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06
01
2015

Die Kampfrichter des Berliner Leichathletik-Verbandes ©Horst Milde

Zehn Kilometer hinter Mauern – Marlenes erster Lauf im Freien – Dr. Susanne Mahlstedt

By GRR 0

„Sag mir, wo die Blumen sind. Wo sind sie geblieben?" Ein melancholisches Lied. Weltbekannt durch die Ur-Berlinerin Marlene Dietrich. Die Marlene, von der FRAUEN LAUFEN heute erzählt, lebt in der Alfredstraße 11, in der Justizvollzugsanstalt für Frauen Berlin (JVA), Berlin-Lichtenberg.

Noch. Bald kommt sie raus.

Marlene war die einzige Starterin unter den Inhaftierten beim „Ersten 10-km-Lauf für Berliner Gefangene". So formal hatte im letzten Moment die Verwaltung die Veranstaltung umgetauft.

Gestartet war das Vorhaben unter dem Titel „Erster Berliner 10-km-Knästelauf". Dieses ganz besondere Laufevent ist in Berlin Premiere und zugleich der Höhepunkt eines Experiments. Sport, besonders Laufsport wird eingesetzt als therapeutisches und pädagogisches Instrument für Betreuung und Resozialisierungsvorbereitung für Gefangene, vorrangig männliche Gefangene.

Marlene ist großgewachsen, mit robustem Körperbau. Sie ist um die 30 Jahre alt. Eine dunkelhaarige Frau. Beim Laufen hat sie das Haar zum Zopf gebunden. Ja, Marlene ist Läuferin. Eine inhaftierte Läuferin. Laufen hat sie erst in der Haft für sich entdeckt. Sie musste sich für Plötzensee qualifizieren. In ihrer JVA in Lichtenberg wollten erst drei Frauen am Lauf teilnehmen. Aber es durfte nur eine Frau mitmachen, sagt Marlene.

Marlene hat es geschafft. Sie bekam für den 10. Oktober eine „Ausführung". Durfte an diesem Freitag U-Bahn fahren. Natürlich nur in Begleitung eines Vollzugsbeamten quer durch Berlin reisen. Die große, kräftige Frau neben ihrem Begleiter. Auffällig: Der Mann ist fast zwei Köpfe kleiner als sie.

Türmen? Das kommt für Marlene nicht in Frage. Sehr bestimmt sagt sie: „In sechs Wochen und vier Tagen bin ich eh draußen. Da würde jetzt Abhauen keinen Sinn mehr machen. Das wäre nur dumm!" Und draußen will sie dann auch mal an der frischen Luft laufen. Darauf freut sie sich schon. – Ein guter Vorsatz.

Beim ersten Berliner Knästelauf ist sie Siegerin geworden. Mit 1:05:30. Nein, keine großartige Zeit. Aber darum geht es hier nicht. Sie war sowieso die einzige Gefangene am Start. Aber Marlene hat es trotzdem geschafft. Sie ist ins Ziel gekommen: Sie ist Siegerin über sich selbst – und über die Verhältnisse.

Trotzdem? In Lichtenberg kann Marlene überhaupt nicht draußen an der Luft laufen. Das lässt das Gelände ihrer JVA nicht zu. Marlene trainierte bisher ausschließlich auf dem Laufband. Und das auch erst seit zwei Monaten. In Plötzensee ist das anders. Das Tor zum Sportplatz der Jugendstrafanstalt war für den Plötzenseer Zehner geöffnet, so dass ein passabler Kurs entstand. Es gibt sogar eine großzügige Grünfläche.

Trotzdem? Sie ist nach wie vor starke Raucherin. Und sie bezeichnet sich selber wie selbstverständlich als „BTM", sie hat also ein Problem mit „Betäubungsmitteln", mit Drogen. Aber Sport macht sie. Das ist ihr wichtig. Sie spielt in Lichtenberg auch Volleyball. Sport im Frauenknast? Das ist keine Erfolgsgeschichte. Marlene ist eine Ausnahmeathletin der buchstäblichen Art: Von den rund 80 in der JVA Lichtenberg einsitzenden Frauen betätigen sich nur noch vier andere sportlich.

So war der Lauf in Plötzensee für Marlene Premiere einer ganz eigenen Art: Schon dass sie draußen laufen durfte, war neu für sie. Und, klar, sie ging die zehn Kilometer viel zu schnell an. Die erste Runde fiel ihr leicht. Die Euphorie des Anfangs. Das kennen alle Laufsportler. Bei Marlene machte sich dann rasch ihre noch nicht ausreichende Kondition bemerkbar. Aber sie hat durchgehalten. Unterstützt hat sie dabei eine Helferin von draußen. Der erfahrenen Läuferin Angelika Schwarz war gleich aufgefallen, dass Marlene Routine fehlte. Deshalb lief sie kurz entschlossen neben Marlene, begleitete sie, gab Tipps, machte Mut.

Marlene hat es geschafft! Gerechnet hatte sie mit 1:15. Aber nun war sie schon nach 01:05 im Ziel. Flügel waren ihr gewachsen. Anteil daran hatten auch die Knastmusiker. Die Band begleitete die Veranstaltung vor allem mit 80er-Jahre-Musik. Die Stimmung bei perfektem Laufwetter war prächtig. Und alle konnten dann sehen, wie sehr sich Marlene freute, als sie ins Ziel kam.

Für Marlene war das Finishen etwas ganz besonderes. Etwas, was wir draußen sicherlich nicht ermessen können. Wer als einer der zwölf externer Starterinnen und Starter in Plötzensee dabei sein konnte, der merkte, wie ausgelassen die Laune der insgesamt 25 Gefangenen war.

Für alle war diese Veranstaltung eine große Freude. Das gilt auch für die in der Mehrzahl männlichen Starter, die zum Teil beachtliche Zeiten vorlegten. Und im Ziel war bei den meisten die Freude kaum mehr zu bändigen.

Bei ihrer Siegerehrung spürten alle Marlenes Schüchternheit. Sie wollte kaum nach vorne gehen und sich ehren lassen. Sie bekam einen riesigen Pokal und einen üppigen bunten Blumenstrauß (da waren sie dann, Marlenes Blumen!). Und es gab eine orangefarbene Jacke vom Berlin-Marathon.

Aber dann traute sie sich doch: Die Farbe ihres Siegerinnengeschenks gefalle ihr nicht so richtig. Draußen trage sie ihre Haare immer türkis gefärbt, murmelte Marlene. Da passe doch eine türkisfarbene Jacke viel besser…

Horst Milde sorgte für den Umtausch von Marlene Laufjacke. Der organisatorische Vater des großen Berlin-Marathons und jetzt eben auch des „Ersten Berliner 10-km-Knästelaufs" zeigt sich auch bei so kleinen und in diesem Fall gefühlt doch so großem Anliegen hilfsbereit.

Organisatorisch war der Lauf in vieler Hinsicht Frauensache. Die Plötzenseer Anstaltsleiterin Evelyn Benne hatte den Mut, das für Berlin neuartige Projekt durchzuziehen. Benne begrüßte zum Auftakt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die anwesenden JVA-Bediensteten, ohne die es natürlich nicht gegangen wäre, und die vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter rund um Horst Milde und seine Frau Sabine. Beide waren fleißig wie immer bei Laufevents, kümmerten sich um alles, reichten den Sportlerinnen und Sportlern am Verpflegungspunkt die Wasserbecher.

Engagiert bei der Plötzenseer (Lauf-) Sache ist auch die Berliner Lauftherapeutin Joanna Zybon (www.berliner-laufmasche.de). Auch ihrem Einsatz ist diese Laufveranstaltung überhaupt erst zu verdanken. Joanna ist seit 2012 Lauftrainerin in der JVA Plötzensee, zuletzt an zwei Terminen in der Woche. Joanna war es dann auch, die am Ziel handschriftlich die Urkunden für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausstellte.

Reinhard Röcher, Teilanstaltsleiter und Jubilee-Clubmitglied des Berlin-Marathon, fungierte als organisatorischer Leiter. Er fuhr dem ersten Läufer mit dem Fahrrad voraus. Start-Ziel-Sieger bei den Männern war Konrad in beachtlichen 41:06 min vor Benjamin (41:49) und Saidou (41:55). Benjamin und Saidou liefen vom Start weg bis rund 300 Meter vorm Ziel einträchtig nebeneinander. Beide werden von Joanna in Plötzensee trainiert.

Der bevorstehende Wettkampf gab ihnen zum Ende der Vorbereitung nochmal zusätzliche Motivation. Sie ließen dann sogar längere Kräftigungsübungen über sich ergehen, die für sie im Training bislang eher lästiges Beiwerk waren. Mancher dachte sich im Stillen, er hätte die beiden gerne Hand in Hand ins Ziel laufen sehen. Aber das ist vielleicht bei schweren Jungs nicht so üblich.

In einer Strafanstalt ist manches anders. Einen Startschuss gab es keinen, sondern Detlev Weller, Wettkampfwart des Berliner Leichtathletik-Verbands, gab das Startzeichen mit einem durchdringenden Pfiff aus seiner Trillerpfeife. Warum? Startpistole verboten. Ebenso wie Handys und Kameras. Aber Horst Milde hat Fotos gemacht.

37 Läuferinnen und Läufer gingen auf die exakt vermessene 1001-m-lange Strecke, davon 24 männliche und eine weibliche Gefangene – Marlene. Eine Wertung gab es nur für die inhaftierte Starterin und die inhaftierten Starter. Schade, dass nicht mehr Frauen dabei waren.

Wünschenswert wäre auch ein wenig Offenheit für die Berichterstattung. Radio- und Fernsehsender (RTL/n-tv, rbb) und Zeitungen wollten berichten. Fehlanzeige! Bei allem Verständnis für Sicherheitsbelange: Ein so zukunftsweisendes Geschehen aus dem Strafvollzug der Hauptstadt sollte doch nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.

Umso mehr freut sich LAUFZEIT&CONDITION darüber, dass wir unsere Leserinnen und Leser auch über diesen Lauf engagiert informieren können – denn unsere Autorin ist mitgelaufen.

Unter den 12 externen Läuferinnen und Läufern war auch der Lauftherapeut und JVA-Beamte Peter Büttner. Er ist der Organisator des inzwischen voll anerkannten Darmstädter Knastmarathons. Büttners beliebte Laufveranstaltung findet am 31. Mai 2015 bereits in der 9. Auflage statt. Der Darmstädter Lauf erfreut sich großer Beteiligung von Gefangenen, aber auch von externen Teilnehmern: 2014 waren 39 Inhaftierte und 160 Läuferinnen und Läufer „von draußen" dabei.

Warum soll Berlins Strafvollzug nicht einmal etwas von den Hessen lernen?

Wie Angelika und Marlene fanden sich mehrere „Laufgemeinschaften" von Externen und Inhaftierten zusammen. Für beide Seiten eine Bereicherung. Besonders für die Insassen ein Zeichen sportlicher und menschlicher Anerkennung. Man kann nur zu dem Schluss kommen: Experiment gelungen.

Wir wünschen uns für Marlene, dass sie auch „draußen" weiter läuft und dass sie in ihrem Leben nach der Haft findet, was sie sucht: „Sag mir, wo die Blumen sind. Mädchen pflückten sie geschwind."

Laufende Frauen erst recht – jetzt sogar im Knast!

Dr. Susanne Mahlstedt in LAUFZEIT&CONDITION

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