Ihrem Trainer erhielten. Haben Sie irgendetwas anderes genommen, bevor Sie mit Epo dopten?
In Russland wird das Cocktail genannt. Er enthält verschiedene Substanzen: Epo für die Ausdauer, Steroide für die Kraft und weitere Mittel.
Und alle machen mit?
Offizielle und Trainer sagen, dass die Steroide in den achtziger Jahren viel stärker waren. Den Sportlerinnen von damals gehe es allen gut, es gebe keine Nebenwirkungen, viele hätten Kinder. Mein Trainer in Kursk, meiner Heimatstadt, war Wladimir Mochnew. Er war in der Sowjetzeit Hindernisläufer und nahm selbst Steroide. Schau mich an, sagt er. Ich bin fit und gesund.
Das klingt nicht vertrauenerweckend.
Er hat keine medizinische Ausbildung. Steroide und Epo wandte er nach Hörensagen an; er wusste nicht wirklich, wie es geht. Bei starken Dosierungen von Steroiden bekam ich so harte Muskeln, dass ich annahm, dass wie wuchsen. Aber ich konnte nicht rennen. Manchmal konnte ich zehn Tage nicht trainieren, bis die Muskeln zurückkamen. Dasselbe mit Epo: Er sagte, welche Dosierung ich nehmen sollte, aber ich wusste nicht, wie. Erst hat er die Substanzen injiziert, dann ich selbst.
Wurde das im Nationalteam anders?
Ich wurde von Sergej Portugalow betreut, dem Kopf der medizinischen Kommission. Er hat große Erfahrung in verschiedenen Sportarten. Deshalb habe ich ihn Professor genannt. Wenn man weiß, wie es geht, muss man nicht so hart trainieren. Auf nationaler Ebene habe ich mich viel mehr verbessert als bei meinem ersten Trainer.
Hatten Sie je Angst um sich und um die Kinder, die Sie sich wünschten?
Man hört immer: Mach dir keine Sorgen, alles ist in Ordnung. Dann macht man sich auch keine Sorgen. Ich dachte, es sei normal, sieben bis zehn Tage harte Muskeln zu haben nach der Einnahme von Steroiden. Ich dachte, das machen alle durch, damit sie sich als Athleten entwickeln. 2006 wurde ich sehr krank, und die Trainer sagten mir damals voraus, dass ich nie wieder würde schnell rennen können. Aber mein Arzt versprach mir, dass ich gesund würde und schneller rennen würde als zuvor. Sie wissen, dass Steroide auch als Medikamente eingesetzt werden. Damals nahm ich sie zum ersten Mal; der Arzt fand, dass sie helfen würden. Ich begann zu trainieren und baute Kraft auf.
Wie alt waren Sie?
Ich habe spät mit dem Sport begonnen, mit siebzehn. Damals war ich fast zweiundzwanzig.
Wie haben Sie von Doping erfahren?
Als ich bei Junioren-Meisterschaften fünfzehn Sekunden langsamer war als die Besten über 800 Meter, haben mir Leute erzählt, dass die Läuferinnen verbotene Substanzen nehmen. Es ist, als ob das System deutlich macht, dass du zu deinem Trainer gehen und nach den Mitteln fragen musst: Hey, ich will bei den Besten sein und nicht hundert Meter hinterherrennen! Es wird einem immer gesagt, dass die eigenen Fähigkeiten nur bis zu einem bestimmten Punkt reichen. Für den Rest brauchst du Hilfe. Das ist Doping.
Haben Sie Wachstumshormon genommen?
Als ich noch regional trainierte, wusste mein Trainer nicht, wie man es einsetzt. Außerdem kosten die Substanzen viel Geld. 2008 haben wir eine Woche lang Wachstumshormon ausprobiert. Aber weil der Trainer nicht wusste, wie man’s macht, haben wir keine Wirkung gesehen. Seitdem habe ich keines mehr genommen. In der Nationalmannschaft wurde das positiv gesehen. Trainer und Offizielle betrachteten das als Potential für meine Entwicklung.
Es ist verbreitet?
In Russland sagt man, Wachstumshormon sei praktisch nicht nachweisbar. Man könne es nur einen Tag lang feststellen. Ich habe ein Gespräch aufgenommen, in dem Athleten sagen, um Wirkung zu erzielen, musst du Wachstumshormon drei bis vier Monate lang anwenden.
Wann hat sich Ihre Haltung verändert?
Wenn man hört, dieses System existiere auf der ganzen Welt, glaubt man, dass man mitmachen muss. Als ich Portugalow darauf ansprach, sagte er, wenn du tust, was ich sage, wirst du nie erwischt werden. Ich fragte, warum Leute in Russland und anderen Ländern gesperrt werden, und er antwortete, dass diese Leute wohl unprofessionell handelten; auf eigene Faust und nicht innerhalb des Systems ihres Landes.
Er hat Sie trotzdem nicht geschützt?
Anfang 2013 rief Melnikow an, der Nationaltrainer. Wir haben hier ein Papier, sagte er, da steht, dass du gesperrt bist wegen der Werte in deinem Blutpass. Ich sage: Das ist unmöglich. Ich habe genau das getan, was ihr gesagt habt. Und ihr, die ihr mich in die Situation gebracht habt, arbeitet weiter? Ist passiert, sagte er, tut uns leid, unterschreib halt und entspann für zwei Jahre!
Wie hat Portugalow reagiert?
Der Internationale Leichtathletik-Verband hatte vorher schon Unterlagen an den russischen Verband geschickt mit verdächtigen Werten russischer Athleten. 2012 war ich dabei. Portugalow schickte eine SMS: Tut mir leid, ich habe meinen Job gewechselt, ich mache das nicht mehr. Von da an war er für mich nicht mehr erreichbar. Ich habe nur noch mit Melnikow kommuniziert.
Was war mit Ihren Werten?
Wirklich abnorm waren sie Anfang 2011. 2012 gab es die ersten Gerüchte, dass ich gesperrt werden könnte. Aber gesperrt wurde ich erst Anfang 2013. Zwei Jahre lang konnte ich weiter trainieren und weiter Wettkämpfe bestreiten, obwohl sie mit 99,9 Prozent Sicherheit wussten, dass ich gedopt war. Ich bin nicht die Einzige, der es so ergangen ist. Das ganze Kontrollsystem der IAAF macht für mich keinen Sinn.
Was vermuten Sie: Warum reagiert der Weltverband nicht?
Gedopte Athleten laufen schneller. Vielleicht sind schnellere Zeiten besser zu vermarkten.
Sie haben 2009 geheiratet – ausgerechnet einen Mann von der nationalen Anti-Doping-Agentur Rusada. Wie konnte das gutgehen?
Ich hatte gelernt, dass es ohne Doping nicht gehe. Meine Zeiten wurden auch immer besser. Witali arbeitete für die Rusada, er war gegen Doping. Der Wendepunkt, der uns wirklich vereinte, war die Sperre Anfang 2013. Der eine verschwand, der andere sagte, er wisse nicht wirklich, wie der Blutpass funktioniert. Das verletzte mich. Unterschreib halt, sagte Melnikow. Seine Haltung war: Wenn du in zwei Jahren zurückkommst, wird es den Steroid-Pass geben, und wir werden nicht wissen, wie man ihn führt. Es werden wieder eine Menge Athleten gesperrt werden, aber was können wir dafür?
Ihre Konsequenz?
Wir beschlossen, mit der Wada zu reden. Es hatte keinen Sinn, mit Rusada zu sprechen, sie arbeiten alle zusammen. Wir haben E-Mails geschrieben, dann gab es Treffen mit Mitarbeitern.
Hat die Wada Sie ermutigt, weiterzumachen in der Nationalmannschaft, um Beweise zu sichern?
Sie wollten natürlich wissen, wie es funktioniert. Wir haben ihnen die Wahrheit gesagt. Aber das waren nur Worte und keine Beweise. Das Erste, was die Leute von der Wada sagten, war: Sorgt dafür, dass ihr in Sicherheit seid. Doping ist Doping, aber schadet euch nicht selbst. Ich wusste, dass ich beweisen muss, was ich sage.
Sie haben Aufnahmen gemacht von Melnikow und von Portugalow, wie sie Sie beraten und Ihnen Dopingmittel geben. Sie haben die 800-Meter-Olympiasiegerin Marija Sawinowa gefilmt, als sie über ihre Erfahrung mit dem Dopingmittel Oxandrolon spricht.
Das seien alles Lügen, sagt der Präsident des russischen Verbandes, Walentin Balachnitschew. Der Verband will uns verklagen. Aber wir haben Beweise. Viel mehr, als das deutsche Fernsehen zeigen konnte. Man kann ja nicht sechzig Minuten ununterbrochen Beweise zeigen.
Haben Sie Ihr Ziel erreicht?
Das Wichtigste war, mit der Dokumentation Aufmerksamkeit zu erregen. Wir hoffen, dass sich nun jemand von der IAAF oder der Wada bei uns meldet, um das gesamte Material anzusehen. Bisher ist das noch nicht geschehen.
Beide Organisationen sagen, sie ermittelten.
Wir scherzen manchmal drüber. Was ermitteln sie bloß? Uns hat noch niemand gebeten, ihnen Aufnahmen zur Verfügung zu stellen. Was wir selbstverständlich tun würden.
Wann haben Sie aufgehört mit Doping?
2013. Ich war schwanger, unser Sohn wurde im November 2013 geboren. Im Mai 2014 begann ich wieder mit dem Training.
Woher haben Sie die Kaltblütigkeit genommen, Trainer, Arzt und Athleten praktisch beim Doping zu filmen?
Ich war nicht kaltblütig. Jedes Mal, wenn ich mit meinem Telefon etwas aufgenommen habe, war ich nervös. Besonders wenn die Leute auf das Telefon geguckt haben, hatte ich jedes Mal Sorge, dass sie Verdacht schöpfen. Das hätte uns große Probleme bereitet in Russland. Ich bin keine Betrügerin. Ich habe Fehler gemacht, aber für eine gute Zukunft muss ich Opfer bringen. Dies war eines. Ich habe gelernt, James Bond zu sein.
Sind Sie in Gefahr?
Wir sind raus aus Russland. Heute fühlen wir uns sicher. Was in Zukunft ist, weiß ich nicht. Niemand weiß, wie weit diese Geschichte geht. Wenn weitere Athleten sich gegen das Betrugssystem wenden, könnte die Situation dort außer Kontrolle geraten.
Hatten Sie Unterstützung, während Sie in Russland waren?
Die größte Unterstützung war, dass die Wada uns geglaubt hat und dass Hajo Seppelt vom deutschen Fernsehen uns geglaubt hat. Wir wussten, wofür wir das alles tun.
Wenn das Doping-System eine Hierarchie ist: Wie weit hinauf reicht es?
Es liegt auf der Hand, dass es das Ziel eines Landes ist, bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen so viele Medaillen wie möglich zu gewinnen. Das Ziel unseres Staates ist es zu beweisen, dass Russland größer und besser ist als jedes andere Land auf der Welt. Auf jedem Gebiet. Der Präsident, das Ministerium, die Anti-Doping-Agentur: alle wissen, dass das oberste Ziel ist, Medaillen zu gewinnen. Wenn Sie die Ergebnisse von den Olympischen Spielen in London sehen und von der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Moskau …
… Nummer zwei in der Leichtathletik mit acht Olympiasiegen und Nummer eins in Moskau mit sieben Goldmedaillen …
… dann wissen Sie, dass das System funktioniert. Wenn es erfolgreich ist, warum sollten sie es ändern?
Wenn der Präsident der IAAF Sie um Rat bitten würde: Wie sollte er mit der russischen Leichtathletik umgehen?
Offizielle, die Doping unterstützen, statt es zu bekämpfen, sollten rausfliegen. Da die meisten Trainer aus der Sowjetunion stammen, dürfte es unmöglich sein, ihre Ansichten zu ändern. Wenn man wirklich das Ziel hat, Doping zu bekämpfen, muss man Funktionäre wie Trainer nicht für zwei oder vier Jahre sperren, sondern lebenslang. Das Ministerium müsste junge Trainer aus dem Ausland verpflichten und ihnen Zeit geben, ein System aufzubauen, das ohne Doping funktioniert. Der gesamte Verband sollte für zwei Jahre von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen werden.
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass die Wada jetzt, da Sie Ihre Mission erfüllt und Beweise beigebracht haben, nichts unternimmt?
Die Wada ist ein zahnloser Tiger!
Das Gespräch führte Michael Reinsch – Frankfurter Allgemeine Zeitung, Mittwoch, dem 17. Dezember 2014
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